Jecke (auch Jekke, anglisierte Schreibweise Yekke, Singular: der Jecke, die Jeckete, Plural: die Jeckes oder Jekkes, Adjektiv: jeckisch) ist eine umgangssprachliche Bezeichnung der jiddischen Sprache vor allem für die deutschsprachigen jüdischen Einwanderer der 1930er-Jahre in Palästina und ihre Nachkommen in der heutigen Bevölkerung Israels. Darüber hinaus wurden auch deutschsprachige, in Westeuropa assimilierte Juden gelegentlich „Jecken“ genannt, in Abgrenzung zum Schimpfwort „Polacken“.
Wertende Konnotationen
BearbeitenEs handelt sich um eine spöttische Fremdbezeichnung, die bereits bei vorhergehenden Einwanderungen ins Land gekommene Juden aus Osteuropa verwendeten, um Neuankömmlinge aus Deutschland und Österreich unter dem Gesichtspunkt ihrer Prägung durch deutsche Kultur zu charakterisieren, und mit der dann Stereotype wie Überheblichkeit, übertriebene Korrektheit und Gründlichkeit sowie mangelnde Anpassung an die sprachlichen und kulturellen Gegebenheiten ihrer neuen Umwelt assoziiert wurden. Von den „Jeckes“ selbst wurde sie teils als Beleidigung abgelehnt, teils als freundlich anerkennend gemeinter Spott geduldet und zunehmend dann auch als leicht ironische Selbstbezeichnung übernommen.[1] Auf diese Ambivalenz geht auch Shlomo Erel ein, der aufzeigt, wie sehr deutsche Juden Gegenstand jüdischen Humors geworden sind.[2]
Die ursprünglich auf Juden aus Deutschland und Österreich beschränkte Bezeichnung wurde in der Folge auch auf Einwanderer aus anderen ost- und mitteleuropäischen Ländern ausgedehnt, soweit sie sich deutscher Sprache und Kultur verbunden fühlten.[3][4] Diese Entwicklung widerspiegelt sich auch im Namen des 1932 unter anderen durch Felix Rosenblüth gegründeten Einwandererverbandes deutscher Olim, der zunächst die Eigenbezeichnung Hitachduth Olej Germania (hebräisch הִתְאַחְדוּת עוֹלֵי גֶּרְמַנְיָה Hit'achdūt ʿŌlej Germanjah, deutsch ‚Vereinigung der Olim Deutschlands‘) führte,[5] dann ab 1940 als Hitachdut Olej Germania we Austria (hebräisch הִתְאַחְדוּת עוֹלֵי גֶּרְמַנְיָה וְאוֹסְטְרִיָה Hit'achdūt ʿŌlej Germanjah we-Ōsṭrijah, deutsch ‚Vereinigung der Olim Deutschlands und Österreichs‘) auch österreichische Einwanderer namentlich anführte, bevor er ab 1943 dann Irgun Olej Merkas Europa (אִרְגּוּן עוֹלֵי מֶרְכַּז אֵירוֹפָּה Irgūn ʿŌlej Merkaz Ejrōpah, deutsch ‚Organisation der Olim Mitteleuropas‘) hieß, was alle Herkunftsgebiete jüdischer Deutschsprachiger einschließt.[6]
Etymologie
BearbeitenDie Etymologie des Wortes ist nicht sicher geklärt. Weit verbreitet ist die Herleitung aus dem deutschen Wort Jacke, mit der sich dann zwei verschiedene Erklärungsweisen verbinden.[7] Nach der einen, die die Entstehung des Wortes erst in Palästina ansetzt, sollen deutsche Einwanderer als „Jacken(träger)“ gemeint sein, weil sie auch im heißen Klima ihrer neuen Heimat und bei der körperlichen Arbeit, die viele von ihnen unter Aufgabe ihrer früheren bürgerlichen Berufe ausüben mussten, Wert auf korrekte Kleidung legten und ihre Jacken nicht ablegten.[7][4] Nach der anderen ist die Jacke als ein Kennzeichen der Assimilation an nicht-jüdische westeuropäische Kultur gemeint, durch das sie sich auch schon in Europa von den Trägern des traditionellen, besonders bei osteuropäischen und orthodoxen Juden üblich gebliebenen Kaftans unterschieden.[7][8] Jecke wäre insofern ähnlich wie Krawattenjude eine Art Gegenbegriff zu dem Wort Kaftanjude, das besonders durch den antisemitischen Sprachgebrauch adaptiert und popularisiert wurde.[9]
Gemäß einer anderen Erklärung[7] ist Jecke herzuleiten von dem niederdeutschen, besonders durch den Kölner Karneval auch im Hochdeutschen weithin bekannten Wort Jeck (hochdeutsch Geck), „Narr“, das sich lautlich mit der Verkleinerungsform Jekl des Namens Ja[n]kev (Jakob) überkreuzt haben soll.[10] In diesem Fall hätte man für Jecke vermittels der pejorativen Bezeichnungen jüdischer Personen als jiddisch Jekl, Jeklein, Jeke „(kleiner) Jakob“ eine wesentlich weiter, bis mindestens ins 16. Jahrhundert zurückzuverfolgende Wortgeschichte anzusetzen.[11]
Hebräisch wird Jecke (יקה) auch scherzhaft als Akronym für „jehudi kashe havanah“ („begriffsstutziger Jude“) aufgelöst.[7]
Sonstiges
BearbeitenDer Pädagoge Israel Shiloni (ישראל שילוני, Hans Herbert Hammerstein, 1901–1996),[12] der aus einer Familie des assimilierten Berliner Judentums stammte und vor der endgültigen Emigration nach Palästina vorwiegend in Frankfurt am Main, Bonn und Stettin tätig gewesen war, begann 1971 in Naharija mit dem Aufbau eines Museums zur Kultur des deutschen Judentums, dessen Sammlung er 1992 dem Industriellen Stef Wertheimer übertrug und die seither im „Tefen Open Museum“ Wertheimers (siehe Tefen-Skulpturengarten) unter dem Namen Museum des Deutschsprachigen Judentums Tefen eine neue Heimstatt fand. Durch eine Wanderausstellung, die das Tefener Museum in Verbindung mit dem Berliner Centrum Judaicum erstmals 2008 in Berlin unter dem Titel „Jeckes. Die deutsch-sprachigen Juden in Israel“ zeigte, wurde die Geschichte von Shilonis Sammlung auch in Deutschland einem größeren Publikum bekannt.[13]
Zitate
Bearbeiten„Es ist übrigens merkwürdig, wie sich hier die Perspektive der Judenfrage tiefsinnig verändert. Die Deutschen empfanden die Juden als Fremde, und sogar ein Teil der Juden fühlte sich fremd in Deutschland. Hier aber empfinden die Juden, die in ihrer großen Mehrheit Ostjuden sind, die deutschen Juden als Fremde. Sie bemerken mehr Deutsches als Jüdisches an ihnen.“
„Jede Alijah (Einwanderungswelle) war wegen ihrer sonderbaren Gepflogenheiten ein wenig belächelt worden – doch keine mehr als die der Jeckes. Die deutschen Juden waren häufig Zielscheibe des allgemeinen Spotts. Die Erwachsenen brauchten sehr lange, bis sie die hebräische Sprache einigermaßen beherrschten, und sie wurden niemals ihren sehr starken deutschen Akzent los. Doch es war nicht nur die Sprache, es war auch die gewundene Höflichkeit so gut und streng erzogener Menschen – Männer, die ihre Hüte lüfteten, wenn sie guten Tag sagten, und der endlose Strom von ‚danke schön‘ und ‚bitte schön‘. Die Osteuropäer fanden dieses Verhalten lächerlich.“
„Ich bin halt eine reine Jeckete: Wenn ich sage, dass ich um zehn komme, dann bin ich zwei Minuten vor zehn da. Manchmal will ich gar nicht zwischen den ersten sein, bei einer Feier oder so, aber es gelingt mir nicht.“
„Was ist der Unterschied zwischen einem Jecke und einer Jungfrau? Jecke bleibt Jecke.“
Siehe auch
Bearbeiten- Westjuden
- Tzabar, auch »Sabre«
- Jeckes – Die entfernten Verwandten
Literatur
Bearbeiten- José Brunner (Hrsg.): Deutsche(s) in Palästina und Israel : Alltag, Kultur, Politik. Wallstein, Göttingen 2013.
- Gisela Dachs (Hrsg.): Jüdischer Almanach: Die Jeckes. Frankfurt am Main 2005.
- Shlomo Erel (Hrsg.): Jeckes erzählen. Aus dem Leben deutschsprachiger Einwanderer nach Israel. 2. Auflage. LIT-Verlag, Wien 2004, ISBN 3-8258-7589-X. (= Edition Mnemosyne, 12).
- Anath Feinberg: Jeckes. In: Dan Diner (Hrsg.): Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur (EJGK). Band 3: He–Lu. Metzler, Stuttgart/Weimar 2012, ISBN 978-3-476-02503-6, S. 180–183.
- Gideon Greif (Hrsg.): Die Jeckes. Deutsche Juden aus Israel erzählen. Böhlau, Köln / Weimar / Wien 2000, ISBN 3-412-11599-1.
- Gideon Greif: Die Jeckes. In: Hermann Zabel (Hrsg.): Stimmen aus Jerusalem: zur deutschen Sprache und Literatur in Palästina – Israel. LIT-Verlag, Berlin 2006, ISBN 3-8258-9749-4, S. 59–83. (= Deutsch-israelische Bibliothek, 2)
- Arndt Kremer: Brisante Sprache? Deutsch in Palästina und Israel. In: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ), 6/2015, S. 35–41.
- Arndt Kremer: Lost Spaces, lost in Space: Spatial memory and language attitudes of German-Jewish emigrants in Palestine in the 1930s and 40s. In Sabine Sander (Hrsg.): Language as Bridge and Border. Linguistic, Cultural, and Political Constellations in 18th to 20th Century German-Jewish Thought. Hentrich & Hentrich, Berlin, S. 155–175.
- Klaus Kreppel: Israels fleißige Jeckes. Zwölf Unternehmerportraits deutschsprachiger Juden aus Nahariya. Westfalen Verlag, Bielefeld 2002, ISBN 3-88918-101-5.
- Klaus Kreppel: Nahariyya – das Dorf der „Jeckes“. Die Gründung der Mittelstandssiedlung für deutsche Einwanderer in Eretz Israel 1934/35. The Open Museum, Tefen 2005, ISBN 965-7301-01-7.
- Klaus Kreppel: Nahariyya und die deutsche Einwanderung nach Eretz Israel. Die Geschichte seiner Einwohner von 1935 bis 1941. The Open Museum, Tefen 2010, ISBN 978-965-7301-26-5.
- Gerda Luft: Mitgestalter Israels: Die Jeckes. Was Israel den Juden aus Deutschland verdankt. In: MERIAN Israel, Hoffmann und Campe, Hamburg 1978, ISBN 3455278124.
Weblinks
BearbeitenEinzelnachweise
Bearbeiten- ↑ Schalom Ben-Chorin: Im Exil wird die Muttersprache zum Schutzwall. In: Peter Emil Nasarski (Hrsg.): Sprache als Heimat: Auswanderer erzählen (= Schriftenreihe der Internationalen Assoziation Deutschsprachiger Medien. 2). Westkreuz Verlag, Berlin u. a. 1981, ISBN 3-922131-04-2, S. 92 ff. Wieder In: Schalom Ben-Chorin: Germania Hebraica: Beiträge zum Verhältnis von Deutschen und Juden. Bleicher, Gerlingen 1982, ISBN 3-88350-225-1, S. 50–54, erzählt von einem Prozess, in dem gegen die Aufführung eines Films mit dem als beleidigend empfundenen Wort im Filmtitel geklagt wurde, und in dem der Richter, selber ein Jecke, die Klage abgelehnt haben soll mit der Begründung, dass das Wort keine Beleidigung, sondern ein „Ehrentitel“ sei, den er selbst der „sicher korrekten, aber gewissermaßen lieblosen“ Bezeichnung „deutscher Jude“ vorziehe.
- ↑ Schlomo Er'el: Deutsche Juden: Die ‚Jeckes‘ im israelischen Humor. HaGalil, abgerufen am 13. März 2023.
- ↑ a b Greif: Die Jeckes. 2006, S. 62.
- ↑ a b Edward Serotta: Jews, Germans, memory: a contemporary portrait. Nicolai, Berlin 1996, ISBN 3-87584-608-7, S. 33.
- ↑ Diethard Aschoff: Zur Geschichte der Juden in Westfalen. Anmerkungen zum Forschungsstand. In: Westfälische Forschungen, Jg. 36 (1986), S. 136–146, hier S. 144.
- ↑ Die Eigenbezeichnung in lateinischen Lettern lautete von 1932 bis 1939 Hitachduth Olej Germania (wie beim Mitteilungsblatt der Hitachduth Olej Germania im Titel), zwischen 1940 und 1942 Hitachdut Olej Germania we Austria (vgl. Mitteilungsblatt der Hitachdut Olej Germania we Austria), dann von 1943 bis 2006 Irgun Olej Merkas Europa (hebräisch אִרְגּוּן עוֹלֵי מֶרְכַּז אֵירוֹפָּה Irgūn ʿŌlej Merkaz Ejrōpah, deutsch ‚Organisation der Olim Mitteleuropas‘; wie in ihrem Organ: MB - Wochenzeitung des Irgun Olej Merkas Europa), seither führt der Verein den jetzigen Namen Vereinigung der Israelis mitteleuropäischer Herkunft (hebräisch אִרְגּוּן יוֹצְאֵי מֶרְכַּז אֵירוֹפָּה Irgūn Jōtz'ej Merkaz Ejrōpah, deutsch ‚Organisation der aus Mitteleuropa Stammenden‘; vgl. Titel ihres Organs Yakinton / MB: Mitteilungsblatt der Vereinigung der Israelis mitteleuropäischer Herkunft).
- ↑ a b c d e Greif: Die Jeckes. 2006, S. 61 f.
- ↑ Salcia Landmann: Jüdische Witze. DTV, 1963.
- ↑ Steven E. Aschheim: Caftan and Cravat: The „Ostjude“ as a Cultural Symbol in the Development of German Anti-Semitism. In: Seymour Drescher, David Sabean, Allan Sharlin (Hrsg.): Political Symbolism in Modern Europe: Essays in Honor of George L. Mosse. Transaction Books, New Brunswick (NJ) 1982, ISBN 0-87855-422-X, S. 81–99.
- ↑ Dov Sadan: Alter Terakh: The Byways of Linguistic Fusion. In: Uriel Weinberg (Hrsg.): The Field of Yiddish: Studies in Language, Folklore and Literature. Band 1 (= Publications of the Linguistic Circle of New York: 3). New York 1954, S. 134–142.
- ↑ Evi Butzer: Die Anfänge der jiddischen purim shpiln in ihrem literarischen und kulturgeschichtlichen Kontext. Buske, Hamburg 2003, ISBN 3-87548-333-2, S. 176, Anm. 731. (= Jidische schtudies, 10)
- ↑ Zu Shiloni siehe Sophie Buchholz: Hans Herbert Hammerstein, Yisrael Shiloni. Eine pädagogische Biographie. Magisterarbeit Universität Potsdam, 2008 (PDF).
- ↑ Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum: Jeckes. Die deutsch-sprachigen Juden in Israel. Text zur Ausstellung vom 13. Oktober bis 30. Dezember 2008.
- ↑ Zitiert in: Noam Zadoff: Geschichte Israels. Von der Staatsgründung bis zur Gegenwart. C. H. Beck, München 2020, ISBN 978-3-406-75755-6, S. 20.
- ↑ Zitiert nach Meir Faerber (Hrsg.): Auf dem Weg: Eine Anthologie deutschsprachiger Literatur in Israel. Bleicher, Gerlingen 1989, ISBN 3-88350-442-4, S. 237.