Kenosis

Christi Verzicht auf göttliche Attribute bei der Menschwerdung
(Weitergeleitet von Kenose)

Kenosis (altgriechisch κένωσις kénōsis „Leerwerden“, „Entäußerung“), auch Kenose, ist das Substantiv zu dem von Paulus im Brief an die Philipper gebrauchten Verb altgriechisch ἐκένωσεν ekénōsen „er entäußerte sich“ (Phil. 2, 7). Über Jesus Christus ausgesagt, bedeutet der Begriff den Verzicht auf göttliche Attribute bei der Menschwerdung. Darüber hinaus kann er das „Leerwerden“ des einzelnen Gläubigen für den Empfang der göttlichen Gnade bezeichnen. Der jüdische Philosoph Hans Jonas bezog die Kenosis-Vorstellung auf die „Selbstentäußerung des Schöpfergeistes im Anfang der Dinge“[1].

Herkunft

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Der Bezugstext, dem das Substantiv Kenosis entlehnt ist, findet sich im Philipperbrief. Paulus zitiert in Phil 2,5–11 LUT wahrscheinlich einen ihm schon vorliegenden Hymnus[2] (hier nach der revidierten Luther-Übersetzung von 2017):

„(5) Seid so unter euch gesinnt, wie es der Gemeinschaft in Christus Jesus entspricht: (6) Er, der in göttlicher Gestalt war, hielt es nicht für einen Raub, Gott gleich zu sein, (7) sondern entäußerte sich selbst (heauton ekenosen) und nahm Knechtsgestalt an, ward den Menschen gleich (…)“

Der Hymnus steht im Zusammenhang eines Werbens um Einheit in der Gemeinde: Dazu achte "in Demut einer den anderen höher als sich selbst, und ein jeder sehe nicht oft das Seine, sondern auch auf das, was dem anderen dient" (Phil 2,3-4 Lut).[3] Für Christus, aber auch für die, die ihm in seiner Kenosis nachfolgen, ist die Selbsterniedrigung in Demut nicht ein Ziel in sich, sondern hat ihr Ziel in der Verherrlichung des Vaters, weil Christus nicht nach der Weise irdischer Herrscher die Herrschaft erlangt[4], sondern durch Demut und Liebe, auf „dass Jesus Christus der Herr ist, zu Ehre Gottes des Vaters“ (Phil 2,11bc Lut).[5]

Auch wenn in der Theologie seit ältester Zeit zumeist die hier beschriebene Kenosis als "Selbstentäußerung des präexistenten" Christus gedeutet wird,[6] kann der Hymnus auch verstanden werden als ein Lobpreis des menschengewordenen Gottessohnes, der sich als Mensch seiner von seinem Vater gegebenen Möglichkeiten entleert.[7]

Katholische Theologie und Spiritualität

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In der katholischen und orthodoxen Theologie ist die Kenosis ein grundlegendesr Bestandteil der Christologie. Sie erklärt, wie Gott, der allmächtig und unendlich ist, sich auf eine Weise dem Menschen annähern konnte, die eine echte Beziehung ermöglichte. Die Kenosis betont die Einheit von göttlicher und menschlicher Natur in Christus. Sie ist Ausdruck der Liebe Gottes zur Menschheit und seiner Bereitschaft, sich der Sterblichkeit zu unterwerfen.[8]

Hans Urs von Balthasar

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Hans Urs von Balthasar hat in seiner Theodramatik wie kein anderer die Kenosis zum Mittelpunkt seiner Theologie gemacht. Gegenüber einer augustinischen Trinitätstheologie betont er, dass "die Grundbewegung, die im dreifaltigen Gott anzunehmen ist, (...) Hingabe, ja Entäußerung heißt, nicht aber Ansichhalten 'und Selbstbehauptung ist."[9] Der schweizerische Theologe hat dabei Anregungen von russisch-orthodoxen Theologen des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts, insbesondere Sergej Bulgakow aufgegriffen. Baltasar hat die kenotische Entäußerungsbewegung bis an die Grenzen des Denkbaren verfolgt: In einer Theologie des Karsamstags, da Gott tot ist, da der Logos verstummt zum Wort, das kein Wort mehr ist, wendet sich Balthasar von dem in der Tradition breit vertretenen Triumphalismus ab. Der tote Gottessohn lässt sich im Gehorsam in den Abstieg zur Unterwelt (descensus ad inferos) verfügen, er hinterlegt seine Gottheit in die Hände des Vaters, um denen nahe zu sein, die keine Nähe mehr kennen.[10]

Spiritualität

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Die Lehre von der Kenosis ermutigt dazu, sich selbst aufzuopfern und den Nächsten zu dienen. Sie zeigt, dass Gott nicht fern und unnahbar ist, sondern den Menschen in Christus ganz nahegekommen ist.

Das Apostolische Schreiben "Dies Domini" (1998) von Papst Johannes Paul II. nimmt Bezug auf die Kenosis-Lehre, insbesondere im Zusammenhang mit der Eucharistie. Diese wird vom Papst als lebendige Vergegenwärtigung des Opfers von Golgota beschrieben, bei dem Christus sich in einer Haltung der Kenosis dem Vater darbringt. Diese Selbsthingabe Christi wird in der Eucharistie gefeiert und erinnert, was die Gläubigen dazu aufruft, sich ebenfalls in einer Haltung der Demut und Hingabe zu üben und die gleiche Haltung der Selbsthingabe und Demut anzunehmen, die Christus vorgelebt hat.

„Diese jeder Eucharistiefeier innewohnende »Aufwärtsbewegung«, die sie zu einem freudigen, von Dankbarkeit und Hoffnung erfüllten Ereignis macht, wird aber in der Sonntagsmesse durch deren besonderen Zusammenhang mit dem Gedächtnis der Auferstehung ausdrücklich hervorgehoben. Andererseits ist die »eucharistische« Freude, die »unsere Herzen erhebt«, Frucht der »Abwärtsbewegung«, die Gott zu uns hin vollzogen hat und die für immer zum Wesen der Eucharistie als Opfer gehört, erhabenster Ausdruck und Feier des Mysteriums der kénosis, das heißt der Demütigung, durch die Christus »sich erniedrigte und gehorsam war bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz« (Phil 2,8).“

Johannes Paul II., Papst: Apostolisches Schreiben Dies Domini, 31. Mai 1998[11]

Protestantismus

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Die Frage, wie das Verhältnis der göttlichen und menschlichen Natur Jesu zueinander zu denken sei, wurde vor allem in der protestantischen Theologie des 16. und dann des 19. Jahrhunderts diskutiert und unterschiedlich beantwortet.

Im 16. und 17. Jahrhundert:

  • Martin Chemnitz (1522–1586) vertrat die Auffassung, dass Jesus Christus bei der Menschwerdung großenteils auf seine göttlichen Eigenschaften verzichtet habe. Diese kenotische Christologie wurde dann vor allem an der Universität Gießen vertreten.
  • Dagegen stand eine Christologie, die auf Johannes Brenz (1499–1570) fußend vor allem an der Universität Tübingen vertreten wurde, nämlich „daß Jesus Christus nicht nur […] im Besitz der göttlichen Eigenschaften […] sei, sondern daß er sie tatsächlich auch […] gebraucht habe“.[12]
  • Daraus entstand zwischen beiden Fakultäten der Kenosis-Krypsis-Streit, der in der Decisio Saxonica 1624 entschieden wurde.[13]

Im 19. Jahrhundert bildete sich eine eigene Schule von Kenotikern:

  • Wolfgang Friedrich Geß (oder Gess)[14] vertrat darüber hinaus, dass Jesus auch diese immanenten Eigenschaften nicht besessen, ja nicht einmal das Bewusstsein gehabt habe, von jeher Gott zu sein. „Man muß bei Geß fragen, ob von einer Gegenwart Gottes in dem Menschen Jesus überhaupt noch etwas bleibt.“ (Paul Althaus)

Von der katholischen Kirche wurde diese Lehre der protestantischen „Kenotiker“ verurteilt. Pius XII. erklärte in der Enzyklika Sempiternus rex Christus 1951:

„Völlig unvereinbar mit dem Glaubensbekenntnis von Chalcedon ist auch eine unter Nichtkatholiken ziemlich weit verbreitete Ansicht, der eine leichtfertige und falsch ausgelegte Stelle aus dem Philipperbrief des heiligen Paulus (Phil 2, 7) eine Handhabe und einen Schein von Autorität bot – die Lehre von der sogenannten ‚Kenose‘ –, nach der man in Christus eine ‚Entäußerung‘ der Gottheit des Wortes annimmt. Diese wahrhaft gotteslästerliche Erdichtung ist, ebenso wie der gegenteilige Irrtum des Doketismus, zu verwerfen, da sie das ganze Geheimnis der Menschwerdung und Erlösung zu einem blutlosen und nichtigen Schatten entwertet. ‚In der unversehrten und vollkommenen Natur eines wahren Menschen‘, so lehrt eindrucksvoll Leo der Große, ‚wurde der wahre Gott geboren, vollständig seiner Eigenart nach, vollständig der unsern nach.‘“

Ep.〈Brief〉28, 3. PL 54, 763[15]

Der evangelische Theologe Klaus Berger greift im 21. Jahrhundert die Diskussionen auf und spricht von einer doppelten Kenosis:

„Der Vater […] ist [so Paulus in Röm und 1 Kor] zweifach aus sich selbst heraus und in die menschliche Wüste hinabgestiegen. Man kann das auch eine zweifache Kenosis (Selbsterniedrigung) nennen. Gott scheut sich nicht, in einem palästinensischen Mädchen Mensch zu werden, und er scheut sich nicht, im Herzen jeder Christin und jedes Christen zu wohnen als Heiliger Geist. Bei dieser Kenose wird er jeweils neu als er selbst erkennbar. Er liefert sich zweifach aus. Warum er das tut? Paulus würde antworten: Weil er die Menschen liebt.“[16]

Die Kenosis-Vermutung bei Hans Jonas

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„Im Anfang, aus unerkennbarer Wahl, entschied der göttliche Grund des Seins, sich dem Zufall, dem Wagnis und der endlosen Mannigfaltigkeit des Werdens anheimzugeben. Und zwar gänzlich: Da sie einging in das Abenteuer von Raum und Zeit, hielt die Gottheit nichts von sich zurück; kein unergriffener und immuner Teil von ihr blieb, um die umwegige Ausformung ihres Schicksals in der Schöpfung von jenseits her zu lenken, zu berichtigen und letztlich zu garantieren. Auf dieser bedingungslosen Immanenz besteht der moderne Geist. Es ist sein Mut oder seine Verzweiflung, in jedem Fall seine bittere Ehrlichkeit, unser In-der-Welt-Sein ernst zu nehmen: die Welt als sich selbst überlassen zu sehen, ihre Gesetze als keine Einmischung duldend, und die Strenge unserer Zugehörigkeit als durch keine außerweltliche Vorsehung gemildert. […] Damit Welt sei, und für sich selbst sei, entsagte Gott seinem eigenen Sein; er entkleidete sich seiner Gottheit, um sie zurück zu empfangen von der Odyssee der Zeit, beladen mit der Zufallsernte unvorhersehbarer zeitlicher Erfahrung, verklärt oder vielleicht auch entstellt durch sie. In solcher Selbstpreisgabe göttlicher Integrität um des vorbehaltlosen Werdens willen kann kein anderes Vorwissen zugestanden werden als das der Möglichkeiten, die kosmisches Sein durch seine eigenen Bedingungen gewährt: Eben diesen Bedingungen lieferte Gott seine Sache aus, da er sich entäußerte zugunsten der Welt.“[17]

Hans Jonas knüpfte damit an die im 16. Jahrhundert in der jüdischen Mystik entstandene Vorstellung vom Tzimtzum an.[18]

Kenosis in Kunst und Literatur

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Botho Strauß gebraucht in Lichter des Toren. Der Idiot und seine Zeit (2013) des Öfteren „Kenosis“, ebenso die Container-Metapher[19].

Literatur

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Einzelnachweise

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  1. Hans Jonas: Geist, Natur und Schöpfung. Kosmologischer Befund und kosmogonische Vermutung, in: Hans-Peter Dürr, Walther Christoph Zimmerli (Hrsg.): Geist und Natur. Über den Widerspruch zwischen naturwissenschaftlicher Erkenntnis und philosophischer Welterfahrung, Scherz, München 1989, S. 61–77, bes. S. 72.
  2. Begründung und Literatur bei: Ulrich B. Müller: Der Brief des Paulus an die Philipper, Theologischer Handkommentar zum Neuen Testament, hg. von Erich Faschert, Joachim Rohde, Udo Schnelle und Christian Wolff, Leipzig Evangelische Verlagsanstalt 2. Auflage 2002, ISBN 3-374-01463-1, S. 92f. Zu Zweifeln am hymnischen Charakter des Textes vgl. S. 95.
  3. "Wenn Gott seiner selbst nicht geachtet hat, wer kann dann noch auf sich selber bedacht sein?" - Erik Peterson: Apostel und Zeuge Christi. Auslegung des Philipperbriefes, Freiburg Herder 2. Auflage 1941, S. 15. Vgl. auch Erik Peterson: Der Name über Allen Namen (Phil 2,6-11), in: Ausgewählte Schriften, Würzburg Echter 2006, ISBN 978-3-429-02835-0, S. 451–457.
  4. "The self-humiliating Christ (who did not claim equality with God) is conceived as an antitypos of the self-elevating rulers of the world", aus dem Summary zu Samuel Vollenweider: Der „Raub“ der Gottgleichheit. Ein religionsgeschichtlicher Vorschlag zu Phil 2,6(–11), Horizonte neutestamentlicher Christologie, Studien zu Paulus und zur frühchristlichen Theologie, Tübingen 2002 (WUNT 144), 263–284.
  5. Teresa Kuo-Yu Tsui, "Kenosis" in the letter of Paul to the Philippians: The way of the suffering Philippian community to salvation, in: Louvain studies, 31(3/4), S. 306–321.
  6. Ulrich B. Müller: Der Brief des Paulus an die Philipper, Theologischer Handkommentar zum Neuen Testament, hg. von Erich Faschert, Joachim Rohde, Udo Schnelle und Christian Wolff, Leipzig Evangelische Verlagsanstalt 2. Auflage 2002, ISBN 3-374-01463-1, S. 96–98.
  7. "Die 'kenosis' ist also nicht Entäußerung von seiner Gottheit, weder durch die Menschwerdung noch durch sein Sterben, sondern der Verzicht des Menschen Jesus auf die Ausübung seiner göttlichen Macht, besonders in seiner letzten Phase, und in der Hingabe seines Menschseins in den Tod, wie Paulus auch in Röm 6,3-10 nicht vom Präexistenten spricht, sondern von 'Jesus Christus'." Norbert Baumert: Der Weg des Trauens: Übersetzung und Auslegung des Briefes an die Galater und des Briefes an die Philipper, Würzburg Echter 2009, ISBN 978-3-429-03156-5, S. 295.
  8. Internationale Katholische Zeitschrift COMMUNIO, Heft 3/2015: Kenosis: Die Macht der Ohnmacht, abgerufen am 20. September 2024
  9. Werner Löser: Kleine Hinführung zu Hans Urs von Balthasar. Freiburg Herder 2005, ISBN 978-3-451-28781-7, S. 109.
  10. Werner Löser: Kleine Hinführung zu Hans Urs von Balthasar. Freiburg Herder 2005, ISBN 978-3-451-28781-7, S. 149–153.
  11. Dies Domini auf der Website des Vatikan, Nr. 43, abgerufen am 20. September 2024
  12. Wolfhart Pannenberg: Grundzüge der Christologie, 6. Auflage, Gütersloh 1982, S. 318.
  13. John Aquinas.Farren: The Lutheran Krypsis-kenosis Controversy: The Presence of Christ, 1619 - 1627, Washington 1974
  14. Friedrich Wilhelm Bautz: Gess, Wolfgang. In: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon (BBKL). Band 2, Bautz, Hamm 1990, ISBN 3-88309-032-8, Sp. 235–236.
  15. Pius XII.: Enzyklika Sempiternus Rex Christus, Abs. 29.
  16. Klaus Berger: Ist Gott Person? Ein Weg zum Verstehen des christlichen Gottesbildes, Gütersloh 2004, S. 161.
  17. Hans Jonas: Der Mythos von Gottes In-der-Welt-Sein, in: ders., Der Gottesbegriff nach Auschwitz. Eine jüdische Stimme (1984), Suhrkamp, 14. Auflage, Frankfurt/M. 2013 (1987), S. 15 ff.
  18. Christoph Schulte: Zimzum. Gott und Weltursprung, Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, Berlin 2014, S. 405 ff.
  19. Jochen Schimmang: Botho Strauß' „Lichter des Toren“: Im Wunderland. In: Die Tageszeitung: taz. 23. September 2013, ISSN 0931-9085 (taz.de [abgerufen am 18. August 2023]).