Der SS-Staat – Das System der deutschen Konzentrationslager

Studie von Eugen Kogon über die Terrorherrschaft in nationalsozialistischen Konzentrationslagern

Der SS-Staat – Das System der deutschen Konzentrationslager ist ein zuerst 1946 erschienenes Werk des Soziologen Eugen Kogon (1903–1987), der selbst als Gegner des Nationalsozialismus sechs Jahre lang Häftling im KZ Buchenwald war. Es ist eine 1946 publizierte umfassende Darstellung des deutschen KZ-Terrors mit und in den deutschen Konzentrationslagern der Schutzstaffel der NSDAP (SS) und gilt als die erste historische Analyse des NS-Terrorsystems.

Der SS-Staat (1946)

Entstehung des Buches

Bearbeiten

Eugen Kogon war seit 1939 – mit mehreren Unterbrechungen, als er in einem Gestapo-Gefängnis in Wien inhaftiert war – Häftling im KZ Buchenwald. Er hat nach der Befreiung des KZ Buchenwald durch die 3. US-Armee im Auftrag der Psychological Warfare Division für das Hauptquartier der Alliierten Expeditionstreitkräfte (SHAEF) innerhalb von vier Wochen einen ersten Bericht über „die überaus komplizierten Innenverhältnisse“ des Lagers erstellt. Dies geschah „in beständiger Fühlung mit dem Lager und den zahlreichen Gruppen der vormaligen Gefangenen“. Sein Zeugnis umfasste einen 125-seitigen Hauptbericht und fast 120 Erlebnisberichte einzelner Gefangener. Das Buch, das aus diesem und anderen Berichten hervorgegangen ist, „ist ein neues Manuskript“, wie Kogon in der Einleitung betont. „Ich habe da und dort ein Stück Text meines ursprünglichen Berichtes mitverwertet, Aber der Unterschied ist klar: statt Buchenwald als Einzelfall das System der deutschen Konzentrationslager, statt 12 jetzt 23 Kapitel. … Bedeutsames Dokumentenmaterial kam neu hinzu.“ Kogon hat das Buch danach vom 15. Juni bis zum 15. Dezember 1945 verfasst. Er weist am Schluss seiner Einleitung darauf hin, dass er „nicht eine Geschichte der deutschen Konzentrationslager, auch nicht ein Kompendium aller verübten Grausamkeiten zu schreiben hatte, sondern ein vorwiegend soziologisches Werk, dessen als wahr festgestellter menschlicher, politischer und moralischer Inhalt beispielhafte Bedeutung hat.“[1] Das Buch erschien im Frühjahr 1946 in drei Ausgaben für die verschiedenen Besatzungszonen Deutschlands. Es gilt seitdem als ein Standardwerk über die NS-Verbrechen.

Die deutschen Konzentrationslager

Bearbeiten

Eugen Kogon im Vorwort zum SS-Staat: „Die deutschen Konzentrationslager waren eine Welt für sich, ein Staat für sich – eine Ordnung ohne Recht, in die der Mensch geworfen wurde, der nun mit all seinen Tugenden und Lastern – mehr Lastern als Tugenden – um die nackte Existenz und das bloße Überdauern kämpfte. Gegen die SS allein? Beileibe nicht; genauso, ja noch mehr gegen seine eigenen Mitgefangenen! Das Ganze hinter den eisernen Gitterstangen einer terroristischen Disziplin ein Dschungel der Verwilderung, in den von außen hineingeschossen, aus dem zum Erhängen herausgeholt, in dem vergiftet, vergast, erschlagen, zu Tode gequält, um Leben, Einfluß und Macht intrigiert, um materielle Besserstellung gekämpft, geschwindelt und betrogen wurde, neue Klassen und Schichten sich bildeten, Prominente, Parvenüs und Parias innerhalb der Reihen der Sklaven, wo die Bewußtseinsinhalte sich wandelten, die sittlichen Wertmaßstäbe bis zum Zerbrechen sich bogen, Orgien begangen und Messen gefeiert, Treue gehalten, Liebe erwiesen und Haß gegeifert, kurzum die tragoedia humana in absonderlichster Weise exemplifiziert wurde.“[2]

Das Werk enthält Ausführungen über die Ziele des NS-Staates. Beschrieben werden die Organisationen SS, SD, Reichssicherheitshauptamt (RSHA), Kriminalpolizei sowie die Organisation der Konzentrationslager. Dargestellt werden die Lebensbedingungen in einem Konzentrationslager: Einlieferung, Tagesablauf, Arbeit, Strafen, Ernährung, Geld- und Postempfang, „Freizeit“ und sanitäre Verhältnisse. Ebenso beschrieben werden die Sondereinrichtungen: Krematorien, Gaskammern, medizinische Versuchsstationen, Lagerbordelle und Luxusbetriebe der SS. Kogon beschreibt die Psychologie der SS, die Psychologie der KL-Gefangenen, den Kampf zwischen der SS und antifaschistischen Kräften im Lager und das Ende der Konzentrationslager. Im letzten Kapitel betrachtet er die Beziehung zwischen Bevölkerung und Konzentrationslagern. Die von Kogon benutzte Bezeichnung „Befristete Vorbeugungshaft“ ist umstritten; ebenso seine Bemerkung,[3] die sogenannten „Asozialen“ hätten bei Entlassungen den höchsten Prozentsatz ausgemacht.[4][5]

  • „Der Nationalsozialismus hat nicht nur die Menschen, sondern auch die Sprache vergewaltigt. Die Unsitte, Worte zu skalpieren, ist zwar schon früher aufgekommen und keineswegs eine deutsche Besonderheit, sondern in Rußland und Amerika ebenso weit verbreitet. Darüber hinaus haben die Nationalsozialisten aber ein wahres Kauderwelsch militärisch-zackigen Klanges geschaffen: Reichsführer-SS, Reichsarzt SS und Polizei, Leitender Arzt KL ist sprachlich Blödsinn, eine Art Kopfjägerdialekt.“[6]

Rezeption

Bearbeiten

Der spanische Schriftsteller Jorge Semprún, der im Januar 1944 nach Verhören und Folter nach Buchenwald kam, hatte 1992 bei einem Besuch des Lagers Kogons SS-Staat im Gepäck. Er nennt das Buch den objektivsten und erschöpfendsten Bericht über die Lebens-, Arbeits- und Todesbedingungen in Buchenwald.[7]Konrad Adam 2005: „Kogons Buch über den SS-Staat, bis heute wohl die anschaulichste Darstellung über das KZ-System.“[8]

Der SS-Staat wurde in die ZEIT-Bibliothek der 100 Sachbücher aufgenommen.

Vorgeschlagene Konsequenzen

Bearbeiten

Im Vorwort zu einer Neuauflage 1974 zieht Kogon, weit über die damalige Polarisierung im Kalten Krieg zwischen USA und UdSSR hinausgehend, aus den in seinem Buch beschriebenen Erfahrungen tiefgehende Konsequenzen; und zwar bzgl. einer absehbaren „Globalisierung“ mit zunehmender Menschlichkeit bzw. Unmenschlichkeit und zunehmender Bedeutung moralischer Kategorien in der Politik: „Da die Universalisierung der Verhältnisse zugenommen hat und die Menschheit auf dem Wege zu einer Welt oder keiner ist, sollte man sich vom Problem der Moral in der Politik – dies im besten denkbaren Sinne – nicht für absentiert halten: …“[9]

Ausgaben

Bearbeiten
  • Deutsch: 1. Auflage Verlag Karl Alber, München 1946; außerdem im Verlag der Frankfurter Hefte, Frankfurt a. M., Verlag des Druckhauses Tempelhof, Berlin, und im Schwann-Verlag, Düsseldorf. Copyright 1974 Kindler Verlag. Eine weitere deutschsprachige Ausgabe erschien 1947 im Bermann-Fischer Verlag AB, Stockholm.
  • Französisch: 1947, 1969, 1980, 1993, 2002
  • Englisch: 1950, 1958, 1960, 1968, 2006 (revised with new introduction by Nikolaus Wachsmann)
  • Spanisch: 1965, 2005
  • Niederländisch: 1968, 1984, 2014
  • Norwegisch: 1974, 1981
  • Schwedisch: 1977, 2002, 2006
  • Kroatisch: 1982
  • Rumänisch: 1987
  • Dänisch: 1991
  • Japanisch: 2001
  • Ungarisch: 2006
  • Polnisch: 2017

Literatur

Bearbeiten
  • Hendrik Buhl: Der SS-Staat. In: Torben Fischer, Matthias N. Lorenz (Hrsg.): Lexikon der „Vergangenheitsbewältigung“ in Deutschland. Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945. Transcript, Bielefeld 2007, ISBN 978-3-89942-773-8, S. 31 ff.

Siehe auch

Bearbeiten
Bearbeiten

Anmerkungen / Nachweise

Bearbeiten
  1. Zitate aus der Einleitung zu Der SS-Staat, 1. A., Alber, München 1946, S. XI–XV.
  2. Der SS-Staat, 1. A. S. IX.
  3. Der SS-Staat, 1. A, S. 16.
  4. Hans-Dieter Schmid: Die Aktion ‚Arbeitsscheu Reich‘ 1938. In: Herbert Diercks (Red.): Ausgegrenzt. ‘Asoziale und Kriminelle‘ im nationalsozialistischen Lagersystem. Bremen 2009, ISBN 978-3-8378-4005-6, S. 38.
  5. Hierzu ist anzumerken, dass „es unter den als asozial Verhafteten auch genug Leute [gab], denen nichts anderes vorzuwerfen war, als daß sie etwa zweimal zur Arbeit zu spät gekommen waren oder unberechtigt Urlaub genommen, ohne Genehmigung des Arbeitsamtes den Arbeitsplatz gewechselt, ihr nationalsozialistisches Dienstmädchen 'schlecht behandelt', als Eintänzer ihr Brot verdient hatten, und was dergleichen 'Vergehen' mehr waren.“ (Der SS-Staat, 1. A, S. 15.) Auch zählten zur mit schwarzem Winkel markierten Kategorie 'Asoziale' „Frauen, die sich in irgendeiner Form nicht in den NS-Staat einfügten, beispielsweise den Bund Deutscher Mädels ablehnten oder nicht zum Reichsarbeitsdienst gingen.“ (Robert Sommer im Interview mit Franziska von Kempis: Himmlers KZ-Bordelle – „Die verfluchten Stunden am Abend“. In: Süddeutsche Zeitung, 19. Juni 2009.)
  6. Der SS-Staat, 13. Aufl., S. 63.
  7. Jorge Semprun: Schreiben oder Leben. Frankfurt a. M. 1995, S. 336f.
  8. Die Welt, 16. April 2005.
  9. Aus dem Vorwort zur 10. Auflage, Kindler Verlag, München 1979, ISBN 3-463-00585-9.