Virtual Life – Real Life

Herzlich willkommen, liebe Leserin, herzlich willkommen, neugieriger Leser! Wie einige sicher messerscharf folgern werden, dient diese Unterseite als Ablagerort für Texte etwas abseits des Tagesgeschehens. Einige beschäftigen sich mit Meta-Kram, andere mit speziellen Aspekten von Artikeln. Andere haben – wie der Seitenname Virtual Life – Real Life bereits andeutet, nur lose, indirekt etwas mit Wikipedia zu tun. Warum die Seite? Zum einen bin ich der Meinung, dass bestimmte Texte eine etwas längere Halbwertzeit haben und entsprechend gut sind zum Nachschlagen, um etwas zu referenzieren, und so weiter. Zum zweiten bin ich der festen Meinung, dass die in Wikipedia kultivierte Trennung zwischen dem „Virtual Life“ (Wikipedia, also hier) und dem „Real Life“ (also dem normalen Alltagsleben der User mit seinen Problemen wie Job, Miete und so weiter) nicht so sinnvoll ist. Anders gesagt: Ohne Auseinandersetzungen auch über externe Themen (das betrifft nicht nur, aber insbesondere auch die Alltagssituation von Wikipedia-Aktiven) wird auch Wikipedia selbst nicht die Power entfalten, die viele gerne möchten. Und – wahrscheinlich gravierender – nicht der Ort, an dem sie gern ihre (virtuelle) Zeit verbringen.

Wie einige vermuten, ist diese Seite eine Art Äquivalent zu einem früheren Vorhaben, einer Art Debattierclub für streßgeplagte und/oder abwechslungshunrige User(innen). Derzeit enthält diese Unterseite vor allem Texte zur gesellschaftlichen, sozialen und politischen Situation in Deutschland – vorwiegende alte und neuere Beiträge von meiner Userseite. Diskussion – egal, ob auf der umseitigen Disk, auf meiner normalen Userdisk oder anderswo – ist jederzeit willkommen. Letzte Anmerkung in eigener Sache: Lizenzgemäß behalte ich mir als Beitragsautor vor, eingestellte eigene, ausschließlich von mir geschriebene Texte auch anderweitig zu verwerten. --Richard Zietz 19:34, 29. Mär. 2013 (CET)

Parteien zur Wahl (Vol. 6): Piraten und Linke

Bearbeiten

Wagen wir einmal ein kleines Gedankenspiel. Nehmen wir an, im bundesdeutschen Wahlsystem wäre für die „Masse X“ der Nichtwähler eine Kompensation vorgesehen. Nehmen wir an, diese Kompensation bestünde aus einer systemseitig installierten Nichtwähler-Liste – eine Auswahl normaler Bürger und Bürgerinnen, die sich bereit erklären, für diejenigen, die nicht wählen, als Abgeordnete in den Bundestag einzuziehen. Die Kandidatenauswahl ginge sauber und korrekt über die Bühne – unter den wachsamen Augen eines Konsortiums aus internationalen Wahlbeobachtern, etwa von der OSZE oder gleich der UNO. Die Konditionen wären die gleichen wie bei den antretenden Parteien: Die Grösse der Nichtwähler-Fraktion hinge hier eben vom Prozentsatz der nicht abgegebenen Stimmen ab. Auch der Rest liefe unter dem Motto Gleiche Bedingungen für alle. Der Einzug in den Bundestag würde über die obligatorische Wahlliste erfolgen. Das Solär der Nichtwähler-Abgeordeten entspräche den gängigen Grundbezügen normaler MdBs – derzeit also etwa 8000 Euro im Monat.

Nur geträumt: Basisdemokratie statt Monokultur

Bearbeiten
Die Harten …: Akteure der Linkspartei bei der Berliner Grossdemontration gegen Atomkraft 2011

Die Rekrutierung künftiger Mandatsinhaber? Wäre irgendwann im Frühjahr über die Bühne gegangen, ganz zwanglos auf der Strasse erfolgt. „Hallo, haben Sie Lust, auf der Nichtwählerliste für den Deutschen Bundestag zu kandidieren?“ „Weiss nicht… hm… was krieg ich denn da?“ „Um die 8000. Hinzu kämen die obligatorischen Auslagen.“ „Nichtwähler? Die können in den Bundestag einziehen? Cool. Kandidieren? Muss ich mir überlegen.“ Zeitsprung in die Gegenwart: Die Nichtwähler und Nichtwählerinnen wären bei der Wahl 2013 repräsentiert. Zur Verfügung stünde ein Pool mit rund 500 Kandidatinnen und Kandidaten. Quer durch die Masse des Volkes: die Friseuse aus einer ostdeutschen Kleinstadt, welche die Möglichkeit, unverhofft mitzugestalten, einfach cool findet. Der geschiedene Hartz-IV-Empfänger aus Bochum: hochmotiviert, endlich mal was für seinesgleichen zu tun – die Unterschicht. Die Ärztin aus Wanne-Eickel, die komplett abgenervt ist von dem für Normalbürger kaum noch erschliessbaren deutschen Steuersystem. Der Kneipenbesitzer aus der mittelhessischen Kleinstadtgemeinde Herford. Dessen Musikkneipe zwar nachgewiesen ein Bedürfnis erfüllt, einflussreichen Leuten vor Ort allerdings chronisch ein Dorn im Auge ist. Kurzum – eine repräsenative Auswahl normaler Bürger und Bürgerinnen: Berufstätige, Selbständige, Rentner, Migrationshintergrund, kein Migrationshintergrund, Frauen, Männer, Arme, Wohlhabende, Junge, Alte, Wertkonservative, Fortschrittliche, Coole wie nicht ganz so Coole oder auch entschieden Uncoole.

Seien wir fair: Gut möglich, dass Angehörige der herrschenden Klasse auf diese Weise ebenfalls mit ins Parlament gerieten. Der per Erbschaft zu Vermögen gekommene Nachwuchs-Rentier aus guten Haus beispielsweise. Der plötzlich vor der Wahl stünde, etwas Sinnvolles zu tun. Ruhm, Ehre, Ansehen sowie einen Platz in den Geschichtsbüchern erwerben könnte, anstatt ein im Grunde ereignisloses und langweiliges Jet-Set-Leben weiterzuführen. Zugegeben: Komplettausfälle wären bei diesem System ebenfalls unvermeidbar. Der Wutbürger aus der Schwäbische-Alp-Kleinstadt beispielsweise, der sich mit Initiativen für sinnlose Restriktionen zu profilieren versucht (und dem Rest seiner Fraktionskollegen damit auf den Nerv geht). Der auf der Liste mit durchgeschlüpfte Rechtsradikale. Unfähige, Glücksritter, Gescheiterte. Summa summarum allerdings würde die neue Nichtwähler-Fraktion weitaus mehr dem Querschnitt der normalen Bevölkerung entsprechen als die fast ausschliesslich aus Beamten, Juristen, Verwaltungstechnokraten und Parteibürokraten zusammengesetzten Parlamentsfraktionen der vier Oberschichtparteien CDU/CSU, FDP, SPD und Grünen. Last but not least: Nicht viel Fantasie braucht es auch, sich das Ausmass an (fruchtbarer) Turbulenz vorzustellen, das eine derartige Bürgerfraktion im Parlament auslösen würde. Alternativlos? Wollen wir doch einmal sehen …!

Die Monokultur der Medien, oder: Wird sie oder wird sie nicht?

Bearbeiten

Eine Fünf-Sterne-Bewegung wie in Italien steht in Deutschland nicht zur Wahl. Beamen wir uns also, auch wenn es schwer fällt, in die Wirklichkeit zurück. Parlament aufmischen ist am 22. September nicht drin. Dass es bei der Wahl 2013 absehbar nur um Posten und Karrieren geht, wird am besten durch das zynische Spiel unter Beweis gestellt, das systemrelevante Parteien und Medien gegenwärtig zelebrieren. Beispiel Peer Steinbrück. Bis vor kurzem noch vor allem als Grossmeister der Fettnäpfe dargestellt, wird er seit dem Kanzlerduell zum aussichtsreichen Kandidat schöngeschrieben. Inhaltliche Ursachen hat dieser sonderbare (noch dazu im Gefolge eines massgeblich selbst mitinszenierten TV-Ereignisses getätigte) Schwenk nicht. Grund ist die nackte Langeweile, die Auflage. Nachdem die staatstragenden Hauptmedien Merkel fleissig zur Königin von Deutschland, zur Beherrscherin Europas, des Euros sowie zur Mitregentin des Universums hochgeschrieben hatten, ist man in den einschlägigen Redaktionskonferenzen offensichtlich zu dem Schluss gekommen, dass von „Wahl“ unter derart ungleichen Bedingungen kaum noch die Rede sein kann. Möglicherweise hatten die Leser und Leserinnen die ewig gleiche Geschichte langsam satt. Folge: Im Wahlkampffinale, kurz vor Toresschluss sozusagen, befleissigen sich die Leitmedien plötzlich einer recht wohlwollenden Steinbrück-Berichterstattung. Merkel hingegen wird als Kandidatin des Stillstands beschrieben – im Spiegel vom 9. September gar in einer kompletten Titelgeschichte.

Frage: Sind die Medien nunmehr komplett durchgeknallt? Einiges spricht in der Tat dafür. Insbesondere die vielgerühmten Leitmedien erwecken mehr und mehr das Bild eines Kindes, welches von einem Spielzeug zunächst hin und weg ist, in der nächsten Woche jedoch dessen überdrüssig wird, es quengelnd in die Ecke schmeisst und nach dem nächsten Spielzeug schreit. Als ungebetene, nichtlegitimierte „Kanzlermacher“ gerieren sich vor allem die bekannten Grössen der Branche – Spiegel, BILD, Stern, ergänzt durch FAZ, Welt sowie die beiden überregionalen Wochenzeitungen. Meinungsvielfalt, Pluralismus? In der neoliberalen Startup-Phase der Neunziger wohl irgendwann abhanden gekommen. Gab es in der alten Bundesrepublik noch zwei grosse, miteinander konkurrierende und klar voneinander unterscheidbare Presselager, agieren „die Medien“ im neuen Jahrtausend eher als festgefügter, informeller Block. Motto, frei nach Walter Ulbricht: Differenzen im Detail darf es geben. Im Großen und Grundsätzlichen verfolgen Zeit, Spiegel, BILD & Co. jedoch eine einheitliche, von professionellen Branchen-Hochkarätern ausbaldowerte Linie. Nach diesem Schema wurde Schröder vom wischiwaschiliberalen stern ebenso als Erneuerer hochgeschrieben wie von der traditionell schwarzen Springer-Presse – als Repräsentant einer neuen Generation, später, im Gefolge von Hartz-IV, als Exekutator angeblich unvermeidlicher Reformen. Das Gleiche geschah mit Angela Merkel – nunmehr mit dem Spin Ostdeutsche, Frau, Macherin und Bewältigerin der Euro-Krise. Fertiggebracht haben die Medien schliesslich das unbestreitbare Kunststück, Merkel als bundesdeutsche Margaret Thatcher und Gesamt-Sozialdemokratin in einer Person zu inszenieren. Ändern – in dem Punkt waren die Medien allerdings prinzipienfest wie Stahl – musste Frau Merkel lediglich eines: ihre Frisur.

Abweichler von diesem marktwirtschaftlich-neoliberalen Medien-Common-sense hingegen hatten und haben es presseseitig schwer: Kurt Beck, Andrea Ypsilanti, Oskar Lafontaine; zuletzt Christian Wulff. Bei dessen Sturz schliesslich sogar erfundene Rotlicht-Geschichten lanciert wurden, um den nationalkonservativen Joachim Gauck als neue deutsche Ikone, Mediendarling und Bundespräsident ins Amt zu hieven. Zu spüren bekam die mediale Macht zuletzt auch die Piraten-Partei: Liest man Zeit, Spiegel & Co., gelangt man zu dem Eindruck, dass sich die Piraten so um das Frühjahr herum klammheimlich aufgelöst haben müssen. Eine ganze Partei im Medienloch verschwunden? Ist das möglich? Trauriger Befund: Ja – es ist. Sicher – „Information pur“ gab es auch früher nicht. Für die CDU (oder auch mal: für einen vorsichtigen sozialliberalen Wechsel) legten sich die Flaggschiffe der grossen Medienhäuser schon immer ins Zeug. Die Anti-68er-Hetze der Springer-Presse gipfelte gar in einem blutigen Finale. Mit Dutzenden Toten, Verletzten sowie sonstwie für ihre Leben unwiderruflich Geschädigten und Beschädigten – Ohnesorg, Dutschke & Co. lassen grüssen. Die Frage, ob die 68er-Revolte auch ohne die Revolver-Berichterstattung aus den Häusern Springer und Bauer zu jener gesellschaftlichen Polarisierung geführt hätte, wie sie es in realitas tat, ist nicht nur berechtigt. Eine entsprechende Erhebung dürfte auch unter sozialwissenschaftlichen Gesichtspunkten einige Brisanz zutage fördern. Begnügen wir uns an der Stelle mit der Frage: Was hat sich in der Zwischenzeit geändert? Vielleicht die Zuschreibung. Die Rosa-Wolke-Einschätzung, dass – ungeachtet der historischen Erfahrungen mit Hugenberg-Presse und der Anti-68er-Kampagne aus dem Haus Springer – ausgerechnet privatwirtschaftlich agierende Medien dazu prädestiniert sind, die Rolle der Demokratiewächter zu übernehmen. Bliebe die Frage, woher die stammt. Wir brauchen nicht lange nach der Antwort zu suchen. Es sind vor allem die Medien selbst, die sich diese Rolle auf den Leib zugeschrieben haben.

Kreuz-Möglichkeiten: Wo gibts noch (echte) Opposition?

Bearbeiten
… und die Zarten: Der Pirat als romantischer Verführer, Tyrone Power mit Maureen O'Hara im selben Film

Reden wir über die Opposition. Will man mit seinem Kreuz nicht potenzielle Merkel-Partner von morgen unterstützen (also die beiden Pseudo-Oppositionsparteien SPD oder Grüne), bleiben zwei Geschmacksrichtungen zur Auswahl. Gruppe eins sind die Mini-Sekten ohne ernsthafte Chance: Tierschutzpartei, ÖDP, Partei Bibeltreuer Christen, DKP, MLPD, und so weiter. Einsortieren kann man in diese Gruppe auch den rechten Rand – also NPD und vergleichbare Geschmacksrichtungen. Die zweite Gruppe sind die Alternativen mit Chance. Neben der Linkspartei, deren Wiedereinzug in den Bundestag derzeit kaum jemand in Frage stellt, treten zwei Formationen an: eine rechtspopulistische und eine bürgernah-sozialliberale. Die rechtspopulistische in Form der AfD bedient vor allem das wohlstandschauvinistische Ressentiment. Einerseits kommt ihr Hauptkandidat, der Bremer Wirtschaftsprofessor Bernhard Lucke, durchaus eloquent und symphathisch rüber. Andererseits hat die AfD sowohl innerhalb als auch ausserhalb der Partei ein Problem. Ausserhalb winkt die Option einer parteiübergreifenden Sammlungsbewegung rechts von der Union. Prominente Namen sind in dem Kontext nicht gerade rar. Das Spektrum reicht von dem revisionistischen Historiker und Talkshow-Dauergast Arnulf Baring und dem Bestseller-Autoren Thilo Sarrazin bis hin zu eher konservativ-marktradikal in Erscheinung getretenen Leuten wie Friedrich Merz, Roland Koch, Olaf Henkel sowie, als Reserve vielleicht, dem unabkömmlichen Wolfgang Clement. Den richtigen, echten, unschönen Rechtspopulismus hat die Anti-Euro-Partei allerdings bereits jetzt mit an Bord. Nicht in der ersten Reihe. Hinter den Kulissen hat der Kampf gegen Frauengleichberechtigung, gegen zu viel „Multikulti“ und gegen den angeblich ausufernden Sozialstaat allerdings bereits begonnen. Doch auch in ihrem aktuellen Zustand ist die AfD weniger ein basisnaher Sachwalter des deutschen Volksvermögens als vielmehr eine nationalliberale Partei ziemlich alter Zurichtung – eine Etabliertenpartei also in der Verkleidung einer Protestpartei. Konsequenterweise äußerte die AfD bereits, dass sie, sollte sie ins Parlament kommen, ihr Gewicht in die Waagschale werfen will zugunsten einer Neuauflage von Schwarz-Gelb. Tipp hier: Wer tatsächlich eine Neuauflage von Schwarz-Gelb will, sollte sein Kreuz lieber gleich bei der FDP machen.

Bliebe die bürgernah-sozialliberale Richtung in Form der Piraten. Auffällig an den Piraten sind vor allem drei Dinge: erstens die Art und Weise, wie sie kamen und Zug um Zug Landesparlament um Landesparlament eroberten, zweitens die von zahlreichen Widersprüchlichkeiten geprägte Parteiprogrammatik, drittens der mediale Gegenwind, der nach der Berlin-Wahl 2012 einsetzte und aktuell in Form einer Totschweigekampagne fortgesetzt wird. Reden wir zunächst über die Programmatik. Dass die Piraten eher eine Methode sind, ein Sammelbecken für linksliberales Basis-Unbehagen an der Politik von SPD und Grünen und somit ein Zwischenzustand, wird selbst von Piraten-Mitgliedern selbst kaum bestritten. Insgesamt gelang es Piraten sogar da, wo sie eher negativ auffielen (klassische Beispiele: die vor allem in der frühen Parteiära stark auffallende Unbedarftheit in Sachen Frauenfragen sowie unbedarft-wurstige Sprüche in Sachen NS-Vergangenheit nach dem Motto „Ist irgendwie nicht so unser Ding“), Sympathiepunkte zu machen. Der bürgernahen Aufstellung entspricht in Grossen und Ganzen auch das Programm: weniger eine konsistente, auf eine bestimmte Vorstellung von Gesellschaft hinarbeitende Programmatik als vielmehr ein Sammelsurium unterschiedlicher, zum Teil sogar widersprüchlicher Forderungen. Ist sowas wählbar? Auffällig: Verglichen mit den üblichen Schlachtrossen des professionellen Polit-Betriebs, um die man sich Sorgen machen muss, sollte es mit der Politkarriere mal irgendwie nicht glatt laufen, wirken die Piraten sogar im Negativen angenehm „normalo“. Darüber hinaus hat die Partei durchaus ein paar „Gesichter“ hervorgebracht: den schlagfertigen Christopher Lauer bespielsweise, den Berliner Parteiaktivisten Martin Delius, die Buchautorin Marina Weisband, den aufstockenden Theaterpädagogen Johannes Ponader, den Bundeswehroffizier, Kriminologen und Sozialwissenschaftler Bernd Schlömer oder etwa die Unternehmerin und Open-Gouvernment-Aktivistin Anke Domscheit-Berg. Wie sich die Piraten künftig einsortieren, und ob sie es überhaupt schaffen in den Bundestag, ist aktuell zwar unklar. Klar ausmachbar ist allerdings, dass eine Piratenfraktion im Bundestag ein Segment eindeutig bereichern würde: die parlamentarische Repräsentation jener linken Hälfte der Gesellschaft, für die es bereits seit Jahren eine stabile Umfragemehrheit gibt. Und deren Umsetzung in praktische Politik bislang vor allem an einem Punkt gescheitert ist: dass die grünen und sozialdemokratischen Führungsetagen sie erfolgreich gedeckelt und praktisch vereitelt haben.

Ausgemacht ist im Hinblick auf die Zeit nach dem 22. September lediglich eines: dass zumindest eine (linke) Partei weiter auf der Oppositionsbank verharrt – die Linkspartei. Die einzigartige Besonderheit des bundesdeutschen Parteiensystems – nie Sozialisten in irgendeine Regierungsverantwortung – wird aktuell zwar aufgeweicht. In der aktuellen Version lautet die Formel: Nur noch dieses eine Mal kein Bündnis mit Sozialisten. Sicher lässt die paradoxe Konstellation auch Rückschlüsse zu auf die interne Verfasstheit der sozialistischen Opposition. Respektive vorhandene Bereitschaft, essentielle Kompromisse einzugehen für die vage Aussicht, endlich mit zum „Club“ dazuzugehören. Andererseits kann man die Frage aufwerfen, warum eine erwiesen demokratische Partei über Jahrzehnte aussen vor gehalten wird. Beziehungsweise aktuell mit Verprechungen abgespeist nach dem Motto: Naja, in vier oder acht Jahren wollen wir nicht so sein; vielleicht reden wir dann ja mal drüber. Abgesehen davon, dass die Behandlung der Linkspartei seitens der vier Systemparteien einige Ähnlichkeiten hat mit den – ebenfalls bloss als Fake geführten – Beitrittsverhandlungen der Türkei mit der EU: Aktuell ist das Wahlkreuz bei der Linken nahezu ein Garant für ungefilterte, echte Opposition. Die Linke hat sich nicht nur dazu entschlossen, ein komplettes Team als Spitzenkandidaten antreten zu lassen (bestehend aus Gregor Gysi, Sahra Wagenknecht, Klaus Ernst, Dietmar Bartsch, der attac-Aktivistin und Kommunikationswissenschaftlerin Nicole Gohlke, der Sozialpädagogin Diana Golze, dem ehemaligen UN-Waffeninspekteur und Friedenspolitiker Jan van Aken sowie – spezialisiert auf die Themen nachhaltiges Wirtschaften sowie Wohnen/Mieten – Caren Lay). Im sozialen Bereich ist sie derzeit die einzige Partei, die einigermassen eindeutig Farbe bekennt und es noch wagt, Begriffe wie „oben“ und „unten“ in den Mund zu nehmen.

Fazit: Piraten und Linke – am besten im Doppelpack!

Bearbeiten

Die Qual der Wahl: Absolut sicher schaffen wird es am 22. September wohl nur die Linke. Um die Dauerquarantäne der Sozialisten zu beenden, wäre eine mit Netz-Outsidern sowie aufstockenden Projektlern besetzte Schwesterfraktion bereits per se von Vorteil. Da die Linke ziemlich sicher drin sein und – unabhängig, ob fünf oder fünfzehn Prozent – weiter unter Quarantäne stehen wird, ist eine Stimme für die Piraten kaum verschenkt. Sicher – die Erfolgserlebnisse nach der Wahl werden sich selbst im besten Fall bescheiden ausnehmen. Möglich, dass ein paar Kippkandidaten von Rot und Grün wegen Orange nicht ins Parlament kämen – angesichts der Abgehobenheit durchschnittlicher Systempartei-Kandidaten allein schon ein Grund, das Kreuz bei „Orange“ zu machen. Ein wirklich positiver Effekt zweier linker Oppositionsparteien wäre, dass mit zwei Parteien die Wahrnehmung von und das Gefühl für Opposition überhaupt wieder in wahrnehmbare Dimensionen ansteigen würde. Ob 2017 eine deutsche Fünf-Sterne-Bewegung oder gar SYRIZA antritt, ob es besser wird oder schlechter (schlimmstenfalls, bei einem weiteren Krisenschub, vielleicht sogar bis hin zu einer realen Erodierung des bestehenden Systems) hängt unter anderem davon ab, ob die Blockparteien es mittelfristig schaffen werden, die Zeitbombe 10 bis 20 Millionen deregulierte Existenzen einigermassen nachhaltig zu entschärfen.

Wie man es dreht und wendet: die von rot-grün massgeblich mit durchgestalte und mit der Zeit immer abscheulichere Züge annehmende Klassengesellschaft wilhelminischen Zuschnitts ist das beherrschende Thema der nächsten Jahre. Stichworte: letzte bei der Bildung, letzte in Sachen gesellschaftliche Durchlässigkeit, unteres Mittelfeld bei Arbeitsbedingungen und Löhnen, (noch) gerade so Mittelfeld bei den Demokratie- und Bürgerrechts-Parametern, inklusive Ansätzen von „tiefem Staat“, traurige Spitzenreiter hingegen bei den Parametern Kinderfeindlichkeit, Bürokratie, unsinnige Staats-Regulierung sowie Reichen-Bevorteilung. Was immer auch zu tun ist: Ohne eine deutliche Infragestellung der vorgeblich demokratischen Medien, die längst fest mit in der neoliberalen Etablierten-Wagenburg sitzen, wird sich eine Re-Demokratisierung der bundesdeutschen Gesellschaft kaum angehen lassen. --Richard Zietz 14:32, 12. Sep. 2013 (CEST)



Parteien zur Wahl (Vol. 5): die Nichtwähler

Bearbeiten

Stell dir vor, es ist Wahl, und keiner geht hin. Dass die Anzahl der Nichtwähler von Wahl zu Wahl ansteigt, wird gemeinhin eher weniger an die grosse Glocke gehängt. Grosse Ausnahme: der themenlose Pseudo-Wahlkampf 2013. Rechtzeitig zum Ende des Sommerlochs entdeckten Medien und Parteien auch die Nichtwähler. Frage: Woran liegts? An der nicht vorhandenen Politisierung? Oder eher an den abwesenden Alternativen? Das Dilemma in Zahlen: Gingen bei der legendären Willi-Wahl 1972 noch über 90 Prozent der Bundesbürger und Bundesbürgerinnen zur Urne, waren es 2009 gerade mal 70 Prozent. Dass dieser Wert 2013 deutlich unterboten wird und ein neuer Nichtwahl-Rekord ins Haus steht, gilt derzeit als ausgemacht. Wie viele Menschen genau sind von der herrschenden Politik so angeödet, dass sie sich den Gang zum Wahllokal schenken und lieber zu Hause bleiben? Das Boulebardblatt BILD nannte im Sommer dieses Jahres nannte die magische Zahl 15 Millionen. Davon überdurchschnittlich viel: schlecht ausgebildet, weiblich, jung, politisch frustriert und mit desolaten Zukunftsaussichten. Novum: Würden die Nichtwähler als Partei gewertet, wären sie mittlerweile die stärkste politische Kraft. Nicht nur in den Ländern, wo die Wahlabstinenz bereits stärker fortgeschritten ist, sondern – erstmals – ebenso im Bund.

Politik vs. Wähler

Bearbeiten

Zahlen und Trends, die auch von den grossen Instituten – wie beispielsweise der von forsa für die Friedrich-Ebert-Stiftung durchgeführten Untersuchung – bestätigt werden. Spitzenreiter bei der Wahlabstinenz: das untere, von der Politik zunehmend ausgegrenzte und abgehängte Drittel. Die Ursachen für den Verdruss muß man nicht lange suchen. Neben den rotgrünen Agenda-Gesetzen – ein Auslöser, der selbst von den berichtenden Medien nicht bestritten wird – kursieren vor allem drei allgemeine Erklärungsversuche: Alternativenmangel, Glaubwürdigkeitsverlust und Bürgerferne. Alle drei Punkte sind einerseits nebulös. Andererseits sind sie nicht ganz falsch. Kommen wir zu Punkt eins. Die Ursache Alternativenmangel lässt sich gleich auf mehreren Ebenen unterfüttern. Zum einen gleichen sich die Programmatiken fast bis zur Ununterscheidbarkeit – sofern solche überhaupt noch herausgekehrt werden. Alternativen unter derartigen Umständen? Eher Fehlanzeige. Existenzielle Entscheidungen – bekanntestes Beispiel: die Banken-Rettungsschirme 2008/2009 – werden seitens der herrschenden Politik ebenfalls immer öfter als „alternativlos“ deklariert. Auch Koalitionsaussagen nimmt man – Beispiel: Andrea Ypsilanti in Hessen – lediglich dann noch wörtlich, wenn sie den Big Playern im bundesdeutschen Polit-Betrieb (die nicht unbedingt über ein aus Wahlen resultierendes Mandat verfügen müssen) in den Kram passen. Bei der aktuell anstehenden Wahl hingegen geht so gut wie niemand davon aus, dass getätigte Koalitionsaussagen nach der Wahl in irgendeiner Form Bestand haben. So ist die Bühne für die argumentative Kärrnerarbeit in Sachen Schwarz-Grün längst eröffnet. Wobei weniger die Leitmedien überzeugt werden müssen, die die Variante Schwarz-Grün bereits seit längerem fleissig supporten. Sondern eher jener Teil der Altmitgliedschaft, den man für die Parteifolklore noch braucht und darum nicht komplett aus der Partei rausekeln will. Beispiel: Daniel Cohn-Bendit und Claus Leggewie. In einem Mitte August erschienenen Spiegel-Essay sondierten sie, angeblich vorurteilsfrei, potenzielle Partner für grüne Koalitionen. Wobei – realistisch – lediglich eine Option Bestand hatte in den Augen der Autoren: die, welche ganz viel Öko garantiert und eine „neue Bürgerlichkeit“ gleichermassen. Kohle für das Spiegel-Glanzheft vorausgesetzt: Die in der Rechnung nicht vorkommenden Leser und Leserinnen aus dem prekarisierten unteren Gesellschaftsfünftel werden Cohn-Bendits Überlegungen sicher mit viel Genuss zur Kenntnis genommen haben.

Im Grunde leiten die beliebigen, durchsichtig aus taktischen Gründen gegebenen Koalitionsaussagen zum zweiten Grund für die grassierende Politikverdrossenheit über – dem Glaubwürdigkeitsverlust der herrschenden Politik. Unglaubwürdig geworden ist die Politik nicht nur bei den paar Highlight-Themen, welche in den Medien Furore machten – beispielsweise anlässlich der Bürgerproteste gegen Stuttgart 21 sowie die Atom-Endlagerung in Gorleben. Keine, unbefriedigende oder falsche Antworten gibt es auch in jenen Fällen, wo – Beispiele: NSU und NSA – massivste, zum Teil letale Übergriffe auf Bürgerrechte stattfanden. Gleitet die Demokratie in eine Postdemokratie ab? In der demokratische Einflussnahme lediglich noch an der Oberfläche stattfindet, in Wirklichkeit jedoch nicht legitimierte Inner Circles durchregieren? Dürfen Geheimdienste frei nach Gusto agieren? Aktuell sind diese Fragen noch offen. Einerseits gibt es Bürgerproteste, Medien, die unterschiedliche Meinungen artikulieren, zwei, drei Dutzend Parteien abseits der „systemrelevanten“ Big Four. Andererseits sind die Anzeichen für Konzentration, für eine politische Monopolbildung unübersehbar. CDU/CSU, SPD, FDP und Grüne, die „Big Four“, präsentieren sich zunehmend als monolithischer Einheitsblock – als informelles Machtkartell mit der Tendenz, den Staat als Selbstbedienungsladen, als Eigentum zu behandeln. Ist das noch Parteienstaat? Oder bereits die erste Stufe zum Bonapartismus? Verstärkt wird der Faktor Glaubwürdigkeitsverlust durch die Art und Weise, wie Parteien ihre Kader generieren. Politik gilt, ähnlich wie in den USA, mehr und mehr als Karrieresprungbrett. Folge: Die politische Klasse hat mit Normalbürgern immer weniger zu tun – jargontechnisch, interessensmässig, mental, räumlich. In den Parlamenten sitzen fast nur noch Juristen, Staatsangestellte, Parteifunktionäre sowie sonstige Verwaltungstechnokraten – Berufsgruppen also, die nicht nur besonders staats-, gesetz- und bürokratienah sind, sondern schon aus existenziellen Gründen gar kein Interesse haben an einer allgemeinen Entkomplizierung politischer Prozeduren.

Wahlenthaltung – ein pädagogisches Problem?

Bearbeiten
Wahlpflicht statt Wahlrecht? Berliner Fuckparade, 2006

Wie kommt man dem Missstand „Politikverdrossenheit“ am besten bei? Die SPD in ihrer Not will es mit Hausbesuchen versuchen. Da die Glaubwürdigkeit der Partei gen Null tendiert, ist es fraglich, ob diese helfen. Bei der Erklärung der aktuellsten Parteischaraden beispielsweise – der Kanzlerkandidat verteidigt Steuererhöhungen entgegen seiner inneren Überzeugung, der Parteivorsitzende stellt sie öffentlich als unnötig hin – dürfte selbst der dialektikgestählteste Sozialdemokrat in Erklärungsnöte geraten. Abgesehen davon: Dass die vergossenen Krokodilstränen echt sind, darf man getrost bezweifeln. Ein Fakt, der ebenso für diejenigen gilt, die das Nichtwähler-Thema gehypt haben: Welches Interesse etwa haben Spiegel, Zeit oder FAZ an einer erhöhten Wahlbeteiligung? Verbessert sie die Auflage ihrer Blätter? Wohl eher nicht. Weil die nichtwählenden Unterklassen einerseits abgehängt sind (und Parteistrategen je nach Farbe durchaus froh, wenn bestimmte Personengruppen der Wahl fernbleiben), andererseits das Thema auf die Agenda gesetzt ist, fahren Leitmedien und Öffentlich-Rechtliche die volkspädagogische Erziehungsschiene. Die Rezepte sind klassisch. Die Methode „Hintern versohlen“ (dem dummen, unmündigen Bürger nämlich, der seiner staatsbürgerlichen Veranwortung nicht nachkommt) war dabei Domäne der sonst so auf ihre liberale Note bedachten Zeit. Die Autoren Vincent Immanuel Herr und Martin Speer plädieren in einem Essay für die Einführung einer mit Geldbussen flankierten Wahlpflicht. Wie in der DDR – sonst gemeinhin als „Reich des Bösen“ und totalitär verdammt – war in den Augen der Verfasser nicht die Abwesenheit wählbarer Alternativen das Problem, sondern vielmehr die störrischen Bürger und Bürgerinnen, die dem von oben gesteckten Ziel nicht gerecht werden. Und die man nötigenfalls eben zu ihrem Glück zwingen müsse.

Dass pädagogisierendes Verständnisgeheuchel genauso schlimm ist wie die schwarze Pädagogik des Hamburger Traditionsblatts, stellte der erste Jauch-Talk nach der Sommerpause unter Beweis. Oberflächlich gesehen war die Jauch-Sendung auf Verständnis gebürstet. Dies suggerierte jedenfalls die Aufmacher-Schlagzeile: Denkzettel statt Stimmzettel – wozu noch wählen? – auch wenn die Wortzusammenstellung, die Jauchs PR-Abteilung da zusammengetextet hatte, schlimmster Nonsense war. In der Praxis allerdings war die Sendung der reinste Eklat. Die einzige authentische Nichtwählerin in der Runde, die Berliner Autorin Hanna Hünniger, wurde von Jauch und Rest-Gästen nach allen Regeln der Kunst übergangen, gedisst, in die antwortlose Leere laufen gelassen sowie zur stumm dasitzenden Staffage herabgewürdigt. Fazit: Das Verhalten der erfahrenen Talk-Profis gegenüber Hanninger war nicht einfach unhöflich, schäbig und menschlich gesehen unter aller Sau. Im Grunde war der Jauch-Talk ein unverhohlender, offener Affront an die zusehenden Nichtwähler – eine mit Spießerpathos grundierte Publikumsbeschimpfung, die sich Jauch im Namen der brav ihre Stimme abgebenden Normalbürger gegönnt hat. Über die Kernbotschaft des Talks wird sich der Nichtwähler sicher freuen: Wir verachten euch; ihr seid es uns nicht wert, dass wir mit euch reden.

Ist Talk immer so schlimm? Die Politik so moralinsauer, preussisch-korrekt, auf lediglich Output „könnende“ Polit-Alphatiere zugeschnitten? Oder so kompliziert, dass sie von Nicht-Profis gar nicht zu ergründen ist? Dass entsprechende Sendungen auch anders funktionieren können – anteilnehmend nämlich, spannend und durchaus mit einer Prise Humor, bewies Polit-Outsider Stefan Raab im Frühjahr mit seinem Talkformat Absolute Mehrheit. Anders war in Absolute Mehrheit nicht nur die unverkrampfte Art, mit der über politische Themen diskutiert wurde. Auch das Schema der Sendung – Kommunikation in Klartext, die Zuschauer sind per Votum integraler Bestandteil – war, von länger zurückliegenden Formatexperimenten einmal abgesehen, neu. Interessant waren die Raab-Talks indes auch aus einem anderen Grund. Im Unterschied zu Jauch, Will & Co. hatten nicht die Vertreter der Vier Unabkömmlichen die absolute politische Oberhohheit. Sondern vielmehr die, die gut argumentieren und für ihre Sache werben konnten. Im Publikums-Voting eine besonders gute Figur machten – von der FDP-Ausnahmeerscheinung Wolfgang Kubicki abgesehen – vor allem Teilnehmer der Linkspartei (Gregor Gysi, Klaus Ernst), der Piraten (Cornelia Otto), der AfD-Vorsitzende Bernd Lucke sowie der parteilose Deutsch-Rapper Sido. Stellt man in Rechnung, dass der ausstrahlende Privatsender (Pro Sieben) überdurchschnittlich von jenen Gruppen fequentiert wird, die laut Forsa-Studie zu den Nichtwählern tendieren, kommt man stark ins Grübeln darüber, inwieweit Wahlergebnisse die tatsächliche Meinungs-Realität repräsentieren.

Fazit: Bringt Nichtwählen was?

Bearbeiten

Wählen oder nichtwählen? Das Fazit der aufgeführten Impressionen ist widersprüchlich. Einerseits ist es ein recht interessantes Gedankenspiel, die Prozentergebnisse, die am Wahltag verkündet werden, durch zehn zu teilen, mit dem Faktor sechs malzunehmen und am Ende 40 Prozent hinzuzuaddieren für eine imaginäre Partei, die im Parlament nicht vertreten ist. Die Nichtwähler dazuaddiert, würde die forsa-Wahlerhebung vom 21. August etwa wie folgt aussehen: CDU/CSU: 25%; SPD: 13%; FDP: 4%; Grüne: 8%; Linke: 5%; Sonstige: 4%; Nichtwähler: 40%. Andererseits: Den vier systemrelevanten Parteien ist der Grad der Wahlbeteiligung relativ egal. Auf den Sitz oder Nicht-Sitz des Abgeordneten X oder der Abgeordneten Y hat die Höhe der Wahlbeteiligung keinen Einfluss. Ebensowenig auf die Zusammensetzung des Parlaments. Fazit hier: Nichtwählen bringt zweifellos nichts. Wie sähe es jedoch bei den Alternativen aus? Als aussichtsreich gehandelt wird derzeit nur eine. Von der Parteiprogrammatik her dürfte die Linkspartei den Interessen abgehängt-perspektivloser Nichtwähler zwar am ehesten entgegenkommen. Menschen, die sich am unteren Rand moderner, urbaner Milieus entlanghangeln, eventuell Öko sind, unpolitische Party-Feierer oder basisdemokratisch-anarchisch denkende Okkupy-Sympathisanten dürften sich mit dem Traditionssozialismus, den die Linke mit im Gepäck führt, indess eher schwer tun. Bliebe Partei zwei, die Piraten. Aufgrund der eher aufgesetzt wirkenden sozialen Programmatik zwar ebenfalls „einäugig“, dafür jedoch sehr sensibel beim Thema Bürgerrechte – einem Thema, wo eher bei der Linken noch das ein oder andere gehen dürfte. Ob die Piraten tatsächlich schwächeln oder ob ihre aktuelle Chancenlosigkeit eher von den Leitmedien herbeigeschrieben wurde, lässt sich schwer ausmachen. Ansonsten bleiben die Wutparteien am rechten Rand – inklusive der AfD, die im sozialen Bereich jedoch ebenfalls eher ein Law-and-Order-Profil entfalten dürfte.

Fazit: Die Wahl 2013 macht es einem schwer. Nicht deswegen, weil gar keine wählbare Partei vorhanden wäre (für Hartgesottene stünden ja noch DKP und MLPD zur Verfügung). Sondern deswegen, weil keine reelle Alternative zum herrschenden Block in Sicht ist. Linkspartei ist gut und schön, die Piraten ganz nett – schön, dass es sie gibt und schön, dass sie durchhalten. Optimal allerdings wäre ein Zusammenschluss. Ein Bündnis, verstärkt durch Basisgruppen, NGOs, Gewerkschaftsverbände sowie Dissidenten aus den vier Systemparteien. Kurzum: eine deutsche Fünf-Sterne-Bewegung, oder eine bundesdeutsche Variante des griechischen Linksbündnisses SYRIZA. Möglich, dass bis zur Entwicklung einer vergleichbaren Alternative noch einige Jahre ins Land gehen. Gut möglich ist allerdings auch, dass eine entsprechende Wahlalternative die Notlösung Nicht-Wählen für viele obsolet machen würde. Aufgrund einer inhaltlich klar konturierten Alternative. --Richard Zietz 16:36, 27. Aug. 2013 (CEST)



Parteien zur Wahl, Vol. 4: Bündnis 90/Die Grünen

Bearbeiten

Wer zum Teufel redet über die Grünen? Sie waren, sie sind da, und vermutlich werden sie uns ein paar weitere Jahre begleiten. „Gekommen um zu bleiben“, wie das gleichnamige Stück der Band Wir sind Helden. Ob die in Berlin-Kreuzberg lebende Bandsängerin Judith Holofernes ihr Kreuz bei Grün machen wird (oder vielleicht doch eher bei Piraten-Orange), wissen wir nicht. Der depressive Schleier, der sich ihren Auslassungen gegenüber der Süddeutschen 2010 zufolge über Deutschland gelegt hat, ist allerdings ein original grünes Gewächs. Grünpflanzen haben ihre Zeiten – Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Bündnis 90/Die Grünen sind zwar stark in den Bundestagswahlkampf gestartet. Highlights: Basisdemokratische Ur-Wahl der beiden Spitzenkandidaten, Forderung eines höheren Spitzensteuersatzes sowie das nicht gänzlich falsche Argument, die eigentlichen Erfinder des Atomausstiegs zu sein. Wahrnehmungstechnisch gesehen allerdings dröppelt die Partei seit dem Frühjahr vor sich hin. Die Steuerdiskussion war ein Strohfeuer. Dass Rot-Grün die Wahl stemmen kann, gilt mittlerweile als das unwahrscheinlichste unter den Szenarien. Da das wahrscheinlichste eine Koalition unter Führung der CDU – sprich: Angela Merkel – ist, lautet die interessante Frage in Bezug auf die einstigen Öko-Rebellen ganz lapidar: Kommt es im Herbst zu Schwarz-Grün oder nicht?

Modernisierer oder Partei der verrohenden Mittelschicht?

Bearbeiten
Otto Schily und Petra Kelly 1983: eine alte Schwarzweißaufnahme – aus einer Zeit, als die Grünen für viele noch für das Prinzip Hoffnung standen.

Grüne Träume, grüne Machtpolitik. Die Feststellung, dass die Grünen in der Mitte der Gesellschaft angekommen sind, ist mittlerweile ein Allgemeinplatz. Da in Deutschland ein ungeschriebenes Gesetz existiert mit der Regel „Politische Entscheidungen werden immer in der Mitte getroffen“, sind auch die Vertreter der grünen Aufsteigerschichten längst zum Business als usual übergegangen. Dort, wo sich die Leitmedien Gute Nacht sagen, wird Politik stets als Machtpolitik dekliniert, als machiavellistisches Spiel der Ränke und Ranküne nach dem Motto: Wer trickst wen am besten aus? Wer Anne Will, Günther Jauch oder andere Performance-Profis des offiziellen Polit-Betriebes für eine Quelle der Orientierung hält, wird das normal finden. Die alte Botschaft von Thomas Hobbes: Der Mensch an sich ist schlecht, gute Führer verhindern das Schlimmste, und ansonsten heisst es eisern auf die Selbstheilungskräfte der Märke vertrauen. Weltverbesserung war gestern: Als Partei der alten sozialen Bewegungen haben sich die Grünen nicht nur zähneknirschend in diesem Spiel eingerichtet. Seit 20 Jahren spielen sie die Karte Machtpolitik so virtuos, dass sich selbst Angela Merkel eine Scheibe von den Ökos abschneiden kann.

Haben die Grünen nichts geleistet? Geht auf ihr Konto nicht die weitgehende Abschaffung der auf Blut & Rasse basierenden Staatsbürgerschafts-Kriterien? Ein neues Einwanderungsgesetz, Gleichstellungsinitiativen, die Homo-Ehe? Haben nicht die Grünen erst Deutschland zivilisiert – zu einem Land gemacht, für das man sich nicht zwangsläufig schämen muss? Salopp gefragt: Ist die entspannte Stimmung in den Public-View-Zonen bei großen Sportereignissen nicht auch ein bißchen das Werk von Leuten wie Jürgen Trittin, Renate Künast und Cem Özdemir? Die wahre Antwort, so viel Ehrlichkeit muss sein: möglicherweise Ja. Allerdings: Reflektiert man die Rolle der Grünen im kritischen Rückblick, wird man sich des Eindrucks nur schwer erwehren können, dass selbst die unzweifelbaren Errungenschaften der rot-grünen Ära vergiftete Früchte sind. Ein solcher Rückblick ist mittlerweile auch in Buchform erschienen. Der Titel lautet: Rot-Grün an der Macht. Autor ist Edgar Wolfrum, Professor für Zeitgeschichte an der Universität Heidelberg. Wolfrum nimmt nicht nur gegenüber seinem Betrachtungsgegenstand, der rot-grünen Koalition 1999 bis 2005, eine sehr emphatische und über weite Strecken offen sympathisierende Position ein. Als Schüler des massgebenden Historikers der Berliner Republik, Heinrich August Winkler, macht er sich dessen positive Sicht eines Landes, das nach langen Irrungen und Wirrungen wohlbehalten im Westen angekommen ist, weitgehend zu eigen. Winklers Grundthese, dass die Entscheidungssituationen der neueren deutschen Geschichte alternativlos waren, die Zeit jedoch für ein Happy End gesorgt hat, überträgt Wolfrum auf seine Analyse der rot-grünen Ära. Fazit: Zu Schröders & Fischers Zeiten war Politik hochspannend. Wesentliche Entscheidungen wurden auf den Weg gebracht. Letzten Endes haben sie – bei aller Kritik, die man haben kann – das Land zum Positiven verändert.

Trotz dem unangebrachten Pathos: Als Informationsquelle ist Wolfrums Buch auch für diejenigen aufschlussreich und lesenswert, die mit Rot-Grün eher den massivsten Sozialabbau in der deutschen Nachkriegsgeschichte verbinden. Detailgenau beschreibt Rot-Grün an der Macht die einzelnen Wegetappen. Zeigt auf, dass der Sozialkahlschlag von Rot-Grün weitaus mehr bedeutete, als die gängigen Stichworte „Hartz-IV“ und „Agenda 2010“ nahelegen. Bereits die Hartz-Gesetze (neben IV auch I, II und III) beinhalteten eine bis dato nicht gekannte Zerschlagung sozialer Sicherungsstandards. Rot-Grün an der Macht etablierte Leih- und Zeitarbeit. Ebenso Regelungen für geringfügige Beschäftigungen. Schröder, Fischer & Gefolgschaft lockerten den Kündigungsschutz, die Verbindlichkeit von Tarifregelungen, erhöhten die Zumutbarkeitsregelungen für Arbeitslose und setzten – als bekannteste Einzelmaßnahme – das vormalige Arbeitslosengeld auf Sozialhilfeniveau. Flankiert durch den PR-Slogan Fordern und Fördern setzte Rot-Grün ein bis dato unbekanntes Programm zur Kontrolle und Schikanierung von Arbeitslosen um – flankiert von einem Behörden-Neusprech, dessen Begrifflichkeiten direkt aus Orwells Animal Farm zu stammen schienen. Organisatorisch modelte Rot-Grün eine träg-bürokratische Bundesbehörde zu einem neuen bürokratischen Monster um – Sachbearbeiter wurden zu Fallberatern, Sozialhilfeempfänger zu Kunden und das Amt zum Center. Vervollständigt wurde dieser in der Geschichte der BRD einmalige Abbau sozialer Standards von weiteren Agenda-Gesetzen: dem Abbau von Leistungen im gesundheitlichen Bereich, der Erhöhung von Beiträgen für Kranken- und Rentenversicherung, der sogenannten Riester-Rente (sprich: Ersetzung der bisherigen Rentenversicherung durch eine schnell Negativ-Schlagzeilen machende stattlich-private Ergänzungsversicherung) sowie weiteren Gesetzen, die der Flexibilisierung – sprich: allgemeinen Deregulierung der Lebensverhältnisse – dienten.

Propagandistischer Begleittenor der rot-grünen Deregulierungsorgie war das Lied von der sogenannten Ich-AG – ein Euphemismus für die Tatsache, dass Rot-Grün die Lebensrisiken breiter Bevölkerungsschichten privatisierte. Wolfrums Buch ist allerdings auch aus einem anderen Grund lesenswert. Zum einen deswegen, weil es zeigt, dass SPD und Grüne bereits 1999 mit sozialen Kuschelparolen auf Stimmenfang gingen und die Kohl-CDU als Partei der sozialen Kälte geisselten. Noch interessanter sind allerdings die kleinen Unterschiede im Detail. Während die Schröder-SPD zweimal in Kollision geriet mit ihrer Parteibasis – einmal anlässlich der beiden Kriegseinsätze im Kosovo 1999 und in Afghanistan 2001/2002 und einmal ganz harsch anlässlich der Agenda 2010 –, gab es bei den Ökopaxen lediglich anlässlich der Kriegseinsätze innerparteilichen Trouble. Die Agenda-Gesetze hingegen winkte die grüne Parteibasis, anders als die SPD, fast en passant durch. Katrin Göring-Eckardt, die sich nach der Urwahl als „soziale“ Spitzenkandidatin zu profilieren versuchte, hängte sich in Sachen Hartz & Co. besonders aus dem Fenster. Vor der Verabschiedung charakterisierte die neuen Gesetze euphemisch als „Frühling der Erneuerung“. Ernsthafter grüner Gegenwind gegen Agenda & Hartz war allerdings weit und breit nicht zu verzeichnen. Sebst linksgrüne Ikonen wie dem Berliner Abgeordneten Hans-Christian Ströbele war die Macht letztendlich wichtiger als das Schicksal des deregulierten unteren Bevölkerungsdrittels.

Ökospiesser an die Macht?

Bearbeiten

Der Rest der grünen Erfolgsgeschichte ist bekannt: Während die SPD seit den Agenda-Gesetzen keinen Boden mehr unter die Füsse bekommt, feierten die Grünen ihren zweiten Frühling. Grund: die Reaktor-Katastrophe von Fukushima sowie die Bürgerproteste rund um Stuttgart 21. Den Atomausstieg setzte zwar Bundeskanzlerin Merkel durch. Stuttgart 21 schliesslich wird gebaut – trotz rot-grüner Landesregierung, die sich in der Opposition dagegen ausgesprochen hat. Wirklich geschadet hat die Taktik „Viel schwätzen, wenig tun“ den Grünen trotzdem nicht. Im Gegenteil. Viel spricht für eine vordergründig banal erscheinende Beobachtung – die Tatsache, dass sich der Sozialtypus des Ökospiessers erst nach der rot-grünen Regierungsära zu voller Blüte entfaltet hat. Kennzeichen: Ersetzung von politischer Interessenvertretung durch einen nicht hinterfragbaren Ethik-Kanon ähnlich wie bei Religionen, Mülltrennung (ungeachtet der Tatsache, dass das ökologisch korrekt sezierte Restgut später wieder zusammengekippt und erneut „getrennt“ wird), Bionade, bienenschlanke Kampf-Kinderwagen & Fahrradhelm, bildungs- und einkommensbasiertes Ab- und Ausgrenzungsgehabe, Wohnung im Grünen, Neigung zu Privatschulen (vor allem für den eigenen Nachwuchs), hinzukommend penetrantes Moralisieren und Spassbremsentum (eine Tatsache, von der vor allem Raucher sowie Leute, die nicht denken, dass um zehn Uhr die Party vorbei ist, ein Lied singen können). Die Titelgeschichten über die neue Bürgerlichkeit sind mittlerweile Legion. Ebenso bekannt ist, dass ein Grossteil dieses neuen Milieus aus Bildungsbürgern, gut verdienenden Angestellten, Staatsbediensteten, Yuppies und sonstigen Gentrifizierungsgewinnern mit den Grünen sympathisiert.

Wie wirkt sich diese Tatsache im Hinblick auf das Wahlprogramm der kandidierenden Preferenzpartei aus? Einerseits haben die Grünen mit ihrer Spitzensteuersatz-Forderung für Unruhe gesorgt in ihren großstädtischen Stammwähler-Wohlstandsquartieren. Frage so: War die Forderung nach einem höheren Spitzensteuersatz mutig? Eine neue soziale Komponente im sozial lange vernachlässigten grünen Profil? Oder haben sich die Grünen damit selbst in den politischen Orkus geschossen? Die simple Wahrheit: vermutlich weder das eine noch das andere. Die Forderung, den Spitzensteuersatz für Einkommen über 80.000 Euro im Jahr auf 49 Prozent zu erhöhen, ist vermutlich nichts weiter als ein politischer Bluff – eine grünenspezifische Form der Sozialdemagogie, um Wähler aus dem Reservoir der SPD und der Linken abzugreifen. Von der Materie her lässt sich die Steuerforderung in fast jeder Hinsicht kritisieren. Erstens fokussiert die grüne Forderung die oberen Bereiche des Mittelstandes – Segmente, wo sicher was zu holen ist, jedoch deutlich unterhalb des Bereichs des großen Geldes liegend, der für die auseinanderklaffende Schere zwischen arm und reich ursächlich verantwortlich ist (und von den in sozialpopulistischen Bereichen wildernden Grünen in geradezu auffälliger Weise geschont wird). Zweitens: eine Vereinfachung des von keinem Mensch mehr zu durchblickenden deutschen Steuersystems ist in der grünen Agenda offensichtlich nicht vorgesehen – die übliche Arroganz der Systempartei gegenüber dem Teil der Wahlkundschaft, den man als „Ich-AG“ der deutschen Bürokratiemühle zum Frass vorgeworfen hat. Drittens stellt sich die Frage, wofür die Grünen die steuerlichen Mehreinnahmen überhaupt verwenden wollen. Da zu befürchten ist, dass ein Großteil dieser hypothetischen Kohle im Sumpf von Schuldentilgung, EU-Fördermitteln und Öko-Subventionen versickern würde, liegt man nicht verkehrt, wenn man in diesem einen Punkt sogar für Ökospiesser ein gewisses Verständnis aufbringt.

Möglich, sogar wahrscheinlich, dass nach der Wahl nicht so heiß gegessen wird. Für Schwarz-Grün (oder Schwarz-Rot) spricht schließlich auch der Nicht-Wahlkampf, der bis in den August hinein geführt wurde. Sicher – irgendwelche Punkte, Forderungen und Absichtserklärungen stehen in den Wahlprogrammen aller vier Systemparteien. Hauptmerkmal des Bundestagswahlkampfs 2013 ist allerdings, dass niemand weiss, für was irgendeine der konkurrierenden Formationen letztlich steht. Die politische Abstinenz der CDU ist erklärbar. Die Union setzt auf den Merkel-Effekt, auf die Kanzlerin als Hüterin des Geldes und große Mediatorin. Die FDP wird eine marktradikale Profilierung tunlichst vermeiden und – nach dem Motto: Dabei sein ist alles – auf die obligatorische stille Hilfe in Form von Zweitstimmen setzen. Die SPD steckt in der selbstverschuldeten Klemme und hat sich damit irgendwo auch abgefunden. Die Grünen schliesslich brauchen kein Programm. Jeder weiss, dass die grünen Wahlprogramm-Punkte nach dem 23. September Verhandlungsmasse sind. Der wichtigste Punkt: Keine der vier aufgeführten Parteien erweckt auch nur von weitem den Eindruck, die beiden Haupt-Brandherde, die in dieser Gesellschaft schwelen, in irgendeiner Form anzugehen: a) die Krise der EU und ihrer Institutionen mitsamt der damit verbundenen Demokratiekrise und dem daraus folgenden Legitimierungs-Defizit der Politik generell, b) die durch das obere eine Prozent vorangetriebene Polarisierung der Gesellschaft.

Fazit: lieber nicht

Bearbeiten

Das Fazit kann bei den Grünen kurz ausfallen. Kreuz bei den Grünen bringt nichts. Dem unteren Drittel der Gesellschaft haben die Grünen nichts zu sagen. Programmatisch ist die Partei derzeit beliebig. Motto, wie bei der FDP: Dabei sein ist alles. Unmittelbar profitieren werden von der Partei lediglich Teile des oben skizzierten Yuppie-Milieus sowie Staatsbedienstete. Letzteren können die Grünen zumindest Wichtigkeit versprechen sowie neue Aufgaben: Ein weiteres Ausmäandern staatlicher Bürokratien, gern auch europaweit, ist mit den Grünen so gut wie sicher. Ansonsten ist die Partei nur für diejenigen wählbar, die gesundheitlich-ästhetisch fragwürdige Wärmedämm-Haussanierungen für eine Errungenschaft halten und die Gentrifizierung ganzer Stadtviertel mit mörderhohen Mieten im Gefolge für die Verwirklichung einer gesellschaftlichen Utopie. Betroffen von dieser Politik ist übrigens auch das Gros derjenigen, denen im Zug von Rot-Grün ein paar bürgerliche Freiheiten neu gewährt wurden. Fazit so: lieber nicht. --Richard Zietz 17:53, 7. Aug. 2013 (CEST)



Die FDP – gibt's die noch? Beginnen wir mit den wenigen Good News: Ein Außenminister, der dieser Partei angehört, schafft es in regelmäßigen Abständen in die Nachrichten. Die Partei ist in der aktuellen Bundesregierung vertreten und hat darüber hinaus sogar einen Vorsitzenden. Die Schlagzeilen und Zahlen zur FDP sind indes die reine Katastrophe. Politisch befindet sich der gelbe Koalitionspartner im Dauertief. Bereits der Start lief mies. Die mit Beginn von Schwarz-Gelb neu eingeführte Hotelsteuer wurde allgemein als Bevorteilung einer FDP-nahen Wählerklientel gewertet. Der Hick-Hack-Kurs beim Thema Steuererhöhungen – erst: Nein, dann: Gut, geht wohl nicht anders – kam in der Krise ebenfalls nicht an. Die Sparmaßnahmen unter der Ägide von Philipp Röslers Gesundheitsministerium entwickelten sich ebenfalls zum Popularitätsdrücker erster Güte. Summa summarum profilierten sie die FDP auch auf dem Gebiet der praktischen Sozialpolitik als das, was sie ist: eine marktradikale Partei der sozialen Kälte. Mit klassisch wirtschaftsliberalen Argumenten begründet die FDP schließlich auch ihren aktuellen Sturmlauf gegen die Bürgerversicherung. Was war noch? Pleiten, Pech & Pannen im Entwicklungshilfeministerium (ein Ressort, welches die FDP laut Parteiprogramm 2009 ganz auflösen wollte, dann allerdings doch lieber mit einem der ihren, dem hemdsärmeligen Bundeswehroffizier Dirk Niebel besetzte), polarisierende Statements über spätrömische Dekadenz, übergriffig-sexistische Altherrensprüche sowie – last but not least – ein Parteivorsitzender, der seiner Partei das Gesicht verleiht, das sie verdient: das eines BWL-Studenten, der gerade in die PR-Abteilung eines Unternehmens aufgestiegen ist.

Pleiten, Pech & Pannen

Bearbeiten

Marktradikalismus, gemixt mit beharrlicher Klientelpolitik sowie einer Flexibilität, die im Fall des Falles jederzeit in blanken Opportunismus umkippen kann. Die beste Nachricht zur FDP ist aktuell die, dass Außenminister Westerwelle einigermaßen unfallfrei seinen Job verrichtet. Gute Berater oder Einsicht? Ausfälligkeiten in rechtspopulistische Stammtischgefilde verkneift sich der Außenpolitiker Westerwelle jedenfalls strikt. Reicht ein Außenminister ohne Fremdschäm-Effekt aus, um die Fünf-Prozent-Hürde zu stemmen? Die FDP steht auch im Jahr eins nach ihrem Tiefpunkt desolat da. „18 plus“ ist seit längerem ausgeträumt; bereits „8 plus“ wäre aktuell ein geradezu phänomenales Ergebnis. Die Umfragewerte sind zwischenzeitlich zwar etwas angestiegen. Wären aktuell Bundestagswahlen, könnte die Partei mit 4 bis 5 Prozent rechnen. Der Wiedereinzug in den Bundestag erscheint so nach wie vor als Zitterpartie. Allerdings: Dass die FDP Stehaufmännchen-Qualitäten hat, hat sie bereits mehrfach unter Beweis gestellt – zuletzt bei den Landtagswahlen in Schleswig-Holstein 2012 und Niedersachsen 2013. Politischer Restinstinkt oder schlicht die Laune des Glücks? Mit Wolfgang Kubicki und Christian Lindner schickte die Partei zwei Spitzenkandidaten ins Rennen, die a) nicht so desavouiert waren wie der Rest der abgehalfterten und in Dauer-Intrigen involvierten Parteispitze, b) einen gewissen persönlichen Sympathiebonus haben und c) ungeachtet aller tatsächlichen Indifferenz für einen „Liberalismus mit menschlichem Antlitz“ stehen.

Frage also: Wird es die FDP (wieder) schaffen? Oder ist die eiserne Reserve mit Kubicki und Lindner bereits verschossen? Prognose an der Stelle: Möglicherweise knapp – aber sie kommen durch. Grund sind weniger die aktuellen Wahlumfragen, welche ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Union und Rot-Grün prognostizieren. Nimmt man die in den Mainstreammedien so beliebte politische Farbenlehre als Anhaltspunkt, kann Merkel mondän auf Gelb verzichten. Mit der Steinbrück-SPD sowie den Grünen stehen Koalitionspartner bereit, die gegenüber der FDP den Vorteil haben, weniger desavouiert und politisch verbraucht zu sein. Etwas „farbiger“ könnte es koalitionstechnisch allenfalls dann werden, wenn Linke, Piraten oder AfD (bzw. irgendeine Kombination aus diesen drei Parteien) eine einfache Mehrheitsfindung erschweren. Allerdings sollte man den klassischen bürgerlichen Mehrheits-Beschaffer FDP nicht vorzeitig abschreiben. Die Zweitstimmen-Kampagnen, mit denen die FDP gezielt als Mehrheitsbeschaffer supportet wurde, sind in der Sozialgeschichte der BRD fast so etwas wie eine feststehende Konstante. Den Grund könnte man etwas salopp mit der Parole Business geht vor Gemeinwohl umschreiben. Konkret: Anders als die CDU, die sich als Volkspartei versteht und so gewisse integrative Momente aufweisen muss, war die FDP von je her die Partei des frei flottierenden Geldes. Eine Rolle, die sich auch aufs Image übertrug: So konnten die Liberalen schon immer mit dem Ruf locken, dass bei ihnen selbst dann noch was ging, wenn alle anderen Karten ausgereizt waren. Folge: Während der CDU die Rolle der staatstragenden Gründerpartei zukam, übernahmen die Liberalen wahlweise die Rolle derjenigen, die das System von Kalk befreiten, oder die der neoliberalen Hardliner, die die Partikularinteressen des großen bis mittelgehobenen Wohlstands verfochten.

Eine kurze Parteigeschichte des deutschen Geldes

Bearbeiten
Typisch für die FDP-Kernklientschaft: Schätzen der Dinge, auf die es im Leben ankommt

Die Janusköpfigkeit der FDP – hier sozialliberal orientierte Modernisierer, da Wirtschaftsliberalismus pur – ist nicht nur eine historisch weit zurückreichende Grundeigenschaft der deutschen Liberalen. Die Rolle der FDP im politischen System ist auch eine Folge des einzigartigen deutschen Sonderwegs in die kapitalistische Moderne. Beide sind eng miteinander verwoben. Begonnen hatten die deutschen Liberalen als Vertreter des „dritten Standes“ – des emporstrebenden Wirtschaftsbürgertums, das die Adelsvorrechte und die des Klerus mehr und mehr als unzweckmäßig, einengend und unzeitgemäß empfand. Anders als die Demokraten der 1948er-Revolution, deren Basis vor allem Kleinbürger, Handwerker, Arbeiter sowie Angehörige der Intelligenz waren, vertraten die Liberalen vorrangig wirtschaftliche Aufsteiger sowie gemäßigte Reformer aus den Reihen der Staatsbürokratie. Folgerichtig war nicht eine politische Neujustierung ihr Ziel, sondern vor allem die Abschaffung wirtschaftsbehindernder Einschränkungen und Grenzen. Die Melange, die Fortschrittspartei und Nationalliberale mit dem Bismarck-Regime eingingen, prägte das Verhalten der deutschen Liberalen auch in der Zukunft. Vor und während des Ersten Weltkriegs traten Liberale großteils als Kriegsbefürworter in Erscheinung, zu einem nicht unwesentlichen Teil gar als Parteigänger der Alldeutschen. In der Weimarer Zeit spalteten sich die Liberalen auf in einen demokratischen Zweig, der bereit war, sich auf das demokratische Experiment einzulassen und einen nationalliberalen, der diesen Weg lediglich unter Vorbehalten mitging. Mit dem geläuterten Zweckdemokraten Gustav Stresemann stellte diese konservativ-wirtschaftsliberale Richtung immerhin den wohl bekanntesten Außenminister der Weimarer Republik.

Auch die neugegründete FDP war nach 45 vor allem für Skandale gut. So etwa für die Naumann-Affäre. Was war geschehen? Altnazis hatten mittels organisierter Parteieintritte – vor allem in Nordrhein-Westfalen – versucht, die FDP für ihre Zwecke zu kapern. Der Unterwanderungsversuch scheiterte an der Intervention der britischen Besatzer; weitere Konsequenzen hatte die Affäre nicht. Ende der 1960er-Jahre hatten die Liberalen ihren zweiten Frühling. Anders als die in ihren antikommunistischen und ständischen Traditionen erstarrte CDU legte sie einer Modernisierung der westdeutschen Gesellschaft sowie der Entspannung des Verhältnisses mit den Warschauer-Pakt-Staaten keine Knüppel in den Weg. Als musikalische Zugabe lieferte ihr Parteivorsitzender die wohl peinlichste Schallplattenaufnahme der 1970er. Der Rest der Geschichte ist bekannt. Seit den frühen 1980ern fungiert die Partei als zuverlässiger Mehrheitsbeschaffer der Konservativen. Bliebe die Frage, wie die deutschen Liberalen das liberale Kernanliegen gelöst haben: die Absetzung des Adels. Man muss nicht an Otto Graf Lambsdorff denken, um zu dem Resümee zu kommen: vor allem durch freundliche Umarmung. Allerdings: Die Tatsache, dass – anders als in Frankreich, Italien und anderen Ländern – ein Bruch mit der alten Feudalklasse nie ernsthaft in Erwägung gezogen wurde, betrifft die anderen Parteien des deutschen Parteiensystems ebenso. Folge: Das „liberale“ Geld – das der ehemaligen Emporkömmlinge und Systemmodernisierer – hat sich nicht durchgesetzt. Sondern mit dem alten Kapital der langsam in den Hintergrund tretenden Ständegesellschaft vermischt, verheiratet oder sonstwie verbandelt.

Eine Folge dieser „Erfolgsgeschichte“: Aller demokratischen Fortschritte ungeachtet hat es einen Bruch mit der Klasse der Junker, Großbesitzer sowie sonstigen Geburtsbevorteilten nie gegeben. Politisch firmieren Restbestände des Adels ebenso wie das Bürgertum im engeren Sinn unter dem Label „Bürgertum“. Letzteres vertritt auch die CDU. Allerdings mit der Einschränkung, dass sie mehr Staatspartei ist und von daher mehr die Gesamtinteressen des Staates im Auge hat als die FDP. Bürgerliche Aufsteigerschichten werden auch von den beiden anderen Systemparteien vertreten – der SPD und den Grünen. Die SPD ist traditionell zwar stärker auf klassische Kleinbürgerschichten ausgerichtet sowie Angehörige der noch abgesicherten Facharbeiter-Belegschaften. Als Partei der Staatsbürokratie (und der darin arbeitenden Beamten) ist sie jedoch ähnlich staatsnah wie die CDU – und staatsnäher als die Grünen. Deren Kernanhängerschaft wiederum rekrutiert sich zwar ebenfalls überdurchschnittlich stark im Sektor der Staatsbeschäftigten. Hinzu kommen allerdings klassische Selbständige sowie – Hiwi-Personal und untere Hierarchieebenen hier abgezogen – jede Menge Anhänger in den Medien- und Dienstleistungsberufen. Fazit: Was die soziale Stellung der Anhängerschaft angeht, sind die Grünen näher bei der FDP als bei CDU oder SPD. Während die Grünen neue, dynamische Aufsteigerschichten repräsentieren (ähnlich wie die Liberalen der ersten und zweiten Generation), sammelt sich um die FDP das bereits etablierte Geld- und Sozial-was-darstellen-egal-wie-Kapital. Nicht immer, nicht ausschließlich (wozu, wenn es Stimmensplitting gibt?), aber im Endeffekt recht kontinuierlich und effektiv.

Fazit: lieber nicht

Bearbeiten

Wie werden die Kernschichten des Geldbürgertums – die Speckgürtel um Hamburg, im Berliner Umland oder im Taunus nördlich der EZB-Bankenmetropole Frankfurt am Main – im September 2013 stimmen? Was wird sie bewegen, welche Fragen umtreiben? Und wie wird die FDP den widersprüchlichen, an sie gerichteten Erwartungen gerecht? Sicher – neben den klassisch wirtschaftsliberalen versucht die Partei verstärkt auch „sozialliberale“ Signale zu senden. Als „sozialliberales Gewissen“ der FDP tingelt beispielsweise Ex-Justizminister Gerhart Baum verstärkt durch die einschlägigen Talkformate. Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger versucht sich derweil in Sachen Datenschutz zu profilieren. Ein weiteres Vorhaben von ihr dürfte – eventuell, vielleicht – im nächsten Jahr Gesetzespraxis werden: die Verkürzung des Karzers für Insolvenzschuldner von derzeit 6 auf 3 Jahre. Einerseits bewegt sich die verringerte Frist zwar vorsichtig an die für Schuldner weitaus kommoderen Verhältnisse in den deutschen Nachbarländern heran. Das Kleingedruckte der neuen Reform – in den Medien wie üblich kaum oder gar nicht Thema – knüpft das Ganze allerdings an Bedingungen. Bedingungen, die dafür sorgen, dass im Endeffekt wohl lediglich ein paar Tausend FDP-nahe „First-Class-Schuldner“ von der Gesetzesveränderung profitieren. Ein Paradelehrstück ist dieses eher randständig gehandelte Thema letztendlich für alle Systemparteien: Man tut, als brächte man eine großartige Reform zuwege. Hinter den Kulissen jedoch dingst man die Dinge so hin, dass entweder alles beim Alten bleibt. Oder man beschließt eine Verschlechterung und verkauft den Wähler(innen) diese als Verbesserung.

Um die Erfolgschancen der FDP zu erörtern, ist ein Blick auf die Wahlkampf-Sachfrage dieses Wahlkampf-Sommers ganz aufschlussreich: Steuern runter, Steuern wie gehabt, oder Steuern hoch? „Steuern runter“ ist – das kann nur wenig überraschen – auch dieses Mal ein Kernanliegen der FDP. Die CDU hält es im Wesentlichen mit „Steuern wie gehabt“, verspricht in ihrem Programm allerdings „Kirchhof light“ – die ein oder andere Vereinfachung im Steuerrecht. Grüne und SPD hingegen haben sich auf Steuererhöhungen festgelegt – ein Punkt, zu dem sie ohne Gesichtsverlust kaum noch auf Abstand gehen können. Zwar wird nach Wahlen wenig so heiß gegessen, wie es im Wahlkampf gekocht wurde. Um Vermögenssteuer, Bankenabgaben und ähnliche Schmerzen zu umgehen, kann es jedoch gut sein, dass eine kritische Masse von Anlegern erneut auf die Option „liberal“ setzt. Nicht als Grundsatzentscheidung. Wahrscheinlich nicht mal als entschiedenes Votum für die Fortführung von Schwarz-Gelb. Sondern als sinnvolle Klassen-Investition in das, was dem Bürger und der Bürgerin das Wertvollste ist – das Geld. --Richard Zietz 18:09, 18. Jul. 2013 (CEST)



It’s Wahltime, Baby. Ebenso wie in anderen westlichen Ländern treten zur deutschen Bundestagswahl im wesentlichen zwei Formationen an – eine konservativ-bürgerliche und eine sozialdemokratische, vorgeblich stärker an den kleinen Leuten orientierte. Flankiert wird die Chose von kleineren Parteien. Als dritte Kraft macht vor allem der Rechtspopulismus von sich reden. Bezieht man die Entwicklungen in der westlichen Führungsmacht USA mit ein, kann man sagen, dass die Rechtspopulisten die Lücke, welche die klassischen faschistischen Bewegungen der 1930er-Jahre hinterlassen haben, mittlerweile weitgehend ausfüllen. Was sonst? Deutschland geht es gut. So gut, dass sich die klassischen Bürgerlichen seit einiger Zeit als die besseren Sozialdemokraten in Szene setzen.

SPD historisch: Pleiten, Flopps & ein Zufallstreffer

Bearbeiten

Why that? Die simple Wahrheit ist die: Christdemokraten und Liberale mögen korrupt sein, Armuts- und Arbeitslosenstatistiken manipulieren, Klientenwirtschaft zugunsten der Reichen und Superreichen betreiben, das Rad der Zeit hier und da erfolgreich anhalten und Südeuropäer wie die Masse der hiesigen Bevölkerung mit Spardiktaten, Lohn- und Sozialdumping traktieren. Der wahre Erfolg der CDU basiert allerdings auf der klassischen Schwäche ihres traditionellen Hauptgegners: dem vorauseilenden Gehorsam, welchen die deutschen Sozialdemokraten gegenüber den herrschenden Eliten stets an den Tag legten. Gemessen an ihrem Anspruch ist die Sozialdemokratische Partei Deutschlands die wohl größte Luftnummer der deutschen Geschichte. Die historischen Highlights ohne Weichzeichnungsschleier: Weltkrieg Eins unterstützt, im Zug dieser Vaterlandsverteidigung zeitweilig sogar den Cheftheoretiker des revisionistischen, rechten Parteiflügels (Bernstein) aus der Partei rausgeekelt, 1918 bis 1923 zusammen mit Nazi-Vorläufern und Reichswehr die „Kozis“ bekämpft, 1930 bis 1933 Hände in den Schoß gelegt und jede rechte Regierung unterstützt, die gerade da war, 1933 – die Sozis hätten zwar eine Militärdiktatur unter Beteiligung der Nazis unterstützt, die Nazis wollten jedoch lieber alleine und ohne Sozis – kurz die gesinnungsethische Fahne rausgehängt, 33 bis 45 in der inneren Emigration auf die Befreiung gewartet, danach wiederaufgebaut und sich als die Helden des besseren Deutschland in Szene gesetzt.

Sicher – die Darstellung ist ungerecht, einseitig sogar, selektiv. Ein einziges Mal immerhin hat die SPD definitiv nicht Mist gebaut. Mitte der 1960er bis in die 1970er hinein setzte die SPD eine soziale Nivellierung in Gang, deren Langzeitfolgen zeitweilig geradezu grandios waren. Ein einziges Mal in ihrer Geschichte agierte die SPD mit den skandinavischen Bruderparteien, die ihre Gesellschaften zügig umgestalteten, halbwegs auf Augenhöhe. Die Bildungsreformen der 1960er, die Modernisierung des Schul- und Ausbildungssystems führte dazu, dass auch in Westdeutschland Kinder aus der Arbeiterschicht aufsteigen konnten. Letzten Endes hat diese Partizipation zwar zum Entstehen einer Konkurrenzpartei, der Grünen, geführt. Für zwei, drei Jahrzehnte allerdings hat die SPD eine bis dato unbekannte Egalisierung der deutschen Gesellschaft mit ins Rollen gebracht. Ohne Bildungsreform, ohne Öffnung der sozialen Schließungen keine Eigenheime, keine Arbeiterkinder auf Universitäten, keine Sexwelle, kein Urlaub auf Malle und schließlich keine soziale Unterfütterung jener Sozialbewegungen, die das Leben in den 1970ern und 1980ern vergleichsweise kommod machten. Kommod? Verglichen mit heute, waren sie interessant. Ein sozialpolitisches Laboratorium – hochexperimentell auch in kultureller Hinsicht. Was natürlich nur jemand verstehen kann, der iPod und iPad nicht mit Kultur selbst verwechselt.

Ein alter Film, in flowerpowerigen Siebzigerjahre-Pastellfarben. Die Generation, die eine andere Kultur noch kennengelernt hat, geht langsam auf die Rente zu. Großteils verrottet sie in den Dschungelniederungen der neuen deregulierten Sozialwelt – falls sie nicht das Glück hatte aufzusteigen und im Idealfall der neuen rotgrünen Politelite angehört. Bismarck hat die Sozialversicherung eingeführt, die SPD hat sie wieder genommen. Die rotgrüne Regierung unter Gerhard Schröder hat nicht nur Hartz-IV und weitere Agenda-2010-Gesetze verabschiedet. Rot-Grün hat die neoliberale Büchse der entfesselten Märkte geöffnet. Als Krönung ihrer Regierungs-Ägide hat Rot-Grün darüber hinaus auch die sozialen Lebensverhältnisse in Deutschland einer beispiellosen Deregulierung unterworfen. Das Sozialexperiment Rot-Grün mag sich für die Beteiligten persönlich ausgezahlt haben (sofern man ein durch und durch spießbürgerliches Leben wie etwa das von Katrin Göring-Eckardt als erstrebenswert ansieht). Bis weit in die arbeitende Mitte hinein haben die rotgrünen Sozialreformen allerdings Verwerfungen mit sich gebracht, die mit denen, welche die Nazis in den 1930ern verwirklicht haben, durchaus vergleichbar sind. Die Krise ab 2008 sowie die damit einhergehende Polarisierung zwischen Arm und Reich mag das alles befördert haben, zusätzlich verstärkt und vertieft. Die Grundlagen der aktuellen neoliberalen Politik haben allerdings Gerhard Schröder, Joschka Fischer & Konsorten gelegt.

Agenda & Co.: Reden wir nicht drüber

Bearbeiten
Die SPD zu besseren Zeiten. Mitte: Annemarie Renger, rechts: Herbert Wehner

Die neue, nivellierte und durch Rot-Grün verursachte Mittelstandsgesellschaft ist letzten Endes der tiefere Grund für die verkehrten Wahlkampfkonstellationen im EU-Wirtschaftsmotor Bundesrepublik Deutschland. Schwarz agiert – nur wenig behelligt von den gelben Marktradikalen – als klassisch sozialdemokratische Partei. Rot schickt einen Kanzlerkandidat ins Rennen, der gar nicht erst den Anschein erweckt, wirklich Bundeskanzler werden zu wollen. Die Grünen machen ebenfalls in versteckte Bewerbung. Fazit: Die Opposition bewirbt sich in Wirklichkeit für eine Stelle als zukünftiger Juniorpartner der derzeitigen Regierungspartei. Diese Verhältnisse kann man beklagen. Allerdings führt kein Weg daran vorbei zu konstatieren, dass dieses Allparteien-Bündnis, diese Vervolksgemeinschaftung unter einem demokratischen Etikett von einer Mehrheit im Land getragen wird – oder jedenfalls von einer medial gut aufgestellten, gut vernetzten und gut organisierten Minderheit.

Sicher – auch der Mittelstand wird durch die Krise kräftig in Mitleidenschaft gezogen. Objektiv würde sich eine Politik, welche die Dominanz der 0,1 Prozent Superreichen bricht und eine neue gesellschaftliche Balance einzieht, auch für große Teile des Mittelstandes rentieren. Allerdings würde eine solche Politik das gesellschaftliche Deutungsmonopol der Mittelschichten in Frage stellen. Klassentechnische Vielfalt, eine lebendige Gesellschaft, Experimente gar – für den Kern der obrigkeitsorientierten, staatshörigen deutschen Mittelschichten scheinen derartige Verhältnisse der nackte Horror zu sein. So setzen die vier systemtragenden Parteien und Doppelparteien letztlich nicht auf eine Schließung der sozialen Schere, sondern auf eine kompensative Politik, die das Gegenteil bewirkt: die zunehmende Ausgrenzung und Dämonisierung des unteren gesellschaftlichen Drittels. Deutschland bietet auf diesem Gebiet eine Situation, die man wahlweise als exotisch oder auch paradox bezeichnen kann: Ein Kontroll- und Bürokratiestaat – allerdings auf sozial (noch) vergleichsweise hohem Niveau. Keine Trash- und Multikulti-Kultur wie in den USA, welche den herrschenden Sozialdarwinismus menschlich abfedert – allerdings kommodere Sozialverhältnisse. Kein Savoir vivre mit siesta, vino und amore – dafür jedoch mehr Cash, weniger Arbeitslose sowie, etwas Schmerz muß sein, mehr Leistungsdruck. Last but not least: Kein skandinavisches Sozialparadies – allerdings auch keine russischen Verhältnisse. Die schlechte Nachricht innerhalb der guten: Es bleibt im wesentlichen wohl so, wie es ist. Unabhängig davon, welche Konstellation nach dem 21. September die Regierung stellt.

Fazit: lieber nicht

Bearbeiten

Wenden wir daher den Blick auf die Gegenwart. Symptomatisch für den Zustand der SPD in den letzten Jahren war vor allem das Herumgeeiere im Gefolge der von ihr beschlossenen Agenda-Gesetze. Keine Partei hat mehr deswegen geblutet (im Unterschied zu den Grünen, denen Hartz und Kriegseinsätze grosso modo neue großstädtische Yuppie-Wählerschichten erschlossen haben). Nichtsdestotrotz sind Lehren, die aus dem Debakel gezogen wurden, nicht einmal im Ansatz erkennbar. Im Gegenteil: Mit dem Durchdrücken eines nationalkonservativen Bundesprädidentschaftskandidaten gegen einen gemäßigt bürgerlichen, liberalen Amtsinhaber hat die SPD erneut unter Beweis gestellt, dass sie keinerlei Probleme damit hat, die Union nötigenfalls rechts zu überholen. Doch wenden wir den Blick ab von Historie, glücklosen Kandidaten, halbherzigem Mit-den-Ohren-Gewackel nach dem Motto „Die anderen im Bundesrat habens vergurkt“ und schauen wir einfach ins aktuelle Wahlprogramm der Partei. Irgendwelche Worte zum größten Desaster in der neueren Parteigeschichte? Selbstkritisch, oder auch nur rechtfertigend? Kommen nicht vor. Doch nicht nur Hartz-IV ist für die schöne neue Welt der SPD kein Thema mehr. Auch der rosige Blick nach vorn bietet lediglich halbherzige Allgemeinplätze und Platitüden. Die SPD will, laut ihren derzeitigen Versprechungen, mehr für die Bildung tun. Sowie hier und da – vielleicht, eventuell – die Steuerschraube etwas anziehen. Fazit: Mehr politisches Profil hat sogar die CDU.

Was wird aus der SPD? Was wird sie nach dem 21. September tun? Ehrliche Antwort: Wir wissen es nicht. In ihrem vorauseilenden Gehorsam changiert sich die SPD derzeit zu Tode. Einerseits gibt sie ihr Bestes, die strategische Umorientierung umzusetzen, die ihr Intellektuelle wie etwa der Parteienforscher Franz Walter vorschlagen: Abschied nehmen von den Unterschichten und sich als knallharte Interessenpartei der sozialen Aufsteiger konsolidieren. Andererseits wird sie von Panikattacken geschüttelt. So berichtete der Spiegel im Juli, dass die Partei in ihrer Not Vor-Ort-Hausbesuche starten will, um potenzielle Nichtwähler – die klassische Hartz-Klientel also – zur Stimmabgabe für die Sozialdemokraten zu bewegen. Teams also, die den Ausgepauperten auf die Pelle rücken und Überzeugungsarbeit leisten sollen. Hoffen wir, dass es bei legitimen (wenn auch vermutlich recht aussichtslosen) Überzeugungsversuchen bleibt. Und die Sozen-Teams – der Anteil von Staatsbürokratie-Angehörigen in ihren Reihen ist hoch – nicht der Versuchung erliegen, im ein oder anderen Fall etwas nachhaltiger Druck auszuüben.

Fazit: Kein Mensch weiß, was die SPD will. Daher ist es schwer, irgendwas über diese Partei zu schreiben. Sofern man kein wohlfeiles Steinbrück-Bashing betreiben will. --Richard Zietz 14:53, 11. Jul. 2013 (CEST)



Merkel wählen – warum nicht? Uli Hoeneß wird’s (sofern sein aktuelles Steuerverfahren es zulässt) sicher tun. Fußballgott Bastian Schweinsteiger vermutlich ebenso. Als großer Fan von Merkel hat sich neuerdings auch DJane Marusha geoutet. In einem Interview mit der „Welt“ hat die die vom Covern bekannter 1930er-Jahre-Schlager zehrende Erfinderin des Techno nicht nur kundgetan, dass sie Merkel mag. Nein, Merkel sei auch das Beste für uns alle. So einfach kann Demokratie funktionieren.

Das Plus der CDU: Es könnte schlimmer sein

Bearbeiten

Sehen wir uns die Lage aus der Blickwarte von unten an. Seit vier Jahren hat die Bundesrepublik Deutschland eine Regierung aus Christdemokraten und Liberalen. Zuvor regierte die Union mit Unterstützung der Sozis. Personalia: Der Finanzminister dieser großen Koalition ist nunmehr Kanzlerkandidat der SPD. Resümee: Das neue Spitzenpersonal ist das alte. Drei Dinge sind an Angies Regierungszeit sicher bemerkenswert. Punkt eins: die bedächtige und im Ergebnis nachhaltige Art, mit der sie beim Regulieren der Bankenkrise und der daraus resultierenden europäischen Finanzkrise agiert hat. Stimmungsmäßig wird dieser Haupt-Kriegsschauplatz von zwei Nachrichten bestimmt. Erstens: Merkel hat – zusammen mit der Troika und den anderen europäischen Institutionen – das Schiff EU so weit auf Kurs gehalten. Zweitens: Deutschland und den Deutschen geht es vergleichsweise gut.

In der Krise ist Beständigkeit die Top-Meldung. Doch sie wird von weiteren unterfüttert. CDU-Faktor Nummer zwei ist die bedächtige, im Ergebnis dafür umso nachhaltigere Modernisierung der ehemaligen westdeutschen Konservativen. Sicher, Merkel hat Feinde abserviert und sich damit Feinde gemacht: den ehemaligen hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch beispielsweise, oder den einstigen neoliberalen Einpeitscher Friedrich Merz. Beide stehen aktuell im Abseits. Auf der Plus-Seite steht die behutsame Angleichung einer konservativen, ländlich bestimmten Honoratiorenpartei an die Lebensrealitäten dynamischer, urbaner Wählerschichten. Eine Modernisierung, für die symptomatisch die neue CDU-Frauenriege steht – allen voran Arbeits- und Sozialministerin Ursula von der Leyen. Möglich, oder sogar wahrscheinlich, dass das ständige Übergehen des traditionskonservativen Parteiflügels in Gestalt der AfD zurückschlägt. Möglich jedoch ebenso, dass die Integration der Traditionskonservativen in den neoliberalen Konsens der Neue-Mitte-Parteien ohne größere, dauerhafte Frakturen vonstatten geht. Die wahre Antwort auf diese Frage hängt vom weiteren Verlauf der Krise ab.

Dritter Punkt pro Merkel ist der Kanzlerinnenfaktor. In Bezug auf die anstehende Bundestagswahl ist damit sicher nicht nur Merkels moderierender, ausgleichender Politikstil gemeint – die Strategie, möglichst wenige Angriffsflächen zu bieten. In der Krise tendieren die Menschen sowieso eher zur aktuellen Regierung – unabhängig von der Person. Sicher wird das konkurrierende Lager, Rot–Grün, noch das ein oder andere Wahlkampfgeschütz auffahren. Aktuell zeichnet sich jedoch bereits jetzt ab, dass die Frage „Steuererhöhungen oder nicht“ inhaltsfüllendes Hauptthema sein wird. Da das deutsche Steuersystem eh kein Mensch versteht, sind noch mehr Politikverdrossenheit sowie sich gegenseitig dauerübertönende Politexperten in den üblichen Talkformaten so sicher wie das Amen in der Kirche. Von gesellschaftlicher Perspektive – keine Spur. Derartige Flausen werden den Parteien „down and out“ überlassen – der Linkspartei und den Piraten. In Bezug auf die Koalition nach dem 21. September gilt es darüber hinaus als sehr unwahrscheinlich, dass eine der antretenden Formationen das Rennen machen wird. Die Wetten stehen; ganz hoch im Kurs aktuell: Schwarz-Grün, oder eine Neuauflage der Großen Koalition. Peer Steinbrück? Am The Day After sicher kein Thema. Seine Partei wird nach dem Wahldebakel die Scherben zusammenkehren und den nächsten Nobody aufstellen. Steinbrück? Wird weiter das tun, was er am besten kann – gutbezahlte Vorträge bei Bankern halten.

Merkel wählen – warum nicht? Konkreter gefragt: Warum sollte der Hartz-IV-Empfänger, die alleinerziehende Mutter, die Patchwork-Family mit vier oder fünf Jobs an der Backe und Miesen in der Haushaltskasse am Monatsende, die minijobbende Putzhilfe, der im Stahlbad des deutschen Behördendschungels gehärtete Ich-AGler, die Überschuldete, der insolvenzregulierte Ex-Kleinunternehmer oder der/die sonstwie von den Sozialversicherungssystemen Ausgemusterte nicht Merkel wählen? Wo von Rot-Grün nicht mehr zu erwarten ist als neue Agenden, die den Proleten und Proletinnen im Land das Leben weiter vermiesen? Sicher – die Sozialpolitik der Schwarzgelben ist katastrophal. Kulturell hat sich der – bereits unter Rot-Grün einsetzende – Furor der neuen Spießer verfestigt. Der Pesthauch des „neuen Biedermeiers“, den nunmehr sogar die mitbeteiligten Mainstreammedien konstatieren, hat sich wie Mehltau über die deutsche Gesellschaft gelegt. Wichtigste Kennzeichen: Sozialdünkel, Konsum, Entpolitisierung, Einzelkämpfertum und Fünfzigerjahre-Values. Demokratiealarm ist ebenfalls angesagt. Für Demokratiealarm sprechen nicht nur die brutalen Polizeieinsätze gegen S-21-Gegner in Stuttgart sowie die faktischen Demonstrationsverbote gegen die Anti-Banken-Proteste des Blockupy-Bündnisses 2012 und 2013 in Frankfurt am Main (2012 übrigens unter Ägide der faktischen Allparteien-Koalition im Frankfurter Römer). Istanbul ist längst auch in Deutschland Realität – wenn auch, vorerst, nur ein Stück weit.

Die Demokratie in Zeiten der EU-Krise

Bearbeiten
Griechenland unter der EU-Schuldenkuratel: Demonstration in Patras 2011

„In Deutschland gibt es keine Krise. In Griechenland – das ist Krise.“ Zwar verdichten sich die Anzeichen, dass auch Deutschland zunehmend in postdemokratische Zustände abdriftet. Nichtsdestotrotz scheint der Relativ-alles-paletti-Satz (er stammt übrigens von einem griechischen Mitbürger) zu stimmen. Und: Wenn von der Alternative schon nichts Besseres zu erwarten ist – warum dann nicht gleich das Original wählen? Vielleicht deswegen nicht, weil auch im güldenen Germany die Kleinen die Zeche bezahlen für den Reichtum der großen Fische. Und insbesondere deswegen nicht, weil die EU-Finanzkrise großteils von Merkel-Deutschland mitverursacht ist. Jahrelang wurden die südlichen Länder genötigt, ihre Märkte für Produkte „made in Germany“ zu öffnen. Ebenso für deutsches Geld, Kredite deutscher Banken. Folge: Aktuell ist Deutschland nicht Betroffener, sondern Profiteur der Krise in den Mittelmeer-Anrainerländern. Die Schuldengelder und Kreditzinsen, die unter dem Auflagendruck von EU, EZB und internationalen Banken generiert werden, fließen direkt zurück in die Säckel von Deutscher Bank, internationalen Hedge Fonds und sonstigen Gruppen. Die sich – nichts ist mittlerweile profitabler – auf das Spekulieren gegen staatliche Währungen versiert haben.

Ebenso schlimm zu veranschlagen wie die von Merkel, Juncker & Co. durchgedrückte Austeritätspolitik sind die in Kauf genommenen Kollateralschäden in Sachen Demokratie. Um Deutschland neo-wilhelminische Töne vorzuwerfen, muss man sich nicht auf den rabautzigen Kandidaten einer Partei einschießen, die in ihrer 150jährigen Geschichte vor allem eins gut gelernt hat: vorauseilenden Gehorsam zu praktizieren. Merkel und Schäuble haben versucht, die demokratischen Institutionen in Griechenland auszuhebeln. Dass 2012 überhaupt eine Wahl stattfand, ist lediglich der Tatsache zu verdanken, dass der Vorschlag, die Wahlen auszusetzen, nicht mehr vermittelbar war – umgesetzt, hätte er das Abgleiten des Landes in bürgerkriegsähnliche Zustände vermutlich beschleunigt. Nach der widerwillig akzeptierten Parlaments-Neuwahl brachten die EU-Oberen jene Parteien zu einer (Zwangs-)Koalition zusammen, die allgemein für das Debakel in ihrem Land verantwortlich gemacht werden. In Italien dieselbe Chose – mit dem Ergebnis, dass gegen das Votum der Bevölkerung ein Technokrat von EU-Gnaden installiert wurde.

Längst sind nicht nur die „PIGS“-Länder Ziel der deutschdominierten EU-Politheuschrecken. (Zur Erinnerung: Der wohlstandsrassistische Begriff „PIGS“ – englisch für „Schweine“ – war eine Zeitlang das Modewort der deutschen Mainstreampresse schlechthin – zwecks Attributierung der vorgeblich faulen Südländer, die nicht zu wirtschaften verstehen.) Frankreich unter dem etwas glücklos agierenden François Hollande steht als letzte halbwegs auf Augenhöhe agierendes Land seit einiger Zeit ebenfalls im Visier. Lange Rede kurzer Sinn: Man greift nicht zu kurz, wenn man konstatiert, dass Merkel-Deutschland innerhalb der EU eine aggressiven, schroff polarisierenden im Ergebnis neoimperialistischen Kurs fährt. Die Folgen: Mental gesehen hat die europäische Idee längst beträchtlichen Schaden genommen; ob dieser (noch) reversibel ist, steht in den Sternen. Ebenso gibt es klar identifizierbare Winner und Loser dieser Politik. Loser – das sind die Menschen im Süden (eventuell demnächst auch in Frankreich, in Irland, in …). Sieht man das alles nicht durch die wohlstandschauvinistisch getönte deutsche Anlegerbrille, kommt man nicht umhin, Verständnis zu haben für den Hass, den die exportführende Nation mittlerweile auf sich zieht. Merkel in Nazi-Uniform – wer sich bei derartigen Bildern wundert, blendet geflissentlich das historische Trauma aus, das sich in Gestalt der aktuellen Geld- und Auflagenpolitik perpetuiert.

Fazit: lieber nicht

Bearbeiten

Merkel wählen? Kreuz bei der CDU? Summa summarum eine schlechte Idee. Auch wenn Rot-Grün sozialpolitisch schlimmer erscheinen mag. Es stimmt: Die Konservativen in Deutschland zeichnet nach wie vor ein gewisses Unbehagen aus vor den unteren Schichten, vor potenziellen Aufständen, Streiks, Unruhen. Weswegen man gemeinhin eher vorsichtig agiert. Anders als die weitaus staatsbürokratienäheren Exponenten im Oppositionslager, denen eine Wohlfahrts- und Bevormundungsdiktatur unter neoliberalen Vorzeichen – siehe Agenda-Gesetze, siehe „Otto-Kataloge“ – durchaus zuzutrauen ist. Europäisch sieht’s anders aus. Hier stürzt die Politik von Merkel & CDU ein Land nach dem anderen in den Abgrund von Krise, Verarmung und politischer Entmündigung. Nach dem Motto: „(deutsches) Geld in die Taschen deutscher Eigner“ nimmt sie die Entfremdung vom Rest Europas billigend in Kauf. Fern noch, aber trotzdem wartend, stehen am Horizont die apokalyptischen Reiter. Krieg zum Beispiel. Gemeint sind nicht „unsere“ aktuellen Kolonialkriege – in Afghanistan, im Kosovo, am Horn von Afrika. Was wird die Zukunft bringen? Wirtschaftskriege – mit China (zumindest seitens der Mainstreampresse diesbezüglich schon länger unter Beschuss), mit Brasilien vielleicht, oder Indien? Wahlen? – Da ein Wirtschaftstheoretiker wie John Maynard Keynes mittlerweile nur noch fürs Feuilleton gut ist und die Prosperitätsperiode nach dem Zweiten Weltkrieg für nostalgisches Angedenken, ist man gut damit beraten, sich perspektivisch nach einer Außerparlamentarischen Opposition umzusehen. Blockupy ist sicher ein guter Anfang. Ein Vorbote. Gut möglich, dass nach dem arabischen Frühling irgendwann auch ein europäischer Frühling ins Haus steht. --Richard Zietz 16:51, 19. Jun. 2013 (CEST)



Einwanderungskontingente für auswanderungswillige Deutsche!

Bearbeiten

Sehr geehrter Monsieur Hollande,
sehr geehrter Signore Letta,
sehr geehrter Senor Rajoy,
sehr geehrter Herr Rutte,
sehr geehrter Herr Maurer,
sehr geehrte Frau Thorning-Schmidt,
sehr geehrter Herr Tusk,


Die Tatsache, dass in der Bundesrepublik Deutschland im Oktober dieses Jahres Wahlen anstehen, ist ihnen sicher geläufig. Für Sie als amtierende Regierungschefs – in Frankreich, Italien, Spanien, den Niederlanden, der Schweiz, Dänemark und Polen – wird sich durch den Wahlausgang voraussichtlich wenig ändern. Auch die zwischenstaatlichen Beziehungen zwischen Ihrem und unserem Land wird das Ergebnis – so ist jedenfalls zu hoffen – wenig beeinträchtigen. Wenig Veränderung wird es auch in Deutschland selbst geben – und das unabhängig von der Tatsache, welche Parteienkonstellation nach der Wahl die Regierungsgeschäfte übernimmt.

Der Grund für diese persönliche Ansprache ist der, dass auch in Deutschland die Anzahl der Menschen wächst, welche die deutsche Innen- und Außenpolitik mit wachsender Sorge betrachten. Dies betrifft sowohl die innereuropäische Politik der Regierung Merkel als auch die gesellschaftliche Polarisierung, welche sich in Deutschland seit längerer Zeit verfestigt. Auf der einen Seite ist der Staat, in dem ich lebe, führende Exportnation der EU. Darüber hinaus auch politisch stark tonangebende Kraft. Die Bevölkerung in diesem Land – jedenfalls der Teil, der nicht auf der Sonnenseite aufgewachsen ist – erlebt allerdings Tag für Tag, welche gesellschaftlichen Probleme, Langzeitschäden und Deformationen die Politik in unserem Land nach sich zieht.

Die wichtigsten Punkte kurz skizziert: Das Exportvolumen der deutschen Industrie (vor allem Automobil- und Hochtechnologie) erscheint von außen gesehen zwar beeindruckend. Gesamtgesellschaftlich steht der „deutsche Koloss“ allerdings auf tönernen Füßen. Der High-Tech-Sektor ist schlecht unterfüttert. Einem personell schrumpfenden, auf High-Tech-Industrie beruhenden Kernsektor steht ein stetig weiter ausmäandernder staatlicher Bürokratiesektor gegenüber. Der große Rest – abseits des großen Geldes und irgendwo dazwischen – ist zwar irgendwo existent. Allerdings bekommt er auf vielfältigste Weise die Botschaft vermittelt, dass er auf hinteren, nachrangigen Plätzen rangiert. Ergebnis: Die deutsche Gesellschaft ist zwar nach wie vor reich. Ebenso auch, wie die in Ihrem Land, vielfältig und ausdifferenziert. Die Disparitäten in vielen Bereichen steigen allerdings deutlich. Eine wesentliche Auswirkung ist eine stetig anwachsende soziale Spaltung und Ausgrenzung – nach Meinung vieler Kritiker politisch gewollt oder zumindest billigend in Kauf genommen. Von seinen Hightech-Maschinen abgesehen, ist Deutschland erstaunlich wenig exportfähig. „Exportierfähig“, notfalls über Brüssel hinaus, wären allenfalls seine Verwaltungskorps. Vielleicht noch seine zahlreichen Juristen, Unternehmensberater und PR-Agenten. Aber von denen haben Sie sicher selbst genug. Darüber hinaus ist es ein Allgemeinplatz, dass Rechts- und Unternehmensdienstleistungen allein keine Volkswirtschaft tragen. Von einer lebenswerten, prosperierenden Gesellschaft erst gar nicht zu reden.

Betrachtungen anzustellen über die Ursachen der sozialen Schere in Deutschland (und die neoliberale Politik, die meines Erachtens dazu geführt hat) würde an dieser Stelle zu weit führen. Folge ist allerdings, dass wachsende Teile der Bevölkerung beruflich und sozial gedeckelt, gesellschaftlich an den Rand gedrängt und mit administrativen, repressiven, zum Teil existenzvernichtenden Maßnahmen überzogen werden. Auch dort, wo die Zustände nicht so dramatisch sind, kann man sagen, dass Deutschland sein kreatives Potenzial eher brachliegen lässt oder behindert, als es zu nutzen. Das katastrophale Abschneiden unseres Bildungssystems bei den PISA-Studien ist Ihnen sicher bekannt. Auch was die Einhaltung mitunterzeichneter Bürger- und Menschenrechtsstandards anbelangt, berichten deutsche Medien zwar über die regelmäßigen Rügen seitens internationaler Institutionen wie zum Beispiel der UNO – allerdings vergleichsweise selten über eine Wende zum Besseren. Ein Beispiel, welches auch in Ihrer Presse Furore machte, ist leider symtomatisch für die derzeitigen Zustände in Deutschland: die Verwicklungen staatlicher Geheimdienste in die Verbrechen der rechtsextremen Terrorgruppe „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU).

Fazit: Deutschland hat sich, zumindest mittelfristig, für ein System der politisch gewollten Ausgrenzung und Bürgerrechts-Deckelung entschieden – für die Erfolgsformel „High-Tech plus Bürokratie plus EU-Führungsrolle“. Einfacher ausgedrückt: für die Durchhalteparole „Augen zu und durch“. Sicher sind die Verhältnisse in unserem Land vielerorts vergleichsweise kommod. Nichtsdestotrotz macht sich bei Millionen existenzielle Unzufriedenheit breit. Hunderttausende sitzen mittlerweile vermutlich auf ihren Koffern, sehen sich um, wägen bereits Optionen ab. Daher mein praktischer Vorschlag: Schaffen Sie in Ihren Ländern Einwanderungskontingente für auswanderungswillige Deutsche! Eine weitere Bitte: Eruieren Sie, ob die Klauseln Ihrer Asylgesetzgebung nicht erlauben, Bürgerinnen und Bürgern der Bundesrepublik Deutschland Asyl zu gewähren!

Sicher werden Sie sagen: Die vereinbarte Wohnort-Freizügigkeit ermöglicht auswanderungswilligen Bürgern auch so, sich in EU-Ländern bzw. der Schweiz niederzulassen und beruflich dort tätig zu werden. Das ist richtig. Aus der Sicht derjenigen, die solche Optionen abwägen, sind die bestehenden Regelungen allerdings unbefriedigend. Der erste Grund wird ihnen als Regierungschef Ihres Landes sicher nicht unbekannt sein: die „typisch deutsche“ und in den Folgen leider sehr gründliche Verfolgungswut unserer Sozialbürokratien. Folge: Deutsche Versicherungsträger, Fiskalbehörden sowie andere Ämter stellen Rentnern in Thailand] mittlerweile ebenso nach wie Auswanderern, die sich – beispielsweise auf Gomera – als Existenzgründer ein neues Leben aufgebaut haben. Gründe für den langen Arm des deutschen Gesetzes: in aller Regel Lappalien, Formalien und Bagatelldelikte – für deutsche Staatsdiener jedoch Anlass, bisweilen eine Verfolgung um die halbe Welt in Gang zu setzen (und Ärgernis in der halben Welt, diesen Ansinnen jeweils nachkommen zu müssen).

Was den Verfügungsanspruch über die eigenen Bürger anbelangt, gibt es durchaus Gründe für die Ansicht, dass derjenige der Bundesrepublik Deutschland mittlerweile ähnlich weitreichend ist wie der der ehemaligen DDR. Allerdings gibt es genügend positive Gründe, deutsche Einwanderer gezielt in Ihr Land zu laden. Deutsche, die mit der Option spielen, (für immer) wegzugehen, sind ideale Kandidaten: integrationswillig, in der Regel kosmopolitisch und tolerant eingestellt, gut ausgebildet, mit Improvisationsgabe gesegnet und von daher sicher eine Bereicherung für Ihre Länder. Ein weiterer Vorteil: Diese Menschen würden zu Ihnen als Staatsbürger kommen. Als Menschen, die einen Neuanfang wagen, wären sie sicher motiviert, mit Ihnen zusammen dazu beizutragen, die Vielfalt und Bürgerschaftlichkeit Ihrer Nationen zu erhalten und sie nach Kräften zu verbessern.

Was fehlt, ist ein Signal, eine freundliche Einladung. Warum Ihr Land? Frankreich hat eine reiche, stolze Erfahrung als Staatsbürgernation. Für die Vielfalt seiner Lebensentwürfe ist es weltweit bekannt. Ebenso die Bürgerschaftlichkeit der Niederlande sowie die sprichwörtliche Toleranz seiner Bürger und Bürgerinnen. Ähnliches gilt für die Schweiz – ein Land, das weitaus mehr aufweist als lediglich dubiose Bankkonten und Berge (wobei letztere allerdings wirklich phänomenal sind). An unserem kleinen Nachbarn Dänemark schätzen wir vor allem die unaufgeregte, freundliche Art seiner Bürger. Italia, Signore Letta: Ihr Land ist für viele von uns nicht nur die Wiege der Zivilisation (und, darüber hinaus, von guter Pasta). Die Improvisationskraft und Lebensfreude seiner Einwohner ist ein Vorbild, dass wir uns in unseren gemäßigten Breiten ruhig öfter nehmen sollten. Spanien hat einen beeindruckenden Weg hinter sich: von den bleiernen Jahren der Franco-Diktatur hin zu einem interessant-innovativen Land mit Menschen, die nicht nur für ihr sprichwörtliches Temperament, sondern auch für ihre Aufgeschlossenheit und Herzlichkeit berühmt sind. Mit Polen schließlich ist uns ein moderner Nachbar an unserer östlichen Grenze erwachsen. Beeindruckend finde ich nicht nur die Improvisationsgabe seiner Menschen, sondern auch ihren Humor sowie ihre wundersame Kraft, sich selbst in widrigsten Verhältnissen zurechtzufinden.

Aber: Nehmen die potenziellen Einwanderer Ihren Bürgern nicht die (sowieso knappen) Jobs weg? Die ehrliche Antwort: Jein. Im ein oder anderen Fall, konkret vor Ort, mag das sicher der Fall sein. Mittelfristig jedoch wird das Gros der von mir anskizzierten Personengruppe die Realwirtschaft ihres Landes weiter unterfüttern – etwa als Kneipier auf Fuerteventura, als Software-Spezialistin in Warschau, als Eventmanagerin in Amsterdam, als Krankenpfleger in Zürich, als Motorradladenbetreiber in Kopenhagen, als Bio-Landschaftsgärtnerin in Umbrien oder als Fliessenleger in Aix-en-Provence. Deutschland tut zwar so als ob. In Wirklichkeit benötigt es diese Menschen jedoch lediglich zu Abschreckungszwecken. Genauer: um die große Masse der Bevölkerung auf Linie zu halten. Und – tun sie uns allen einen Gefallen. Gemessen am Perfektionswahn deutscher Behörden sind die Biografien einiger Einwanderer vielleicht beanstandenswert. Rat daher, und durchaus auch aus politischen Gründen: Wagen Sie den Konflikt! Kündigen Sie die Auslieferungs- und Rechtshilfeabkommen mit Deutschland auf – oder beschränken Sie die Liste zumindest auf stichhaltig nachgewiesene Kapitaldelikte! In 99,9 Prozent aller Rechtshilfeersuchen geht es um Bagatellen, um Akten in Deutschland und weiter nichts. Falls Ihre Länder doch noch in größere Turbulenzen mit der neuen EU-Supermacht geraten sollten: Viele derjenigen, die in ihrem Land eine neue, dauerhafte Heimat gefunden haben, wären notfalls sicher bereit, zusammen mit ihren neuen neuen MitbürgerInnen ihren staatsbürgerlichen Beitrag gegen drohende „Kavallerieattacken aus Fort Yuma“ zu leisten.

Vor 300 Jahren wurden überall in Europa Hugenotten verfolgt. Einer der ersten Staaten, der Hugenottten gezielt Zuflucht bot, war das kommod-absolutistische Preußen. Herkunftsländer der Flüchtlinge: das absolutistische Frankreich sowie die ebenfalls absolutistische Erbmonarchie Habsburg-Österreich. Die Hugenotten in Preußen haben sich bekanntlich zu einer prosperierenden, sehr innovativen Bevölkerungsgruppe entwickelt. Einer ihrer vielen Nachkommen ist übrigens der derzeitige deutsche Verteidigungsminister Thomas de Maizière.

Wie Sie sehen, haben sich Konflikte in Europa manchmal durchaus gelohnt. Also: Öffnen Sie die Tore für die reale deutsche Dienstleistungs-, Bildungs- und Arbeitsgesellschaft! Schaffen Sie Kontingente, und bieten Sie sie offensiv an. Und: Schützen Sie Ihre Neubürger und -bürgerinnen vor den Zugriffen deutscher Behörden. Wie das gute Beispiel des deutschen Verteidigungsministers zeigt, kann sich eine solche Innovation durchaus lohnen.


mit herzlichen Grüssen --Richard Zietz 21:39, 1. Mai 2013 (CEST)



Solidarität mit Uli Hoeneß?

Bearbeiten

Er hat es getan. Wie man liest, nicht im kleinen Stil. Der Ex-Nationalspieler und derzeitige Präsident des FC Bayern München soll – den aktuellen Meldungen zufolge – mit Millionenbeträgen beim bundesdeutschen Fiskus in der Kreide stehen. Bislang erfolgte eine Selbstanzeige wegen Steuerhinterziehung; aus stehen Millionenbeträge; die Ermittlungen laufen; was Genaueres weiß man nicht. Dass nicht nur Manager wie Klaus Zumwinkel sowie Inhaber mittelständischer Firmen Steuerparadiese schätzen, sondern auch zahlreiche Promis, zeigen unter anderem die Fälle Boris Becker und Peter Graf. Fazit: Steuerhinterziehung – auch und gerade in der A-Liga – ist nicht gerade eine Meldung, die vom Hocker haut. Frage ist, inwieweit der Mann zu verurteilen ist. Sicher – soweit die Fakten auf dem Tisch liegen, scheint der Fall klar. Selbstanzeige bedeutet Nachzahlung; je nach Zeitraum kann hier eine Summe zusammenkommen, die auch am Tegernsee schmerzt. Sicher bedeutet sie auch Ermittlungen. Die Finanzbehörden möchten es nunmehr ganz genau wissen. Steuervertrauen ist zerbrochen – kann man ihnen ebenfalls schwer verdenken. Auch an dem moralischen Furor, der jetzt über ihn hereinbricht, ist Hoeneß nicht ganz unschuldig – inszenierte er sich doch noch wenige Monate zuvor als bodenständiger Talkshow-Saubermann, der über die steuerflüchtigen Schönen und Reichen vom Leder zog.

Nun hat es den populär-streitbaren Bayern-Funktionär ebenfalls erwischt. Ein Anlass für Schadenfreude? Für die Propagierung von Rechtschaffenheit, einer neuen vielleicht gar? Sollen wir uns einreihen in die Front der Steinbrücks, Jauchs und Wills, und das Loblied vom ehrlichen Steuerzahler anstimmen, der seine Kontoauszüge eventuell sogar freiwillig ins Internet einstellt? Konkreter gefragt: Taugt der Fall Hoeneß, um erneut herzuziehen über die gewissenlose Upper Class, die sich vor ihrer Pflicht an Volk und Vaterland drückt und dafür lieber mit der Jacht, Champagner und amüsierfreudigen C-Sternchen an Bord von St. Tropez nach San Remo schippert? Prüfen wir zunächst die Fakten. Einen aufschlußreichen Blick ins Innere der Causa Hoeneß lieferte am 21. April der Talk bei Günther Jauch. Geladen waren NRW-Finanzminister Norbert Walter-Borjans (SPD), der FDP-Politiker Wolfgang Kubicki, der sonst eher für humorigere Angelegenheiten zuständige Entertainer Oliver Pocher, der ZDF-Sportmoderator Dieter Kürten, Dieter Ondracek von der Deutschen Steuer-Gewerkschaft (DSTG) und Jörg Quoos, Chefredakteur jenes Wochenmagazins, das die Hoeneß-Story ausgegraben hatte. Bemerkenswert am Jauch-Talk waren vor allem zwei Dinge. Erstens der Ernst, mit dem die versammelte (und vom Verdacht eigener Steuerunehrlichkeit selbstverständlich freie) Runde die Fehltat verurteilte und im Verlauf des Gesprächs die Rehabilitationschancen des Sünders eruierte: Trotz Pocher, der stellenweise etwas Mühe hatte, sich auf die ernste Stimmung einzustellen, mutete die Runde streckenweise an wie eine Mischung aus protestantischer Messe und TV-Gerichtsverhandlung.

Den zweiten, faktisch interessanteren Aspekt lieferte Wolfgang Kubicki – abwechslungshalber nicht in seiner Normalrolle als Paradegesicht des noch vorzeigbaren Teils der FDP, sondern als Steueranwalt. Unter anderem legte Kubicki die rechtliche Situation dar, in der Hoeneß nunmehr steckt. Welche Schritte im Lauf der nun angelaufenen Ermittlungen möglich sind; welche Konsequenzen Hoeneß möglicherweise zu fürchten hat. Simple Frage: Reicht es nicht, wenn der Mann nachzahlt, einen Denkzettel draufkriegt, und gut ist? Wer so denkt, kennt nicht die Grimmigkeit, mit der deutsche Bürokratien zu mahlen belieben. Und nicht die Freude, mit der der deutsche Michel einen fallen sieht – vor allem einen, den er weit oben vermutet. Gut; Uli Hoeneß mag sich erholen, so wie Michel Friedmann, Jörg Kachelmann und andere ihren Karriereknick ebenfalls verkraftet haben. Die ins Haus stehenden Nachzahlungen und Strafgelder werden ihn sicher ebenfalls nicht ruinieren. Zudem kommen sie bekanntlich dem Kindergarten um die Ecke und den Schlaglöchern auf der Hauptverkehrsstraße im Viertel zugute. Darüber hinaus hat die Sache Showwert. Der gemeine Bürger kann man sich mit einem Schauer abwenden und sagen: Naja, sowas trifft nur Promis. Und die können gar nicht wirklich tief fallen. Ihn und sie, den hart arbeitenden Michel und die zuverdienende Michaela, kann es niemals so erwischen. Nie.

Niemals? Eine Aussage, die leider nicht einmal halb stimmt. Auch Promis – siehe das Beispiel Gunter Gabriel – stranden gelegentlich hart. Wesentlicher jedoch ist, dass der deutsche Fiskus längst nicht nur unter Palmenoasen nach Penunzen fahndet. Um genauer zu sein: Palmenpromenaden am Zürichsee sind steuertechnisch eher ein Nebenkriegsschauplatz. Im Sozialdschungel des unteren Drittels hingegen herrscht bereits seit Jahren Steueralarmstufe Rot. Wie das? Hat Deutschland nicht eine fast vorbildliche Steuerprogression – Steuersätze, nach denen die nicht so Wohlhabenden wenig, die Wohlhabenden viel und die ganz Armen keine Steuer zahlen? Sicher, mag manch einer sagen, bei der kalten Progression kann man durchaus die ein oder andere Stellschraube nachrichten. Aber sonst? – Nichts ist weiter von der Wahrheit entfernt. Bereits das deutsche Steuerrecht – seine Formalien, sein Umfang, seine zahllosen Sonderregelungen, Verordnungen und Ausführungsbestimmungen – ist so kompliziert gestrickt, dass selbst Profis nicht mehr durchblicken (befindet selbst das hier unverdächtige Handelsblatt). Die Praxis: Jemand, der keinen Steuerberater anheuern kann (oder zumindest „gut kennt“), findet sich schnell in existenzruinierenden Auseinandersetzungen – mit einem Behördenmoloch, der, rechtlich abgedeckt und mit allerlei Sonderbefugnissen ausgestattet, wie ein eigener „Staat im Staat“ agiert.

Zugegeben: Die weltweit einmalige deutsche Steuerprozedur – insbesondere die Praxis der Finanzämter, in unergründlicher Chaotik Vorauszahlungsbeträge, Abgabe- und Zahlungsfristen festzusetzen – sorgt für Unmut, seit es sie gibt. Die „Bierdeckel-Parole“, mit der die CDU 2005 in den Wahlkampf zog, war inhaltlich nicht ganz grundfalsch, sondern lediglich unglaubhaft. Essentiell verschärft hat sich die Lage an der deutschen Steuerfront durch die Folgen der Hartz-Gesetze und Agenda-Reformen – vor allem durch den von Rot-Grün stetig ausgeweiteten und zur „Ich-AG“ geadelten Sektor der neuen Dienstleistungen. Fazit: „Fiskaltechnisch“ trifft der Staat immer weniger auf die klassischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Sondern vielmehr auf Patchwork-Berufsbiografien – Menschen, die sich durchwursteln: als Freiberufler, als Selbständige mit kleinen Klitschen, als Quereinsteiger, Aufstocker, als Alleinerziehende, als Emigrant(in) mit befristeter Aufenthaltserlaubnis oder befristetem Visum, und so weiter.

Jeder „Kiez-Milieunär“ gleich ein Millionär? Ein Urlaub im Jahr ist, mit Ach und Krach, vielleicht drin. Viel zu verdienen ist in diesem Mileu, von Ausnahmen abgesehen, jedoch nicht. Der finanzkrisengeplagte Fiskus scheint allerdings vom Gegenteil auszugehen. Gerade „unten“ schöpfen Steuerfahnder und Finanzämter mit steigender Erbarmungslosigkeit ab. „Geschätzt“ bedeutet hier oft: Phantasiezahlen, „Hochrechnungen“ im allerwörtlichsten Sinn, nicht vorhandene (aber stillschweigend erwartete) „mittelständische“ Finanzpolster, kräftezehrende Auseinandersetzungen mit Behörden, Besuche von der Steuerfahndung, Überschuldung, Privatinsolvenz und Hartz-IV. Ergebnis: ein von Staats wegen betriebener Drehtüreffekt – von der staatlich abgefackelten Existenz (nebst astromisch hohen Schuldtiteln, die die Betroffenen zumindest sieben Jahre lang als stetiger Aufmunterer begleiten) zum Amt mit seinen Schikanen, und so weiter. Was dann? Am Ende dieser staatlich produzierten Lose/Lose-Situation (dem bekannten Bonmot zum Trotz bevorzugen staatliche Behörden noch immer die Methode „Schlachten statt Melken“) bleibt zumindest dem komplettausgepauperten Teil des neuen Prekariats nur noch ein Platz im deutschen Exportwunderland. Wenn man so will, ist dies auch ökologisch sinnvoll durchdacht. Denn: Wer entsorgt sonst den Flaschenmüll in unseren Fußgängerzonen?

Man muß Steuerhinterzieher, verurteilte oder „nur“ mutmaßliche, nicht lieben. Man muß sie nicht einmal sonderlich symphatisch finden. Kontrastiert man die Schein-Empörung über Wulff, Hoeneß oder andere „Gefallene“ mit der kompletten Realität und addiert dazu das Moralprogramm, dass dem einfachen Volk mit stetig zunehmender Penetranz aufs Auge gedrückt wird, wird einem klar, warum Deutschland den Menschen anderswo auf der Welt irgendwie als Land erscheint, dass zwar sauber und perfekt erscheint, aber gleichermaßen seelenlos und überbürokratisiert (Lesetipp). Autoritäres Durchregieren ist dabei keinesfalls eine Domäne der klassischen Konservativen: So etwa macht die Regierung von Talkshow-Teilnehmer Borjans unter Hannelore Kraft aktuell vor allem dadurch von sich reden, dass sie E-Rauchern nach Kräften das Leben vermiest. Das Thema Katastrophe in Duisburg 2010 hingegen, ein Ereignis, bei dem mehrere Dutzend Menschen umkamen und wo nach wie vor Aufklärungsbedarf herrscht, ist für NRW-Regierungstellen hingegen kein Thema mehr. Fazit: Der Fall Hoeneß ist, wie andere in der Liga ebenso, Flimmerkram fürs Gemüt, ein TV- und Medienplacebo. Noch schlimmer: Politik und Medien nehmen ihn als Anlass, Staatsbürgerwerte zu predigen. Arbeitsamkeit, Steuerehrlichkeit, transparente Bürger. Insgesamt also eine Situation, in kaum Zustimmung angesagt ist. Vielmehr verstärkte Vorsicht sowie staatskritisches, demokratisches Mißtrauen. – Ganz persönliche Meinung: Mäßige Ungleichheit bei sozial vorbildlicher Absicherung, Steuersünder und, nun ja, Mick Jagger als Idol fände ich persönlich erstrebenswerter als verbiesterte Moralapostel in Talkshows, 100.000 Pfandflaschenjunkies in Fußgängerzonen und, sagen, wir, Joachim Gauck als staatlich verordneten Popstar. --Richard Zietz 16:58, 22. Apr. 2013 (CEST)



…, Urwahl-nominierte grüne Spitzenkandidatin für die Bundestagswahl 2013, ist eine schillernde Persönlichkeit (wenn auch – noch – nicht ganz so schillernd wie ihre farbenfrohe Parteikollegin Claudia Roth). Mangelndes Geschick beim Häufen politkarrierefördernder Ämter, Funktionen und Positionen kann man der thüringischen Pfarrersgattin (die – zumindest laut ihrer Wikipedia-Biografie – in ihrem funktionsreichen Leben leider nicht die Zeit fand, einen normalen Beruf zu erlernen) sicher nicht vorwerfen. Erfolgreiches Networking erwies sich auch bei der Kandidaten-Urwahl als der Türöffner, auf den es im Politleben wirklich ankommt. Hier ein Interview, da ein Vortrag, da eine knackige Schlagzeile: Beim Inszenieren der eigenen Person als unverwechselbare Politmarke lässt die Spitzengrüne aus dem Osten kaum was anbrennen. Unmittelbar nach ihrer erfolgreichen Kür nutzte sie ihre Verankerung im evangelikal-protestantischen Mileu, um parteiübergreifende Sozialkompetenz zur Schau zu stellen – und sich selbst dezent als Alternative zum Unions-Sozialzugpferd Nummer eins, Arbeits- und Sozialministerin Ursula von der Leyen, ins Spiel zu bringen. Ein altes Sprichwort würde da sagen: Nicht schlecht, Frau Specht.

Gehört zweifelsohne zu den wertvolleren Menschen im Land: die Grüne Katrin Göring-Eckardt möchte dem Prekariat gern an die Mäuse.

Gemach, gemach, kann man sagen. Sind Quereinsteiger-Lebensläufe mittlerweile nicht normal in unserer Gesellschaft? Lebt nicht ein bedeutendes Mitglied der Piratenpartei diese moderne Ambivalenz ebenfalls aus? Und Funktionshäufungen sowie taktisches Geschick – sind sie im knallharten Politbizz nicht unerlässlich, möchte man seine Positionen nach vorne bringen? Antwort: zweimal „ja,“ einmal „leider ja“. Nicht ganz aus den Augen verlieren sollte man als Wähler und Wählerin allerdings, für welche Politik Quereinsteiger-Credibility, Ämter sowie verbindliches Auftreten beim Networken zum Einsatz kommen. Abgesehen davon, dass es kaum etwas Reputierlich-Biedermeierlicheres in diesem Land gibt als einen protestantischen Pastorenhaushalt: Ebenso wie ihr Kollege mit Gott, Bundespräsident Joachim Gauck und ungeachtet aller salbungsvollen Sonntagsreden, profiliert sich auch die Grüne aus dem Osten mehr und mehr als knallharte Exekutorin eines starken neoliberalen Staates. Wobei – hier ist sie ebensosehr „Osten“ wie mittlerweile der Grünen-Mainstream – die starke Rolle des Staats und seiner Kontrollbürokratie nicht stark genug ausfallen können.

Aktueller Vorstoß von Göring-Eckardt: Minijobs sollen bei einem Sieg von Rot-Grün deutlich begrenzt werden. Laut einer Meldung auf tagesschau.de vom 27. März wollen SPD und Grüne den Maximalverdienst bei Geringfügigen Beschäftigungen, den sogenannten Minijobs, von 400 Euro auf 100 Euro herabsetzen. Ideen, über die sich die minijobbende Aushilfsputze sicher freut: Geht es nach den Plänen von Göring-Eckardt, sollen alle Verdienste über 100 Euro abgaben- und steuerpflichtig werden. Ausnahmen soll es – auch in Pfarrershaushalten denkt man beim Thema Geld offenbar vor allem praktisch – laut Göring-Eckardt vor allem im „haushaltsnahen Bereich“ geben. Begründet wird die von Rot-Grün geplante neue Prekariatssteuer mit den üblichen Sprüchen – sprich: den hehren Motiven, die alle vorgeben. Minijobber hätten – welch eine Überraschung – Schwierigkeiten, in den ersten Arbeitsmarkt zurückzufinden. Die Etablierung des Minijob-Bereichs habe sich insgesamt als Fehler erwiesen, den man nunmehr halt eben korrigieren müsse.

Muß man das? Die sachlich zutreffende Antwort müßte lauten: Jein. Sicher sind die durch Rot-Grün eingeführten Minijobs ein wichtiger Meilenstein hin zu den prekarisierten Arbeitsverhältnissen, mit denen sich immer mehr Bundesbürger(innen) herumzuschlagen haben. Andererseits: Anders als Hartz IV sowie weitere Sozialabbaugesetze im Zug der Agenda 2010 sind Minijobs nicht Bestandteil der Peitsche, sondern eher Bestandteil des Zuckerbrots. Selbst Rot-Grün konnte nicht gänzlich die Augen vor der Erkenntnis verschließen, dass Bürokratie plus Verarmung allein den neoliberalen Bock nicht fett macht. Aus dem Grund mussten zusätzlich praktikable Verdienstanreize her. Die Nachteile des Geringverdiener-Sektors liegen auf der Hand: kein Urlaub, keine sonstigen Sozialansprüche, null Rentenversicherung. Die Nachteile werden auch von Göring-Eckardt und ihren rotgrünen Bundesgenossen aufgeführt. Allerdings nur in funktioneller Weise – als Vorschiebeargument, um dem ausgepauperten unteren Drittel der Gesellschaft nach der Wahl erneut in die Taschen zu greifen. Ob Schwarz-Gelb oder Rot-Grün: Der Staat ist derzeit klamm. Neben unregelmässig Beschäftigten, alleinerziehenden Müttern und Vätern, Hartz-IV-Empfängern und Migranten mit prekärem Status bekommen diese Tatsache auch Freiberufler, kleine Selbständige und sonstige „irregulär“ Beschäftigte immer stärker zu spüren. Ebenso Insolvenzschuldner – eine Personengruppe, deren Umfang durch Rot-Grün kräftig erweitert wurde und deren Anzahl von Experten, Tendenz steigend, mittlerweile auf mehrere hunderttausend Personen beziffert wird (nicht insolvente, jedoch chronisch überschuldete Haushalte nicht mitgerechnet). Die vielzitierten bürgerlichen Grundrechte machen sich in diesem Segment der Gesellschaft zunehmend rarer. Ob flächendeckende Taschenpfändungen wie 2012 auf den Kölner Ringen, verdeckte Steuerfahnder im Rotlichtmilieu oder einfach normal ausgeübte Fiskal-Willkür: Je mehr Menschen durch die Maschen der demontierten Sozialsysteme fallen, desto dreister werden die Versuche staatlicher Behörden, auch diesen Menschen den letzten Cent aus den Rippen zu leiern.

In diese Richtung dürfte auch der Vorschlag der grünen Spitzenkandidatin Katrin Göring-Eckardt gehen. Nicht Teilhabe & Chancen für die sozial Gebeutelten sind das Ziel, sondern vielmehr eine neue, clever begründete Besteuerung der unteren Gesellschaftsschichten. Sicher kann man sagen: Der Staat möchte seine Möglichkeiten zur Besteuerung optimal ausschöpfen. Gerade unten wird – so die Ansicht in saturierten Kreisen – doch viel Schmu gemacht. Weil alle gleich sind (und nicht nur „die da unten“), verbaut Rot-Grün nun eben die unkomplizierten Einkunftsmöglichkeiten im unteren Bereich – beziehungsweise behält sich die Möglichkeit vor, an diesen Einkommensquellen mitzupartizipieren. Nun gut. Abgesehen davon, dass genau dies die Argumentationslinie neoliberaler Hardliner & Elitenstaat-Fans ist: „Der Staat“ soll laut Vorschlag von Göring-Eckardt nicht nur neue Steuerquellen im unteren Gesellschaftssegment erschließen. Die beabsichtigte Prekariatssteuer von Rot-Grün III träfe ein Gesellschaftsdrittel, dass aufgrund der stattgefundenen Deregulierung sowieso bereits überdurchschnittlich mit Fiskalabgaben, Beiträgen etcetera drangsaliert wird. Bei Lichte betrachtet, erweist sich die neue Idee von Rot-Grün so nicht als Vorschlag zur Linderung neoliberaler Auswüchse, sondern als das glatte Gegenteil. Mit der Pikantesse, dass der Staat seinen schwächsten Gliedern neue Belastungen aufbuckelt und die Schere zwischen Reich und Arm so noch weiter öffnet. Das ist nicht sozial – der Vorschlag von KGE ist, wie ihre Partei: unsozial, antisozial und im schlimmsten Sinn asozial. Muß man diese neoliberale Hardlinertruppe – oder die andere Variante – auch noch wählen, also aktiv für Demokratie- und Sozialabbau stimmen? Ich denke: besser nicht. Für all diejenigen, die am Wahlsonntag nichts Schöneres vorhaben und die sich ebenfalls um den Zustand der Demokratie in Deutschland Sorgen machen, gibt es (mindestens) zwei Alternativen – sicher nicht perfekt, in Sachen Demokratieschutz jedoch allemal glaubwürdiger als die vier diesbezüglich auf „Point Zero“ angelangten Systemparteien: Piraten und Linke.

Was hat das alles mit Wikipedia zu tun? Einiges. Sieht man sich allerdings die Biografie- und Parteiartikel in diesem Umfeld an, kommt man um den Eindruck nicht herum, dass es sich um schöngefärbte Eigenproduktionen handelt. Ob Roth, Trittin oder Künast: reelle Infos zu politischer Verortung, Kontroversen und Ähnlichem findet man in den Artikeln kaum. (Ebenso auch nicht in dem zu Katrin Göring-Eckardt – obwohl die Kandidatin als Exponentin des realpolitisch-bürgerlichen bis schwarzroten Flügels selbst innerhalb ihrer Partei durchaus umstritten ist.) Dafür wird beim Positionen-und-Pöstchen-Lametta auch der unbedeutenste Sitz in irgendeinem Vorstand aufgeführt. Naja, für Leser, die Wikipedia kritisch lesen, nicht das Schlechteste. Nach dem Motto Viel Lametta, viel Ehr, weiß man im Anschluß mindestens, welches Mitglied der Polit-Elite die Pöstchenjägerei besonders nötig hat. --Richard Zietz 14:52, 29. Mär. 2013 (CET)

Jean Claude Juncker: Vielleicht gibts Krieg

Bearbeiten
Möglicherweise kriegsauslösend? Beppe Grillo, Politiker der italienischen 5-Sterne-Bewegung

Liebe Leute, nicht auszuschließen, dass es leiderleider Krieg geben wird. Das sagt euch nicht der Zietz. Säbelrasseln und Kriegsdrohungen sind derzeit eher das Metier der politischen Elite in Deutsch-Kerneuropa. Jüngster, mit Sicherheit jedoch nicht letzter Eklat war die abfällige Auskommentierung der italienischen Parlamentswahlen seitens des designierten SPD-Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück (zur Erinnerung: der Mann, der 2009 der Schweiz mit der Kavallerie gedroht hat). Nun also Jean Claude Juncker. Anfang des Jahres verglich Juncker die derzeitige Lage in Europa mit der des Jahres 1913. Fazit Juncker: Europa sei nicht vor Kriegen gefeit. Potenzielle Kriegsgründe? Sofern die Süddeutsche Zeitung Juncker korrekt wiedergegeben hat: die Wahlkämpfe in Griechenland und Italien mit ihren ressentimentgelandenen Erscheinungen.

Die Südeuropäer sind also mal wieder an allem Übel schuld. Auch wenn Juncker im aktuellen Spiegel-Interview (Ausgabe 11/2013) etwas zurückrudert und glättet (Hardcore ununterbrochen stumpft die Überzogenen ab und ist von daher kontraproduktiv): Da steht uns einiges ins Haus. Wie bekannt, haben sich die italienischen Wähler für die „falschen“ Parteien entschieden. Zumindest aus Sicht jener abgehobenen EU-Elite, der sich Juncker und der SPD-Kanzlerkandidat gleichermaßen zugehörig fühlen. Was ist mit den zwei „Clowns“? Nun: Zum einen hat Peer Steinbrück nicht allein Silvio Berlusconi als Clown bezeichnet. Explizit einbezogen (sogar mit der Verschärfung, dass jener nichts dagegen haben könne, weil er das Clownsgeschäft ja als Beruf ausübe) hat Steinbrück den politischen Kopf einer Bewegung, die sich explizit im Kampf gegen die Korruption und mafiösen Verflechtungen des Berlusconi-Staats formiert hat. Kritische Zeitgenoss(inn)en sollten sich allerdings auch um die Bezeichnung Berlusconis als Clown Sorgen machen. Nicht nur deswegen, weil abfällige Titulierungen bedeutender Oppositionspolitiker in einem (zumindest offiziell, laut EU-Satzung) befreundeten Land für einen Kanzlerkandidaten eigentlich ein absolutes No-Go sind. Sondern auch deswegen, weil abfällige Bemerkungen über die südlichen EU-Länder und ihre Bewohner(innen) – die in der Beziehung halbwegs korrekte Merkel reisst es in dem Fall nicht raus – mehr und mehr zum Standardvokabular hiesiger Entscheidungsräger und Meinungsmacher avancieren.

Die Vereisung des nachbarschaftlichen Klimas, welche exponierte Grössen der herrschenden Elite fahrlässig oder gar absichtlich in Kauf zu nehmen bereit sind, konterkarriert bereits für sich die hehren gemeinschaftlichen Absichten, die diese Herren und Damen zu vertreten vorgeben. Bereits die Demolierung des zwischenstaatlich-nachbarschaftlichen Klimas wäre so gesehen schon ein guter Grund, der hohldrehenden Politelite bei Wahlen entschieden die rote Karte zu zeigen. Die Kriegsgefahr, die Juncker an die Wand malt, ist – so meine Meinung – leider nicht nur dummes, profilierungssüchtiges Geschwätz. Durch die bauernschlau-dreiste Verdrehung der Rolle von Opfer und Täter nach dem Motto Ab 5.45 Uhr schossen unsere provozierten, angriffsstrapazierten Kräfte dann notgedrungen zurück arbeitet sie ein kleines Stück auf die fürs Kriegsszenario nötige Klimaverschlechterung hin. Zur Erinnerung: Es war die EU unter der Federführung von Merkel, Schäuble und Juncker, welche eine ehemals souveräne Nation, nämlich Griechenand, in ein weisungsabhängiges de-facto-Protektorat umgewandelt hat – inklusive Strippenziehen zum Verhindern der Neuwahlen 2012 und, als das nicht half, der Ausübung von massivem Druck mir dem Ziel, die (wegen der EU-Sparpolitik höchst unpopulären und ansonsten herzlich miteinander verfeindeten) Wahlverlierer zu einer mehrheitsfähigen Regierungskoalition zu nötigen.

Dasselbe Spiel läuft nun in Italien, eventuell demnächst in Spanien und Portugal. Zur Erinnerung: Silvio Berlusconi ist nicht wegen seiner undemokratischen Machenschaften oder wegen seiner zahllosen Affairen in Ungnade gefallen. Bis vor wenigen Jahren war der nun als „Clown“ abqualifizierte Berlusconi ein anerkannt-respektierter Akteur der EU-Politklasse. Explizites Lob bekam Berlusconi unter anderem von einem exponierten Mitglied der rotgünen Koaliton – Innenminister Otto Schily. Vor Verständnis sprühte der Vorzeigedemokrat Schily anlässlich der Behandlung von Demonstranten während des G8-Gipfels 2001 in Genua. Tage, während denen der Rechtsstaat ausgesetzt war, nach Meinung unabhängiger Beobachter wie zum Beispiel amnesty international „chilenische Verhältnisse“ herrschten, gefangene Demonstanten mißhandelt, gefoltert, zum Tätigen des Hitlergrusses genötigt, durch Scheinhinrichtungen in Todesangst versetzt und weiteren Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt waren. Dies hat an Berlusconi nie gestört. Mit (etwas spät) aufkommendem demokratischen Bedenken (oder etwa Mitgefühl mit strippenden Minderjährigen auf sogenannten Bunga-Bunga-Parties) hat es wenig zu tun, dass sich Teile der herrschenden Klasse, darunter auch das Zentralorgan der neuen wirtschaftskriegsgeilen Alldeutschen, der Spiegel, nunmehr (auch) auf Berlusconi einschießen. Degoutant sind seit dem Ausbrechen der Schuldenkrise eher die menschlichen, symphatischeren Seiten des Berlusconi-Regimes: die Vetternwirtschaft, das Lösen von Problemen auf die informelle Weise sowie, generell, das italienische Es-nicht-so-genau-nehmen. Kurzum: all das, was hierzulande als typisch südländische Lebensart ausgemacht und von den gleichgeschalteten Heuschrecken-Leitmedien süffisant mit der schicken, aber genügend eindeutigen Abkürzung PIGS (= Portugal, Italien, Griechenland, Spanien; übersetzt aus dem Englischen: Schweine) gekennzeichnet wird.

Sind die Menschen in Südeuropa faul? Soll demnächst die Bundeswehr in Rom einfallen – vielleicht, um den Status des neuen EU-Protektorats Italien militärisch-humanistisch zu sichern (oder, wahrscheinlicher, die Besitzstände der Banken und Anlegerkonsortien aus dem Norden zu wahren)? Niemand weiß, was in Junckers oder Steinbrücks Kopf vorgeht. Durchaus möglich, dass der – mit Ausnahme einer Mehrheit der Wählerschaft in einem anachronistischen westeuropäischen Herzogtum – demokratisch nicht legitimierte, im Rahmen der EU-Geldpolitik als feste Institution gehandelte Jean Claude Juncker undurchsichtige Eigenziele verfolgte. Vielleicht hatte Juncker mit seinen Plaudereien schlicht und ergreifend eine neue Anti-Euro-Wettlawine im Hinterkopf – für das Hedgefont- und Heuschreckenmilieu, für das er politisch steht, profitabel, für die südlichen Volkwirtschaften ruinös und bekanntermassen Schuldenkrise-verschärfend. Bei Peer Steinbrück tendiere ich persönlich eher zu der Ansicht, dass der Reserveoffizier den Rand nicht halten konnte und inhaltlich die autoritäre deutsche Charakterseele hervortrat. Wie zu vernehmen, hat er mit seinen wohlstandsrassistischen Äußerungen beim Stammtisch durchaus Punkte sammeln können. Im Hinblick auf die kommende Bundestagswahl wird das die SPD sicherlich freuen.

Muß man Berlusconi verteidigen? Ich denke: Mittlerweile Ja. Vergleicht man Zustand und Mentalitäten der italienischen Gesellschaft mit der verbiestert-humorlosen, von Woche zu Woche schlimmer werdenden Stimmung in der exportführenden, aber in Sachen Lebensqualität eher bescheiden daherkommenden Arbeitsbaracke Deutschland, kann man sich vor der Zukunft nur fürchten. Dass die Misere unter anderem so ist, weil die Bevölkerung sie zulässt, bringt der Mann der Geldeliten in einem älteren Statement (unabsichtlich) auf den Punkt. Juncker über seine Erfahrungen als Akteur in der „Aufbauära“ der heutigen EU: „(…) Wir beschließen etwas, stellen das dann in den Raum und warten einige Zeit ab, ob was passiert. Wenn es dann kein großes Geschrei gibt und keine Aufstände, weil die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde, dann machen wir weiter - Schritt für Schritt, bis es kein Zurück mehr gibt.“ (Spiegel 52/1999)

Was tun? Griechen und Italiener haben es uns bereits gezeigt. Auf die Barrikaden gehen. Lieber einer Antikorruptions-Basisbewegung seine Stimme geben als einem EU-Sparstatthalter von Merkels Gnaden, der die Lebensqualität des Landes nur kaputtspart. Auch in Deutschland stehen Alternativen zum rotgrünschwarzgelben Einheitseintopf durchaus bereit. Sicher kann man an den Piraten einiges kritisieren – beispielsweise ihre Ansichten zum Urheberrecht oder ihre Neigung, das Internet zum Dreh- und Angelpunkt der Welt hochzustilisieren. Andererseits – als Menschen, die keine Lust hatten, sich auf der Karrieren-Schleimspur der etablierten Parteien bzw. Jugendorganisationen hochzudienen bzw. als abgehängt-ausgegrenzte Mitglieder des (durch Rot-Grün mitgeschaffenen) neuen Sozialprekariats, die nun ihr eigenes Ding durchziehen, kommen sie durchaus simpatico rüber. Sich wehren geht, Frau und Herr Nachbar! Als gute Möglichkeit, den Denkzettel abzugeben für die Von-unten-nach-oben-Umverteilungspolitik der letzten zwölf Jahre, bietet sich auch Die Linke an – sicher in vielen Dingen zu angepasst und zu verschnarcht, in einigen anderen zu sehr auf alte Konzepte fixiert und insgesamt zu sehr parlamentarische Opposition spielen wollend in einem System, dass die Demokratie aktuell mehr und mehr obsolet macht.

Was hat das alles mit Wikipedia zu tun? Kurz gesagt: Es hat damit zu tun, wie, wo, unter welchen Umständen und wie wissenschaftlich-frei ihr demnächst eure Artikel hier schreiben könnt. Wikipedianer(innen) sind – und das ist gut so – international vernetzt. Als ein Internetzensur-Gesetzentwurf im EU-Rahmen zur Disposition stand, waren es die italienischen Wikipedianer und Wikipedianerinnen, die mit einer vorbildlichen Streikaktion den Lexikonbetrieb befristet einstellten und auf diese Weise zeigten, dass man sich für freies Wissen manchmal auch politisch einsetzen muß. Den Rest kann sich jeder selbst denken: Unter der Brücke hat man selten einen Labtop. Ohne Internetzugang im Altersheim ist „Silberwissen“ eine fragile Brücke. Kriegt die EU-Krise einen militärischen Drive (der nach Lage der Dinge nur von den Nordländern ausgehen kann), ist es nicht nur Essig mit dem verdienten Italienurlaub (es sei denn, man kann neokolonialen Verkehrsformen etwas abgewinnen). Auch die Zusammenarbeit mit den anderen Wikipedias wird sich verändern. Chauvinistische, nationalistische, antisemitische und wohlstandsrassistische Textversatzstücke werden, je nach Sicht, zum Problem oder zum noch größeren Problem. Krieg – das wird auch heißen: die Regierung hat hier den Finger mit drin.

Fazit: Wahlen stehen an, ein (so oder so) politischer Sommer. Für die deutschsprachige Wikipedia hoffentlich ein weiterer sichtbarer Sprung hin auf die 2-Millionen-Artikelmarge, eine Konsolidierung der Artikelqualität und, irgendwie, mit etwas Glück eine Konsolidierung des Stamm-Mitarbeiterbestands sowie die Gewinnung neuer Autorinnen und Autoren. In diesem Sinn der Wunsch, dass wir uns alle auch politisch kritisch und verantwortungsbewußt geben mögen. --Richard Zietz 14:45, 12. Mär. 2013 (CET)



Wikipedia ist für alle da – ist das tatsächlich so?

Bearbeiten
Die eine präferiert Schlager, der andere mag es Hard & Heavy. Andere hören vielleicht Singer/Songwriter wie zum Beispiel Pete Seeger.

Wikipedia ist für alle da – und das ist auch gut so. Über eine Reihe Erscheinungsformen dieses Freiwilligenprojekts kann man sicher geteilter Meinung sein. Einige davon – wie zum Beispiel den Bildfilter, der seitens der Wikimedia Foundation geplant ist – sind mehr oder weniger regelmäßig in der Öffentlichkeit Thema. Über andere wird eher intern informiert und gestritten – zum Beispiel hier, hier, hier oder hier. Sowohl die Presseberichterstattung als auch die internen Auseinandersetzungen künden von der Vielfalt und Vielseitigkeit dieses Projekts – sicher mit ein wichtiger Grund, warum so viele diese nicht bezahlte Form, etwas Nützliches auf die Beine zu stellen, auf sich nehmen.

In Wikipedia ist jeder willkommen – und nach den Absichtserklärungen der Wikimedia Foundation auch jede. Als Artikelschreiber und -in, als Editor, Lektor, Organisator oder einfach jemand, der in seiner Freizeit Tippfehler korrigiert, Vandalismus beseitigt oder darauf achtet, dass sich alle an die Regeln halten. Großartige Unterschiede aufgrund Religion, Herkunft und Weltanschauung werden nicht gemacht und sollen nicht gemacht werden. Sicher schließt ein internationales Projekt wie dieses Rassenhass sowie volksverhetzende Aufrufe in jeder Form aus. Ebenso Diskriminierung wegen Geschlecht, Hautfarbe, Beruf oder sonstigen Merkmalen. Zur Mitarbeit eingeladen sind Linke ebenso wie Liberale oder Konservative, Religiöse ebenso wie Atheisten, Klassik-Liebhaber ebenso wie solche der klassischen Philosophie. Da darf ruhig auch Sportsgeist anklingen: Die Vielfalt ist es letztlich, was Wikipedia groß gemacht hat. Und zu einem Nachschlagewerk, wo jeder das Seine findet – der wissenschaftliche Mitarbeiter Basis-Infos zu seinem Thema, der Krimifan Artikel zu seinen Lieblingsautoren, die Ökologin Themen wie Mülltrennung oder Nachhaltigkeit, der Migrant Hinweise zu Themen wie Aufenthaltsgenehmigung und alle zusammen (hoffentlich) weiterführende Hinweise zu dem, was sie interessiert.

Eine Reihe Themen sind umstritten. Das fängt bereits beim Musikgeschmack an. Die eine präferiert Schlager, der andere mag es Hard & Heavy. Wirklich umstritten – ebenso wie in der Gesellschaft – sind die wirklich bedeutenden Fragen. Etwa die gegenwärtigen Turbulenzen auf den Finanzmärkten oder die Griechische Schuldenkrise. Auch der Rassismus in der Mitte unserer Gesellschaft – wie er anlässlich der Vorkommnisse um die Zwickauer Zelle zum Tragen kam – gibt Fragen auf und verlangt nach Antworten. Ebenso die ganz alltäglichen Sorgen und Nöte von vielen – Sorgen und Nöte, von denen auch mancher Wikipedia-Autor existenziell betroffen ist. Miete, Job, Beziehung, und so weiter. Die Lösungsvorschläge fallen naturgemäß unterschiedlich aus. Viele betrachten das ungehinderte Schalten und Walten des finanzkapitalistischen Sektors als nicht gerecht, in Teilen auch als nicht zukunftsfähig. Andere sehen das anders. Dagegen ist erstmal nichts einzuwenden. Problematisch wird es dann, wenn eine Seite versucht, die Meinungsfreiheit der anderen mit admininstrativen Mitteln zu beschränken oder – im Extremfall – sogar ganz abzuschaffen.

Ob die Meinungsfreiheit für die Befürworter eines uneingeschränkten Banken- und Finanzkapitalismus in Gefahr ist (oder gar ihr Leben, wie einige konservative Wikipedianer mutmaßen), darüber kann man geteilter Meinung sein. Die einschlägigen Polit-Talks legen eher Gegenteiliges nahe. Sicher kann man sich auch über die Frage streiten, ob Will, Plasberg & Jauch die Breite der Themen und Meinungen widerspiegeln, die es in der Gesellschaft gibt, oder ob sie mit ihren Themenvorgaben und Gästeauswahlen die Positionen der politischen und ökonomischen Eliten propagieren. Fakt ist, dass der sogenannte gesellschaftliche „Mainstream“ (das, was auch als „Mitte unserer Gesellschaft“ bezeichnet wird) lediglich einen Ausschnitt der Ansichten und Lebenshaltungen widerspiegelt, die in der Gesellschaft existieren.

Was hat das alles mit Wikipedia zu tun? Da alle mitmachen dürfen, zunächst anscheinend nichts. Allerdings fühlt sich eine lautstarke Gruppe von Benutzern in der letzten Zeit verstärkt bemüssigt, das, was als Mainstream-Meinungsspektrum hingestellt wird, auch innerhalb dieses Projekts zur verbindlichen Norm zu machen. Der Ruf, „Extremisten“ und sogenannte „Projektstörer“ auszugrenzen (sprich: aus Wikipedia rauszuschmeißen), nimmt seit dem letzten Jahr immer bizarrere Formen an. Selbst das Sich-Zu-Eigen-Machen von oder Sich-Bekennen zu Positionen MItte-kritischer Soziologen wie beispielsweise Christoph Butterwegge führt im aufgeheizten (seltsamerweise von allen chronisch als mies bezeichneten) Wikipedia-Arbeitsklima zu Sanktionen oder jedenfalls nicht hinnehmbaren Anwürfen (Beispiel). Zweites aktuelles Beispiel ist eine Mehrheitsabstimmung (!) darüber, ob eine als projektkritisch angesehene Userseite weiter bestehen darf oder nicht.

Passend zu dem von einigen Soziologen ausgemachten Trend, dass das Gängeln und Vorschriften-Machen (z. B. gegenüber Rauchern, Harz-IV-Empfängern und Leuten, die sich sonstwie „danebenbenehmen“) bei Teilen von Eliten und Volk zum neuen Volkssort avanciert, ist ein weiterer Gesinnungs-TÜV in der Pipeline. Zur Abstimmung gestellt werden soll, ob Wikipedia-Nutzer das Antifa-Logo (siehe auch rechts unten) auf ihre Benutzer-Seite stellen dürfen oder nicht. Einerseits ist es keinesfalls so, dass beim Blick auf die Userseite des Initiators dieses Meinungsbilds alle in Zustimmung und Freude ausbrechen. Bis vor kurzem noch bewarb der Initiator auf seiner Userseite das höchst umstrittene, von vielen als rassistischer Beitrag zur Einwanderungdebatte gewertete Buch eines ehemaligen Berliner Finanzsenators. Wie dieselbe Userseite zeigt, legt der User auch sonst allerhöchsten Wert darauf, seiner konservativen Grundhaltung Ausdruck zu verleihen. Obwohl sich mir als bekennendem Linken der Magen umdreht angesichts der zur Schau getellten, aus dem 1950er-Gruselkabinett hervorgekramten NATO- und Kalte-Kriegs-Ideologie, muß ich konzedieren, dass solche, explizit konservativen Ansichten zum Wikipedia-Spektrum mit dazugehören.

Eine andere Sache ist es, wenn das von (einigen!) Konservativen als noch tolerabel angesehene, zulässige Meinungsspektrum zur allgemein verbindlichen Projektnorm deklariert werden soll. Wikipedia lebt von seiner Vielfalt, nicht seiner Einfalt. Falls einige Mitlesende mit diesen Intentionen synpathisieren sollten, sollten sie nicht nur mitbedenken, dass eine Demokratie (oder ein Projekt) nach der Regel Und-willst-du-kein-Demokrat-wie-ich-sein-dann-schlag-ich-dir-den-Schädel-ein allerhöchstens wegen dem aufgeklebten Etikett noch was mit Demokratie zu tun hat. Für einige Artikelautoren (darunter auch mich) wäre mit einem solchen Polit-Maulkorb sicher endgültig ein Rubikon überschritten. Wir sind links, und wir haben – ebenso wie User mit anderer Weltanschauung – keine Lust, uns zusätzlich zu unserer freiwilligen, ehrenamtlichen MItarbeit auch noch selbst zu verleugnen. Punkt. Die Neutralität unserer Artikel dürft ihr gern weiterhin mit den üblichen Projektmaßstäben messen. (Nebenbei angemerkt: Ich persönlich halte „Rotlichtbestrahlung“ für keine zielführende Form, Menschen zu informieren.) Aber unterschiedliche Maßstäbe für erwünschte und unerwünschte Gesinnungen – hier sollte ein klarer Riegel vorgeschoben werden. Das jedenfalls meint --Richard Zietz 11:21, 14. Feb. 2012 (CET)


Tops & Flopps

Bearbeiten
Top: Alexis Tsipras vom griechischen Linksbündnis SYRIZA. Das „Nein“ zum Spardiktat der Brüsseler Hedgefont-Sachverwalter blieb nicht unbemerkt.


Flopp: Bundeskanzler in spe Peer Steinbrück: „Alles Clowns“

Bildergalerie

Bearbeiten
Demonstration am 1. Mai 2006 in Berlin-Kreuzberg
Proteste von Studenten in Montreal, Mai 2012
SuicideGirl
Kirche im Alexandria-Park, St. Petersburg, oder: Gothic Style – wie liebe ick dir ;-)
Zlatograd in Bulgarien
gutes Bild, weniger gute Gegend
Blue Girl Blue, SuicideGirls
Was ist verkehrt an ein paar Rubelchen?
Improvisierte Granaten und ein Molotowcocktail im Museum der Armija Krajowa in Warschau
Ein Tag zum Feiern
Gefeaturetes Bild in der spanischen und türkischen Wikipedia-Ausgabe: Fidel Castro 1959; Ankunft am MATS Terminal, Washington, D.C.