Giftlorcheln
Die Giftlorcheln (Gyromitra) sind eine Gattung der Schlauchpilze aus der Ordnung der Becherlingsverwandten (Pezizales).
Giftlorcheln | ||||||||||||
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Frühjahrs-Giftlorchel (Gyromitra esculenta) | ||||||||||||
Systematik | ||||||||||||
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Wissenschaftlicher Name | ||||||||||||
Gyromitra | ||||||||||||
Fr. |
Die Typusart ist die Frühjahrs-Giftlorchel (Gyromitra esculenta).[1]
Merkmale
BearbeitenMakroskopische Merkmale
BearbeitenDie Giftlorcheln bilden große, gestielte (hellvelloide) Fruchtkörper (Apothecien) mit hirnförmigen, unregelmäßig gelappten Hüten und fast zylindrischen, hohlen Stielen. Das Hymenium ist gelbbraun, rötlich braun bis dunkelbraun. Das Sporenpulver ist weiß.[2]
Mikroskopische Merkmale
BearbeitenDie Pilzfäden (Hyphen) tragen an den Querwänden (Septen) keine Schnallen. Die operkulaten Schläuche (Asci) sind inamyloid (blauen bei Kontakt mit Iodlösung nicht). Im Inneren reifen jeweils 8 Sporen heran. Diese sind durchsichtig (hyalin), schmal elliptisch, ellipsoid bis spindelig (fusoid) geformt und glattwandig. Die Sporen sind mit 2 Öltropfen gefüllt. Die äußere Zellwandschicht der Sporen (Perispor) ist cyanophil, lässt sich also mit Baumwollblau anfärben.[2]
Ökologie
BearbeitenDie Giftlorcheln sind bodenbewohnend und vermutlich Saprobionten, die in Wäldern und Gebüschen vorkommen. Sie besiedeln auch Sekundärstandorte wie beispielsweise Holzlagerplätze, Rindenmulch oder Holzhäcksel.
Arten
BearbeitenAktuell (Stand 2024) sind 6 Arten bekannt, von denen 5 (alle außer Gyromitra antarctica) in Europa vorkommen bzw. schon nachgewiesen wurden:[2][3][4]
Giftlorcheln (Gyromitra) weltweit |
Ehemalige Arten
BearbeitenIm Jahr 2023 wurde die Gattung Gyromitra, die zuvor etwa 25 bekannte europäische Arten enthielt,[5][6][7][8] auf der Grundlage phylogenetischer Analysen deutlich reduziert und in weitere Gattungen aufgespalten. Die Untersuchungen zeigten, dass die ehemals artenreichere Gattung Gyromitra s. l. paraphyletisch war und die hypogäische Gattung Hydnotrya enthalten müsste. Arten der Gattung Hydnotrya in die Gattung Gyromitra aufzunehmen, wäre nicht möglich gewesen, da der Gattungsname Hydnotrya (1846) älter ist als Gyromitra (1849) und somit taxonomischen Vorrang hätte, was zur Folge gehabt hätte, dass alle Giftlorcheln in die Gattung Hydnotrya hätten umkombiniert werden müssen. Stattdessen wurden acht Gattungen anerkannt, wovon zwei (Gyromitra und Hydnotrya) beibehalten, drei (Discina, Paradiscina und Pseudorhizina) wiederbelebt und drei (Paragyromitra, Pseudodiscina und Pseudoverpa) neu aufgestellt wurden.[2]
Ehemals zur Gattung Gyromitra gezählte Arten in Europa (Auswahl) |
Bedeutung
BearbeitenSpeisewert und Giftigkeit
BearbeitenEinige Arten der Gattung, besonders die Frühjahrs-Giftlorchel (Gyromitra esculenta), wurden früher und werden teils heute noch als Speisepilze gesammelt. Allerdings wird davon abgeraten, da sie Gyromitrin enthalten, das durch Erhitzen nur teilweise zerstört wird, und das Gyromitra-Syndrom mit schwerem, teils tödlichem Ausgang verursachen können.
Eine Studie französischer und amerikanischer Wissenschaftler kam in einem 2021 veröffentlichten Beitrag nach jahrelangen epidemiologischen Untersuchungen eines Hotspots der Charcot-Krankheit (Amyotrophe Lateralsklerose, ALS) in den französischen Alpen zu dem Schluss, dass der wiederholte Verzehr von Giftlorcheln der wichtigste Risikofaktor für ALS in der Gemeinde sei. In dem nur etwa 200 Einwohner zählenden Montchavin war 2009 der damals neuen Dorfärztin eine auffällige Häufung von ALS aufgefallen. Zwischen 1990 und 2018 wurden insgesamt 14 Fälle von ALS dort diagnostiziert, gegenüber einer durchschnittlichen Inzidenz in Europa von etwa 3 Fällen pro 100.000 Einwohner und Jahr.[9][10][11] Während ursprünglich fälschlicherweise hauptsächlich die bis 2023 zur Gattung Gyromitra gezählte Riesen-Lorchel (Discina gigas) verdächtigt wurde, für das vermehrte Auftreten der Erkrankung ursächlich zu sein, wurde 2024 nach einer erneuten Untersuchung der Proben deutlich, dass Gyromitra esculenta und Gyromitra venenata (und damit Giftlorcheln im engeren Sinne) die dafür verantwortlichen Arten sind.[4]
Etymologie
BearbeitenDer wissenschaftliche Gattungsname ist von altgriechisch gyros (Kreis) und mitra (Mütze) abgeleitet und nimmt auf die mützenartig herabgeschlagenen Hüte der Fruchtkörper einiger Arten Bezug.
Quellen
BearbeitenLiteratur
Bearbeiten- Achim Bollmann, Andreas Gminder, Peter Reil: Abbildungsverzeichnis europäischer Großpilze. In: Jahrbuch der Schwarzwälder Pilzlehrschau. 4. Auflage. Volume 2. Schwarzwälder Pilzlehrschau, 2007, ISSN 0932-920X (inkl. CD mit über 600 Gattungsbeschreibungen).
- Heinrich Dörfelt, Gottfried Jetschke (Hrsg.): Wörterbuch der Mycologie. 2. Auflage. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg/Berlin 2001, ISBN 3-8274-0920-9.
- Helmut Genaust: Etymologisches Wörterbuch der botanischen Pflanzennamen. 3., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage. Nikol, Hamburg 2005, ISBN 3-937872-16-7, S. 379 (Nachdruck von 1996).
Einzelnachweise
Bearbeiten- ↑ Elias Magnus Fries: Summa vegetabilium Scandinaviae. Band 2, 1849, S. 346.
- ↑ a b c d Xin-Cun Wang, Zhu-Liang Yang, Shuang-Lin Chen, Tolgor Bau, Tai-Hui Li, Lin Li, Li Fan, Wen-Ying Zhuang: Phylogeny and Taxonomic Revision of the Family Discinaceae ( Pezizales , Ascomycota ). In: Microbiology Spectrum. Band 11, Nr. 3, 15. Juni 2023, ISSN 2165-0497, doi:10.1128/spectrum.00207-23, PMID 37102868, PMC 10269896 (freier Volltext) – (asm.org [abgerufen am 26. September 2024]).
- ↑ Klofac, W., Krisai-Greilhuber, I.: Gyromitra inflata, die Wiederentdeckung einer verschollenen oder fehlinterpretierten Art. In: Öst. Z. Pilzk. 28: 93-106. 7. Januar 2021, abgerufen am 25. April 2021.
- ↑ a b Emmeline Lagrange, Marie-Anne Loriot, Nirmal K. Chaudhary, Pam Schultz, Alden C. Dirks, Claire Guissart, Timothy Y. James, Jean Paul Vernoux, William Camu, Ashootosh Tripathi, Peter S. Spencer: Corrected speciation and gyromitrin content of false morels linked to ALS patients with mostly slow-acetylator phenotypes. In: eNeurologicalSci. Band 35, 1. Juni 2024, ISSN 2405-6502, S. 100502, doi:10.1016/j.ensci.2024.100502, PMID 38770222, PMC 11103407 (freier Volltext) – (elsevier.com [abgerufen am 18. November 2024]).
- ↑ Nicolas van Vooren, Pierre-Arthur Moreau: Essai taxinomique sur le genre Gyromitra Fr. sensu lato (Pezizales). 2. Le genre Gyromitra Fr., sous-genre Gyromitra. In: ascomycete.org. Band 1, Nr. 1, 2009, S. 7–14.
- ↑ Nicolas van Vooren, Pierre-Arthur Moreau: Essai taxinomique sur le genre Gyromitra Fr. sensu lato (Pezizales). 4. Le genre Gyromitra Fr., sous-genre Caroliniana. In: ascomycete.org. Band 1, Nr. 2, 2009, S. 15–20.
- ↑ Nicolas van Vooren, Pierre-Arthur Moreau: Essai taxinomique sur le genre Gyromitra Fr. sensu lato (Pezizales). 3. Le genre Gyromitra Fr., sous-genre Discina. In: ascomycete.org. Band 1, Nr. 2, 2009, S. 3–13.
- ↑ Nicolas van Vooren, Pierre-Arthur Moreau: Essai taxinomique sur le genre Gyromitra Fr. sensu lato (Pezizales). 5. Le genre Gyromitra Fr., sous-genre Melaleucoides. In: ascomycete.org. Band 1, Nr. 3, 2009, S. 11–13.
- ↑ E. Lagrange, J.P. Vernoux, J. Reis, V. Palmer, W. Camu, P.S. Spencer: An amyotrophic lateral sclerosis hot spot in the French Alps associated with genotoxic fungi. In: Journal of the Neurological Sciences. Band 427, 15. August 2021, 117558, doi:10.1016/j.jns.2021.117558 (englisch).
- ↑ Un champignon toxique responsable des nombreux cas de maladie de Charcot en Isère et Savoie ? In: france3-regions.francetvinfo.fr. 7. September 2021, abgerufen am 8. September 2021 (französisch).
- ↑ Pierre Kaldy: Un champignon lié à des cas de maladie de Charcot : la fin d'une énigme médicale vieille de plus de dix ans. In: sciencesetavenir.fr. 4. September 2021, abgerufen am 8. September 2021 (französisch).