Rutherford-Streuung

Streuung von geladenen Partikeln an einem geladenen Streuzentrum
(Weitergeleitet von Goldfolienexperiment)

Die Rutherford-Streuung beschreibt die Ablenkung von geladenen Partikeln durch die Coulomb-Kraft an einem punktförmigen geladenen Streuzentrum. Im Ausgangsversuch wurde die Streuung von Alpha-Teilchen an Gold-Atomkernen untersucht. Die resultierenden Teilchenbahnen sind Hyperbeln. Die Winkelverteilung der gestreuten Teilchen ließ erstmals darauf schließen, dass die positive Ladung und die Masse in den Atomen sich auf einen extrem kleinen Raum im Zentrum des Atoms konzentrieren. Bis dahin hatte man das Modell von J. J. Thomson angenommen, bei dem die positive Ladung des Atoms homogen im ganzen Atom verteilt ist (thomsonsches Atommodell). An diesen Experimenten waren unter Ernest Rutherfords Leitung Hans Geiger und Ernest Marsden beteiligt. Das Experiment zeigte überraschenderweise auch nach hinten abgelenkte Alphateilchen, was Rutherford so kommentiert haben soll: „Dies ist so unwahrscheinlich, als ob man mit einer Pistole auf einen Wattebausch schießt und die Kugel zurückprallt.“[1]

Rutherfordscher Streuversuch (Manchester, 1909–1913)

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Aufbau und Versuchsdurchführung

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Versuchsaufbau: 1: Radioaktives Radium, 2: Bleimantel zur Abschirmung, 3: Alpha-Teilchenstrahl, 4: Leuchtschirm bzw. Fotografieschirm 5: Goldfolie 6: Punkt, an dem die Strahlen auf die Folie treffen, 7: Teilchenstrahl trifft den Schirm, nur wenige Teilchen werden abgelenkt.

In einen Bleiblock mit Öffnung zu einer Seite hin wird ein radioaktiver Stoff gelegt, der Strahlung abgibt: Alpha-, Beta- und Gamma-Strahlung. Die aus der Öffnung im Bleiblock austretenden Strahlen werden durch ein elektrisches Feld geleitet, um sie voneinander zu trennen. Dadurch werden die negativen Elektronen (Beta-Strahlen) zum positiven Pol und die positiven Helium-Atomkerne (Alpha-Strahlen) zum negativen Pol abgelenkt, während die Richtung der ungeladenen Photonen (Gamma-Strahlen) unverändert bleibt. Die Alpha-Strahlung wird senkrecht auf eine nur 0,5 μm dicke Goldfolie (ca. 1000 Atome hintereinander) gerichtet. Die aus der Folie austretende Strahlung lässt sich danach mit einem Leuchtschirm oder einem daran befestigten Film sichtbar machen. Gold wurde verwendet, da es sich schon damals mit einfachen mechanischen Mitteln zu sehr dünnen Schichten verarbeiten ließ und eine hohe Atommasse besitzt. Daher stammt auch die Bezeichnung Goldfolienexperiment.

Beobachtung

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Linke Hälfte: Versuchsergebnis, wie es nach dem Thomson-Modell zu erwarten wäre. Rechte Hälfte: Erhaltenes Ergebnis und Veranschaulichung mit dem Rutherford-Modell.
  • Fast alle Alpha-Teilchen können die Goldfolie ungehindert passieren.
  • Etwa jedes 100.000ste Alpha-Teilchen wird um 90 Grad oder mehr abgelenkt.[2]
  • Je größer der Streuwinkel, desto seltener tritt diese Ablenkung auf.
  • Einige Alpha-Teilchen werden zurückgestreut.

Für die beobachtete Verteilung hat Rutherford die unten beschriebene Streuformel entwickelt.

Interpretation

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Die extrem seltene Ablenkung der Alpha-Teilchen und deren Winkelverteilung lassen sich dadurch verstehen, dass sich in den Atomen nur ein sehr kleines Massezentrum befindet, das positiv geladen ist. Man nennt dieses Massezentrum den Atomkern. Da die meisten Teilchen die Goldfolie ungehindert passieren, muss zwischen den Kernen ein großer Freiraum bestehen. Dieses Ergebnis führte zu dem rutherfordschen Atommodell. Die Elektronen, welche sich in dem relativ zum Kerndurchmesser riesigen leeren Raum um den Kern bewegen, schirmen die konzentrierte positive Kern-Ladung ab, sodass das Atom nach außen hin neutral erscheint.

Rutherfordsche Streuformel

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Die rutherfordsche Streuformel gibt den differentiellen Wirkungsquerschnitt (auch Streuquerschnitt genannt) in Abhängigkeit vom Streuwinkel   im Schwerpunktsystem an:

 

Die gleiche Formel in kernphysikalisch praktischen Einheiten:

 

Damit ist die Wahrscheinlichkeitsdichte beschrieben, dass Teilchen eine Ablenkung um den Winkel   erleiden. In einem Raumwinkelelement   treffen   Teilchen ein.

In der Formel werden weiterhin folgende Größen benutzt:

Elektrische Feldkonstante (Dielektrizitätskonstante)  
Ladung der Teilchen im einfallenden Strahl  
Ladung des Atomkerns  
Elementarladung  
Anfangsenergie des gestreuten Teilchens  

Auf den numerischen Vorfaktor kommt man schnell, indem man   durch die Feinstrukturkonstante   ausdrückt und darin   einsetzt.

Rutherford leitete die rutherfordsche Streuformel aus der klassischen Physik her. Eine vollständige quantenmechanische Behandlung des Problems ergibt in der bornschen Näherung für die Intensität der gestreuten Teilchen dieselbe Streuformel. Quantenmechanische Effekte aus den höheren Näherungen und auch die exakte Lösung mit der Schrödinger-Gleichung bestätigen dies und verändern nur noch die quantenmechanischen Phase der Streuwelle. Dies kann sich nur auswirken, wenn Wellen zu verschiedenen Ablenkwinkeln kohärent überlagert werden, wie es bei der Streuung identischer Teilchen eintritt.[3] Ein Problem der rutherfordschen Formel ist der Grenzfall  , wo der differentielle Wirkungsquerschnitt unendlich groß wird. Kleine Winkel entsprechen einem großen Stoßparameter. Bei sehr großen Stoßparametern schirmen die Atomelektronen den Kern jedoch ab.

Herleitung

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Fliegt das Alphateilchen mit kinetischer Anfangsenergie   genau auf das Kraftzentrum zu, dann ist der Stoßparameter   und das Teilchen nähert sich dem Zentrum gegen die Coulombkraft   auf gerader Linie bis zum Abstand

 
Hyperbel in 1. Hauptlage, mit Asymptoten, Haupt- und Nebenachse
 .

An dieser Stelle hat die Energie   sich vollständig in potentielle Energie umgewandelt. Das Teilchen kehrt dann auf derselben Geraden zurück, der Ablenkwinkel ist  . Bei jedem anderen Stoßparameter   ist die Bahn aufgrund der invers-quadratischen Abstandsabhängigkeit der Kraft ein Ast einer Hyperbel, und der endgültige Ablenkwinkel ist  , wobei   der Winkel zwischen den Asymptoten und der x-Achse ist. Die halbe Nebenachse der Hyperbel ist gleich dem jeweiligen Stoßparameter  , die halbe Hauptachse ist stets durch das eben definierte   gegeben (siehe Keplerproblem). Im xy-Koordinatensystem, in dem die Hyperbel in 1. Hauptlage liegt (d. h.  ), haben die Asymptoten die Gleichungen  . Folglich ist der Winkel   durch

 

gegeben, und wegen   ist dies gleich dem Cotangens des halben Ablenkwinkels. So folgt:

 .

oder umgestellt nach   in Abhängigkeit von  

 .

Diese Funktion hat nur einen einzigen Parameter  , dessen physikalische Bedeutung die Hälfte des minimalen Abstands ist, den das Alphateilchen bei gegebener Anfangsenergie   überhaupt erreichen kann.

Damit ist für beliebigen Ablenkwinkel der Stoßparameter bestimmt. Ablenkung in einen schmalen Bereich   um einen bestimmten Ablenkwinkel   erfordert einen Stoßparameter im Intervall

 

Die zugehörigen Teilchenbahnen sind vor dem Stoß durch einen schmalen Kreisring mit Radius   und Breite   geflogen. Die Fläche dieses Kreisrings ist

 

Der Kreisring ist der Wirkungsquerschnitt für die Ablenkung in den Winkelbereich   hinein, der den Raumwinkel

 

ausfüllt. Alle Größen einsetzen (und   beachten) führt auf den differentiellen Wirkungsquerschnitt für Rutherfordstreuung:

 

Siehe auch

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Literatur

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Commons: Geiger-Marsden experiment – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

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  1. Wolfgang Demtröder: Experimentalphysik 3: Atome, Moleküle und Festkörper. Springer Berlin Heidelberg, 2016, ISBN 978-3-662-49094-5, S. 64 (google.com).
  2. Eckhard Ignatowitz: Chemie für Schule und Beruf: ein Lehr- und Lernbuch. 5. Auflage. Verl. Europa-Lehrmittel Nourney, Vollmer, Haan-Gruiten 2014, ISBN 978-3-8085-7056-2.
  3. Jörn Bleck-Neuhaus: Elementare Teilchen: von den Atomen über das Standard-Modell bis zum Higgs-Boson. 2. Auflage. Springer Spektrum, Berlin Heidelberg 2013, ISBN 978-3-642-32578-6., Kap. 5