Die Überseeischen Länder und Hoheitsgebiete oder Überseeischen Länder und Gebiete (kurz ÜLG; englisch Overseas countries and territories, kurz OCT; französisch Pays et territoires d’outre-mer, kurz PTOM)[1] sind Hoheitsgebiete der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, die gemäß dem 4. Teil des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) (Art. 198 bis 204 AEUV) mit der Europäischen Union assoziiert sind.[2][3]
Sie gehören, obwohl sie zum Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats der Europäischen Union gehören, nicht zum Gebiet der Europäischen Union, obwohl einzelne Aspekte des Europarechts auch dort anzuwenden sind. Insbesondere fallen gemäß Art. 200 AEUV bei der Einfuhr von Waren aus diesen Gebieten in die Mitgliedstaaten der Europäischen Union keine Zölle an, während bei der Einfuhr von Waren aus den Mitgliedstaaten der Europäischen Union und den anderen Überseeischen Ländern und Hoheitsgebieten in diese Gebiete Zölle in Sonderfällen erlaubt sind.
Die Überseeischen Länder und Hoheitsgebiete sind in Anhang II des AEUV explizit aufgelistet.[4] Derzeit gibt es dreizehn Überseeische Länder und Hoheitsgebiete, die zu den drei Mitgliedstaaten Dänemark, Frankreich und den Niederlanden gehören:
- ein Autonomes Land im Königreich Dänemark: Grönland
- vier Collectivités d’outre-mer (COM) der Französischen Republik:
- eine französische Collectivité sui generis mit verfassungsrechtlich garantiertem Sonderstatus: Neukaledonien
- ein französisches Überseegebiet mit Sonderstatus: die Französischen Süd- und Antarktisgebiete (Terres australes et antarctiques françaises, TAAF)
- drei Länder des Königreichs der Niederlande:
- drei besondere Gemeinden der Niederlande:
Mit Ausnahme der Französischen Süd- und Antarktisgebiete handelt es sich um bewohnte Gebiete, die unterschiedliche Grade an Selbstverwaltungsrechten, Autonomie oder Selbstbestimmungsrecht genießen.
Gemäß Artikel 355 Absatz 6 des EAUV kann der Europäische Rat auf Initiative des betroffenen Mitgliedstaates einen Beschluss zur Änderung des europarechtlichen Status eines der dänischen, französischen und niederländischen Gebiete fassen, die zu den in Anhang II des AEUV aufgezählten Überseeischen Ländern und Hoheitsgebieten oder den in Artikel 349 und 355 Absatz 1 des AEUV aufgezählten Gebieten in äußerster Randlage innerhalb des Gebietes der Europäischen Union gehören, und damit den europarechtlichen Status des betreffenden Gebietes ohne förmliche Vertragsrevision ändern.[5] Von dieser Möglichkeit hat der Rat der EU zweimal in Bezug auf französische Gebiete Gebrauch gemacht. Saint-Barthélemy, das zuvor zu den Gebieten in äußerster Randlage innerhalb des Gebietes der Europäischen Union gehörte, wurde zum 1. Januar 2012 eines der Überseeischen Länder und Hoheitsgebiete.[6] Mayotte, das zuvor zu den Überseeischen Ländern und Hoheitsgebieten gehört hatte, wurde hingegen mit Wirkung zum 1. Januar 2014 zu einem Gebiet in äußerster Randlage innerhalb der Europäischen Union.[7]
Seit 2003 existiert ein Zusammenschluss der Überseeischen Länder und Hoheitsgebiete als gemeinnützige Vereinigung nach belgischen Recht unter der Bezeichnung Overseas Countries and Territories Association (OCTA), der heute alle dreizehn derzeitigen Gebiete mit diesem Status angehören. Ihr Zweck besteht darin, die nachhaltige Entwicklung der überseeischen Länder und Hoheitsgebiete zu fördern und ihre Zusammenarbeit untereinander und mit der Europäischen Union zu verbessern.[8]
Geschichte
BearbeitenDie Kategorie der Überseeischen Länder und Hoheitsgebiete wurde durch den Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG-Vertrag) von 1957 geschaffen.[9] Damals wurde vereinbart, die außereuropäischen Länder und Hoheitsgebiete, die mit Belgien, Frankreich, Italien und den Niederlanden besondere Beziehungen unterhielten, der neugegründeten Gemeinschaft zu assoziieren.[10] Im Anhang wurden diese Gebiete namentlich aufgelistet.[11] Die Liste enthielt alle überseeischen Hoheitsgebiete der vier genannten Staaten mit Ausnahme Algeriens und der vier damaligen französischen Überseedépartements, die mit Einschränkungen zum Gebiet des EWG-Vertrages gehören sollten[12], sowie Surinams und der Niederländischen Antillen, die gemäß der Charta des Königreichs der Niederlande von 1954 das Recht hatten, eigenständig über ihr Verhältnis zur EWG zu entscheiden, so dass ihr Status zunächst nicht im Gründungsvertrag festgelegt, sondern lediglich ein Verhandlungsauftrag für eine zukünftige Assoziierung erteilt wurde.[13]
Die ursprüngliche Liste der Überseeischen Länder und Hoheitsgebiete im Anhang IV des EWG-Vertrags umfasste folgende Gebiete:[11]
- Französisch-Westafrika: Senegal, Sudan, Guinea, Elfenbeinküste, Dahomey, Mauretanien, Niger und Obervolta,
- Französisch-Äquatorialafrika: Mittelkongo, Ubangi-Chari, Tschad und Gabon,
- Saint Pierre und Miquelon, Komoren-Archipel, Madagaskar und zugehörige Gebiete, Französisch-Somaliland, Neukaledonien und zugehörige Gebiete, die französischen Niederlassungen in Ozeanien, die australen und antarktischen Gebiete,
- die autonome Republik Togo,
- das unter französischer Verwaltung stehende Treuhandgebiet Kamerun,
- Belgisch-Kongo und Ruanda-Urundi,
- das unter italienischer Verwaltung stehende Treuhandgebiet Somaliland,
- Niederländisch-Neuguinea.
Einzelnachweise
Bearbeiten- ↑ Der deutsche Sprachgebrauch in den offiziellen Rechtstexten der EU ist im Gegensatz zum englischen uneinheitlich. Während in Artikel 198 ff. und Artikel 355 AEUV sowie im Anhang II zum AEUV von "Überseeischen Ländern und Hoheitsgebieten" die Rede ist (siehe Konsolidierte Fassungen des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (2016/C 202/01). Amtsblatt der Europäischen Union, 7.6.2016), heißt es im Beschluss (EU) 2021/1764 des Rates vom 5. Oktober 2021 über die Assoziierung der überseeischen Länder und Gebiete mit der Europäischen Union einschließlich der Beziehungen zwischen der Europäischen Union einerseits und Grönland und dem Königreich Dänemark andererseits (Übersee-Assoziationsbeschluss einschließlich Grönlands) (Amtsblatt der Europäischen Union, 7.10.2021) "Überseeische Länder und Gebiete".
- ↑ Katharina McLarren: From Colonialism to Climate Change. The EU and its Overseas Countries and Territories. In: Jakob Lempp, Angela Meyer, Jan Niklas Rolf (Hrsg.): Political Science Applied. Nr. 11, März 2021, S. 40–42 (englisch).
- ↑ Überseeische Länder und Gebiete (ÜLG) | Access2Markets. Abgerufen am 5. Juni 2024.
- ↑ Konsolidierte Fassungen des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (2016/C 202/01). Amtsblatt der Europäischen Union, 7.6.2016. Artikel 198–204 und Artikel 355 AEUV sowie Anhang II zum AEUV.
- ↑ Konsolidierte Fassungen des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (2016/C 202/01). Amtsblatt der Europäischen Union, 7.6.2016. Artikel 349 und Artikel 355 AEUV sowie Anhang II zum AEUV.
- ↑ 2010/718/EU: Beschluss des Europäischen Rates vom 29. Oktober 2010 zur Änderung des Status der Insel Saint-Barthélemy gegenüber der Europäischen Union
- ↑ 2012/419/EU: Beschluss des Europäischen Rates vom 11. Juli 2012 zur Änderung des Status von Mayotte gegenüber der Europäischen Union
- ↑ Overseas Countries and Territories Association – About OCTA
- ↑ Text des Vertrages zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft in der ersten Fassung vom 25. März 1957, Artikel 131 bis 136 und 227 sowie Anhang IV; I.11 Durchführungsabkommen über die Assoziierung der überseeischen Länder und Hoheitsgebiete mit der Gemeinschaft.
- ↑ Text des Vertrages zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft in der ersten Fassung vom 25. März 1957, Artikel 131.
- ↑ a b Text des Vertrages zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft in der ersten Fassung vom 25. März 1957, Anhang IV.
- ↑ Text des Vertrages zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft in der ersten Fassung vom 25. März 1957, Artikel 227.
- ↑ Text des Vertrages zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft in der ersten Fassung vom 25. März 1957, 6. Absichtserklärung im Hinblick auf die Assoziierung Surinams und der Niederländischen Antillen mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft; I.10 Protokoll über die Anwendung des Vertrags zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft auf die außereuropäischen Teile des Königreichs der Niederlande.