Artikel 1 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland

Grundgesetz-Artikel, welcher die Unantastbarkeit der Menschenwürde garantiert
(Weitergeleitet von Artikel 1 GG)

Der Artikel 1 des deutschen Grundgesetzes garantiert die Unantastbarkeit der Menschenwürde sowie die Bindung der staatlichen Gewalt an die nachfolgenden Grundrechte (Artikel 2 bis 19) der bundesdeutschen Verfassung. Ebenso wie Artikel 20 GG steht auch Artikel 1 unter dem Schutz der in Artikel 79 formulierten Ewigkeitsklausel und darf daher vom verfassungsändernden Gesetzgeber inhaltlich weder abgeschafft noch in den Grundaussagen verändert werden.

Artikel 1 des Grundgesetzes – eine Arbeit von Dani Karavan an den Glasscheiben zur Spreeseite beim Jakob-Kaiser-Haus des Bundestages in Berlin

Wortlaut

(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.

(2) Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.

(3) Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.

Erläuterungen zu den einzelnen Absätzen

Absatz 1

Die Würde des Menschen stellt den obersten Verfassungsgrundsatz dar,[1][2] an dem folglich alle staatliche Gewalt ihr Handeln auszurichten hat. Sie ist daher Maßstab für Legislative, Exekutive und Judikative. Der Staat hat alles zu unterlassen, was die Menschenwürde beeinträchtigen könnte. Ein Eingriff in den Achtungsanspruch der Menschenwürde stellt nach herrschender Meinung[3][4][5] auch eine verbotene Verletzung dar, es existieren danach weder verfassungsrechtliche Rechtfertigung noch Schranken. In der Interpretation des Artikels ist umstritten, ob die Menschenwürde als über-positives Recht (Naturrecht) aufzufassen ist oder ob sie als positives Recht zu gelten hat.[6] Ebenfalls ist umstritten, ob die Menschenwürdegarantie ein eigenes Grundrecht darstellt.[7] Dies ist jedoch von nur begrenzter praktischer Relevanz, da ansonsten die Verletzung des jeweils einschlägigen Grundrechts in Verbindung mit dem objektiven Verfassungsgrundsatz der Menschenwürde gerügt werden könnte.[8] In der Diskussion über die Reichweite der Unantastbarkeit der Menschenwürde stehen etwa der Embryonenschutz[9] oder das Folterverbot[10]. Weitere Themen sind Fragen, inwieweit Arbeit als Element der Menschenwürde gefördert, bereitgestellt und verteidigt werden muss, ob Abschiebungen oder Lauschangriffe mögliche Verstöße gegen die Menschenwürde sind, oder nach welchen Kriterien Strafverfahren im Konflikt mit der Beachtung der Menschenwürde stehen können.[11]

Absatz 2

So wie der erste Absatz und auch ein Großteil des deutschen Grundgesetzes, so ist auch dieser Absatz eine Reaktion auf die menschenverachtenden Ereignisse des Zweiten Weltkrieges, mit dem ethisch und moralisch fundamentalen Hintergedanken, dass sich diese niemals wiederholen sollen. Darum werden hier die Menschenrechte in das Grundgesetz integriert, ähnlich dem Völkerrecht in Art. 25.

Absatz 3

Das Bundesverfassungsgericht äußerte sich bereits 1957 zur Bedeutung des dritten Absatzes von Artikel 1 GG:

„Art. 1 Abs. 3 GG kennzeichnet nicht nur grundsätzlich die Bestimmungen des Grundrechtsteiles als unmittelbar geltendes Recht, sondern bringt zugleich den Willen des Verfassunggebers zum Ausdruck, daß der Einzelne sich der öffentlichen Gewalt gegenüber auf diese Normen als auf Grundrechte im Zweifel soll berufen können.“

– BVerfGE 6, 386[12]

Im Gegensatz zum Beispiel der Weimarer Verfassung, welche lediglich Programmsätze enthielt, binden die im Grundgesetz verankerten Grundrechte die Gesetzgebung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht. Dies bedeutet, dass die Grundrechte Rechtsansprüche des Einzelnen gegenüber dem Staat begründen. Eingriffe in die Grundrechte, die Grundrechte nicht selbst vorsehen und die sich nicht aus anderen Verfassungswerten ergeben, sind daher unzulässig. Der Bürger kann unter Berufung auf die Grundrechte klagen. Sollte der Bürger nach Erschöpfung des Rechtswegs der Meinung sein, dass immer noch eine Grundrechtsverletzung besteht, kann er das Bundesverfassungsgericht im Wege einer Verfassungsbeschwerde anrufen.

Siehe auch

Literatur

Kommentare
Fachliteratur

Einzelnachweise

  1. Tobias Linke: Die Menschenwürde im Überblick: Konstitutionsprinzip, Grundrecht, Schutzpflicht. JuS 2016, S. 888; Zitat: „Die Garantie der Menschenwürde ist das zentrale objektiv-rechtliche Konstitutionsprinzip.“.
  2. BVerfG, Urteil vom 16. Januar 1957, Az. 1 BvR 253/56, BVerfGE 6, 32 (41) – Elfes, Zitat: „die Würde des Menschen […] , die im Grundgesetz der oberste Wert ist“.
  3. BVerfG, Beschluss vom 4. April 2006, Az. 1 BvR 518/02 Rn. 130; BVerfG, Beschluss vom 7. Dezember 2011, Az. 2 BvR 2500/09 u. a. Rn. 99.
  4. Tobias Linke: Die Menschenwürde im Überblick: Konstitutionsprinzip, Grundrecht, Schutzpflicht. JuS 2016, S. 888 (891).
  5. Friedhelm Hufen: Die Menschenwürde, Art. 1 I GG. JuS 2010, S. 1 (9).
  6. Thomas Gutmann: Struktur und Funktion der Menschenwürde als Rechtsbegriff Preprints of the Centre for Advanced Study in Bioethics, Münster 2010/7
  7. Dafür: BVerfG, Urteil vom 9. Februar 2010, Az. 1 BvL 1/09 u. a., BVerfGE 125, 175 (222) – Hartz IV.
  8. Christian Hillgruber in: BeckOK Grundgesetz, Epping/Hillgruber, 47. Edition, Stand: 15. Mai 2021, GG Art. 1 Rn. 1.1.
  9. Ernst-Wolfgang Böckenförde: Die Würde des Menschen war unantastbar. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3. September 2003, Nr. 204, S. 33. 23. Mai 2019, archiviert vom Original am 23. Mai 2019; abgerufen am 23. Mai 2019.
  10. Heiner Bielefeldt: Das Folterverbot im Rechtsstaat (Memento vom 24. September 2015 im Internet Archive), Policy Paper No. 4, Deutsches Institut für Menschenrechte, Berlin, Juni 2004.
  11. Christoph Gusy: Menschenwürde und Strafverfahren (Memento vom 24. November 2015 im Internet Archive).
  12. BVerfG, Beschluss vom 7. Mai 1957, Az. 1 BvR 289/56, BVerfGE 6, 386 = NJW 1957, 1065, beck-online.