Sellafield

Nuklearkomplex in England
(Weitergeleitet von Kernkraftwerk Windscale)

Sellafield (früher Windscale) ist ein britischer Nuklearkomplex an der Irischen See in der Grafschaft Cumbria in Nordwestengland. Der River Ehen mündet am Rande der Anlage ins Meer und der River Calder fließt durch das Gebiet der Anlage, bevor er dort ebenfalls ins Meer mündet. Die Anlage liegt beim Dorf Seascale in der Unitary Authority Cumberland.

Sellafield
Luftbild der Sellafield-Anlage (2005). Die vier Kühltürme des KKW Calder Hall wurden 2007 abgerissen. Der Abluftturm des Windscale Reaktors 2 wurde bereits 2001 abgerissen. Auf dem Foto ist der ca. 125 m hohe Turm des verunglückten Reaktors 1 noch zu erkennen, welcher sich im aktiven Rückbau (bis ca. 2025) befindet. Die Kugel ist der WAGR, welcher bereits 1981 stillgelegt wurde mit vollständigem Rückbau bis ca. 2005. (Stand 2023).
Luftbild der Sellafield-Anlage (2005). Die vier Kühltürme des KKW Calder Hall wurden 2007 abgerissen. Der Abluftturm des Windscale Reaktors 2 wurde bereits 2001 abgerissen. Auf dem Foto ist der ca. 125 m hohe Turm des verunglückten Reaktors 1 noch zu erkennen, welcher sich im aktiven Rückbau (bis ca. 2025) befindet. Die Kugel ist der WAGR, welcher bereits 1981 stillgelegt wurde mit vollständigem Rückbau bis ca. 2005. (Stand 2023).
Lage
Sellafield (Cumbria)
Sellafield (Cumbria)
Koordinaten 54° 25′ 7″ N, 3° 29′ 51″ WKoordinaten: 54° 25′ 7″ N, 3° 29′ 51″ W
Land Vereinigtes Königreich
Daten
Eigentümer Nuclear Decommissioning Authority
Betreiber Sellafield Ltd
Projektbeginn 1958
Kommerzieller Betrieb 1. März 1963
Stilllegung 3. April 1981

Stillgelegte Reaktoren (Brutto)

1 (sowie Windscale 1+2)  (41 MW)
Eingespeiste Energie seit Inbetriebnahme 3.258 GWh
Stand 10.07.2023
Die Datenquelle der jeweiligen Einträge findet sich in der Dokumentation.

Der Betreiber am Standort ist die Sellafield Ltd, ein Unternehmen der Nuclear Decommissioning Authority (NDA). Sellafield, wie auch andere nukleare Anlagen in Großbritannien, werden von der Atomaufsichtsbehörde Office for Nuclear Regulation (ONR) reguliert.[1][2]

Der Komplex wurde durch einen katastrophalen Brand 1957[3] und durch häufige nukleare Störfälle bekannt und unter anderem deshalb auch 1981 in Sellafield umbenannt. Auf dem Gelände des Komplexes befindet sich außerdem das Kernkraftwerk Calder Hall, das als erstes westliches Kernkraftwerk Strom in ein kommerzielles Netz einspeiste.

Geschichte

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Das ehemalige Besucherzentrum von Sellafield (2006)

Die erste Anlage entstand nach dem Zweiten Weltkrieg auf dem Gelände einer Munitionsfabrik. Die Zuständigkeit für die Kernforschung hatte seit 1952 die United Kingdom Atomic Energy Authority (UKAEA).[4] Großbritannien wollte mit der US-amerikanischen Atomwaffenentwicklung (vgl. Manhattan-Projekt) technologisch und militärisch gleichziehen. Dabei musste ein eigenes, britisches Nuklearprogramm gestartet werden, da Großbritannien überraschend von dem amerikanischen McMahon Act aus dem Jahr 1946 vom Wissen und der Forschung zu Kernwaffen ausgeschlossen wurde.

Die auch unter dem Begriff Pile 1 bzw. Pile 2 bekannt gewordenen, luftgekühlten graphitmoderierten Windscale-Reaktoren (auch genannt British Production Piles[5]) waren die erste britische Produktionsanlage zur Herstellung des benötigten waffenfähigem Plutonium-239. Sie wurde für das britische Kernwaffenprogramm in den späten 1940er-Jahren errichtet. Zwischen den beiden Reaktoren (Pile 1 und 2) befand sich das Abklingbecken für abgebrannte Brennelemente sowie eine erste ältere Wiederaufarbeitungsanlage.

Bei den hastigen Bemühungen, eine britische Atombombe zu bauen, wurde anfänglich wenig auf Umwelt und Gesundheit geachtet und radioaktiver Abfall bis etwa in die 1970er Jahre[6] in die Irische See geleitet.[7] Ab diesem Zeitpunkt wurden die Abflüsse durch die Maßnahmen und Aktivitäten der Firma British Nuclear Fuels (BNFL) stark reduziert, mit Anpassungen an strengere Grenzwerte. Nach Angaben von BNFL wurden bspw. die Dosen für Mitglieder der marine critical group von etwa 2 Millisievert pro Jahr in den frühen 1980er Jahren auf etwa 0,1 Millisievert pro Jahr gesenkt (Stand 2000). Die Empfehlungen der Grenzwerte stammen z. B. von der Internationalen Strahlenschutzkommission (ICRP).[8] Auf ähnliche Weise wie bei Windscale bzw. Sellafield verklappten damals auch die USA (siehe Hanford Site) und die Sowjetunion einen Teil ihrer radioaktiven Abfälle.

1957 kam es in einem der Reaktoren zu einem Brand des Reaktorkerns, der retrospektiv als INES 5 („ernster Unfall“) eingestuft wurde.[9]

Der Windscale Vitrification Plant soll bis 2030 operativ bleiben.[10]

Rückbau

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Als erste Anlage wurde der WAGR-Reaktor nach einer Rückbaukampagne von über 20 Jahren im Mai 2011 außer Betrieb genommen.[11]

Bis in das Jahr 2018 wurde mit dem Thermal Oxide Reprocessing Plant (Thorp) die Wiederaufbereitung von ausländischen Brennelementen bedient und schließlich beendet.[12] Zu den Kunden zählten Italien, Japan, Schweiz, Deutschland und die Niederlande.[10] Für den Transport und Rücktransport ist die Nuclear Transport Solutions (NTS) zuständig. Sie gehört zur NDA.[13] Bis 2070 soll THORP für das Lagern von Brennelemente genutzt werden.[14]

Im Februar 2019 hat man begonnen, die 125 m hohen Schornsteine von Pile One abzubauen.[15] Drei Jahre später war der viereckige Luftverteiler abgebaut und zerlegt worden.[16]

Kurz vor Mitternacht am 17. Juli 2022 wurde die letzte Ladung abgebrannter Brennelemente in die Chargenmaschine der Magnox-Wiederaufbereitungsanlage 205 eingespeist und in Salpetersäure aufgelöst, um das Plutonium und Uran von den radioaktiven Abfälle abzutrennen. Mit der Anlage 205 wurden seit 1964 fast 55.000 Tonnen Magnox-Brennelemente wiederaufbereitet.[17]

Die Kosten (Stand 2013) der Stilllegung der Anlage bis 2020 wurde von der Rechnungsprüfungskommission im britischen Unterhaus auf 67,5 Mrd. Pfund Sterling (78 Mrd. Euro) geschätzt.[18][19] Laut Schätzungen aus dem Jahr 2018 soll der Rückbau der Wiederaufbereitungsanlage bis zum Jahr 2120 dauern und etwa 121 Mrd. Pfund kosten.[20] Im Jahre 2024 hat das NOA (National Audit Office) eine neue Kostenschätzung vorgelegt: 136 Mrd. Pfund (163 Mrd. Euro) und Rückbau bis frühestens 2125.[21] Die Gesamtkosten für die Stilllegung der Anlage schätzt die NDA auf bis zu 300 Milliarden Euro.[22]

Organisation

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Alle Angaben Stand 2023.

Der Vorstand von Sellafield Ltd ist Tony Meggs. Interim Chief Executive Officer ist Euan Hutton.[23] Es arbeiten rund 11.000 Menschen aktiv an der Anlage und weitere 40.000 in der Zulieferindustrie.[24]

Der Anlagenkomplex wird von der Civil Nuclear Constabulary, einer Polizeieinheit für Nuklearanlagen in Großbritannien, überwacht und kontrolliert.

Kernanlagen

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Altes Foto der beiden Windscale Reaktoren 1+2. Die Kugel links ist der WAGR.

Auf dem Gelände befinden sich nebst den Kernreaktoren (s. u.), die kerntechnische Anlagen:[25]

Am Standort existieren, unabhängig von Calder Hall, die Kraftwerksblöcke:

Reaktorblock Reaktortyp Netto-
leistung
Brutto-
leistung
Baubeginn Netzsyn-
chronisation
Kommerzieller/Militärischer Betrieb Abschaltung
Windscale Reaktor 1 Graphit/Luft n.b. n.b. 1947–50 n. r. 1951 1957
Windscale Reaktor 2 Graphit/Luft n.b. n.b. 1947–50 n. r. 1952 1957
Windscale Advanced Gas-Cooled Reactor (WAGR)[28][29][30] AGR 24 MW 36 MW 1. November 1958 1. Februar 1963 1. März 1963 3. April 1981
Panorama (2005). Die Kühltürme des KKW Calder Hall (links) wurden 2007 abgerissen. Freistehend (rechts im Bild) ist der Lüfterturm des verunglückten Windscale Reaktor 1 zu erkennen, welcher sich in aktivem Rückbau befindet (Stand 2023).

Probleme

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Grünen-Mitglied mit Sellafield-Protest-Shirt beim Parteitag 1989
 
Sellafield (2005) Das Gebäude links im Bild mit Schornstein ist eine der Wiederaufarbeitungsanlagen (nicht Thorp).
 
Ansicht von der Eisenbahnlinie (2008). Das Gebäude ist die Wiederaufarbeitungsanlage für oxidische Brennstoffe, Throp.

Zwischenfälle

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Die Sellafield Ltd berichtet ab 1. August 2017 laufend über verschiedene Vorfälle und Probleme auf der Regierungswebseite.[31] Ältere Berichte sind über das Internet Archive verfügbar.[32] Im Folgenden sind einige Fälle genauer beschrieben.

  • Am 10. Oktober 1957 gab es im Reaktor Windscale, der nur zur Erzeugung von Plutonium für den Bau von Atombomben benutzt wurde, ein Feuer, den Windscale-Brand. Es war einer der schwerwiegendsten Atomunfälle vor der Katastrophe von Tschernobyl. Nach mehreren vergeblichen Versuchen konnte das Feuer am 11. Oktober durch Wasser sowie durch das Abschalten der Luftzufuhr gelöscht werden. Es kam zu einer erheblichen Freisetzung radioaktiver Stoffe (INES 5). Die britische Regierung erließ nach dem Brand für die Umgebung ein befristetes Verbot für den Verzehr von Milch, sie verschwieg lange Zeit die Schwere des Vorfalls. Nach dem Unfall wurde der Reaktor stillgelegt.
  • Im April 2005 wurde in Sellafield ein Leck entdeckt, durch das etwa 83.000 Liter radioaktive Flüssigkeit, bestehend aus Salpetersäure, Uran und Plutonium, monatelang unbemerkt entweichen konnten. Die Flüssigkeit wurde jedoch in der Anlage aufgefangen. Nach Betreiberangaben sind Teile der Anlage stark kontaminiert; die Gefahr einer Kontamination der Umwelt habe aber nie bestanden. Es handelt sich um den schwersten Zwischenfall in einer Atomanlage Großbritanniens seit 1992. Er wurde von der Internationalen Atomenergieorganisation als ernster Störfall (INES 3) eingestuft. Die Öffentlichkeit wurde erst Wochen danach informiert, erste Presseberichte erschienen am 9. Mai 2005. Später berichtete der „Independent on Sunday“, dass das Rohr seit August 2004 leck gewesen sei, dies aber erst am 19. April 2005 entdeckt wurde. Für den Zwischenfall wurde das britische Nuklearunternehmen British Nuclear Group (BNG), ein Subunternehmen der ehemaligen BNFL, das für die Stilllegung der Reaktoren von Sellafield zuständig ist, am 16. Oktober 2006 wegen Fahrlässigkeit zur Zahlung von 500.000 Pfund (rund 750.000 Euro) verurteilt. Die Kosten dieses Ereignisses werden auf 76 Millionen Dollar geschätzt.[33]
  • Wegen erhöhten Strahlungsniveaus sind Mitarbeiter des Atomkraftwerks 2014 aufgefordert worden, zu Hause zu bleiben. Das Werk laufe weiter im normalen Betrieb, teilte der Betreiber mit. Die gestiegene Dosisleistung liege über der natürlich auftretenden, sei jedoch weit unter der, bei der Notfallmaßnahmen eingeleitet werden müssten. Tests hätten gezeigt, dass alle Anlagen korrekt und normal funktionierten. Das britische Energieministerium erklärte, es gebe keinen Anlass, an diesen Angaben des Betreibers zu zweifeln.[34]
  • Im Mai 2011 wurden fünf junge Männer wegen Terrorismusverdacht in der Nähe der Anlagen festgenommen.[35]

Abklingbecken FGMSP

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Als besonders problematisch gilt das First Generation Magnox Storage Pond (FGMSP). Das in den 1950er Jahren errichtete Abklingbecken, das bis heute unter freiem Himmel liegt, wurde ursprünglich zur Kühlung und Lagerung abgebrannter Magnox-Brennelemente aus den ersten gasgekühlten Reaktoren Großbritanniens genutzt. Die Brennelemente sind in einer Magnesiumlegierung (Magnox) eingeschlossen, die im Wasser korrodiert. Seit der Einstellung des Betriebs 1986 lagern die Brennelemente ungeschützt im Becken, was über die Jahrzehnte zu einer komplexen, chemisch und radioaktiv belasteten Schlammschicht geführt hat. Diese enthält neben radioaktivem Material auch biologische Ablagerungen wie Algen, die das Becken regelmäßig bewuchern. Die ungeschützte Lage des Beckens führt zusätzlich zu einem weiteren Problem: Möwen, die das Wasser als Badegelegenheit nutzen, werden dabei radioaktiv kontaminiert. Wiederholt mussten die Vögel zur Vermeidung einer Verbreitung der Radioaktivität getötet werden. Um die Korrosion zu verlangsamen, wird dem Becken alkalisches Wasser zugeführt, das den pH-Wert stabil bei etwa 11,5 hält. Die Dekontaminierung erfolgt zudem schrittweise durch das Abpumpen und Filtern des Wassers über die Sellafield-Ionenaustauscheranlage (SIXEP), die das Wasser von radioaktiven Partikeln reinigt, bevor es in die Irische See abgeleitet wird. Der radioaktive Schlamm wird durch ferngesteuerte Maschinen aus dem Becken gesaugt und in große Edelstahltanks überführt, die als Zwischenlager dienen. Obwohl Fortschritte gemacht werden, bleibt die endgültige Entsorgung dieses Abfalls ungelöst. Die Überführung in ein künftiges unterirdisches Endlager steht zur Diskussion.[36]

Spaltbares Material

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Es befinden sich große Mengen Plutonium am Standort.[37] Sellafield lieferte nach Beschluss des ehemaligen Premierministers Clement Atlee das kernwaffenfähige Plutonium für die 1950 begonnenen Entwicklungsarbeiten am Atomic Weapons Establishment (AWE).[38][39]

Gehackte IT-Systeme

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Im Dezember 2023 berichtete der Guardian, es seien wichtige IT-Systeme gehackt und mit Schadsoftware infiltriert worden. Die Vorfälle reichten bis ins Jahr 2015 zurück, seien vom Betreiber aber verheimlicht worden. Es sei unbekannt, ob die Schadsoftware vollständig entfernt wurde, und Quellen deuteten darauf, dass ausländische Hacker auch Zugang zu Daten der höchsten Vertraulichkeitsstufe gehabt hätten. Wegen wiederholter Versäumnisse im Bereich der Cybersicherheit habe die Atomaufsichtsbehörde (Office for Nuclear Regulation) Sondermaßnahmen eingeleitet.[40] Die Aufsichtsbehörde bestätigte, dass die Anlage unter erheblich erhöhter Aufmerksamkeit stehe, auf Grund der laufenden Untersuchung aber keine weiteren Aussagen gemacht werden könnten. Die britische Regierung widersprach den Ausführungen des Guardian.[41][42] 2024 gab der Betreiber der Nuklearanlage Sellafield zu, dass die IT-Systeme unsicher waren und entschuldigte sich für Cybersicherheitsmängel. „Die nationale Sicherheit hätte gefährdet werden können.“[43]

Kontamination der Irischen See und Nordsee

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Die Sellafield-Anlage leitet seit 1952 radioaktive Abwässer in die östliche Irische See ein. Diese Abwässer stammen hauptsächlich aus der Wiederaufarbeitung von abgebrannten Brennelementen und aus Abwässern der Brennstofflagerung und enthalten verschiedene Aktinide und Spaltprodukte, darunter Caesium, Uran, Neptunium, Plutonium und Americium. Die Menge der abgeleiteten radioaktiven Abfälle stieg in den 1960er-Jahren an und erreichte in den 1970er-Jahren einen Höhepunkt. Seit den 1980er-Jahren hat die Einführung neuer Abwasserbehandlungstechnologien jedoch zu einem deutlichen Rückgang der Emissionen geführt, die mittlerweile drei Größenordnungen unter den historischen Spitzenwerten liegen. Mit der Umstellung auf Stilllegung und Dekontaminierung am Standort Sellafield sollen die Einleitungen künftig weiter abnehmen.[44]

Seit 1994 darf die Anlage in Sellafield bestimmte Radionuklide in größeren Mengen ins Meer ableiten, darunter Tritium (3H), Kohlenstoff-14 (14C), Cobalt-60 (60Co), Technetium-99 (99Tc) und Iod-129 (129I). Dagegen wurden die Ableitungen von Alpha-Strahlern, wie Plutonium- und Americium-Isotopen, reduziert. Die für deutsche Verbraucher berechnete Strahlenexposition durch den Verzehr von Fisch und Meeresfrüchten ist gering. Die jährliche Dosis lag 1998 für Verbraucher in der zentralen Nordsee bei etwa 0,08 Mikrosievert (µSv), was weniger als 0,004 % der durchschnittlichen natürlichen Strahlenbelastung (ca. 2400 µSv pro Jahr) entspricht und daher als unbedenklich gilt. Die Irische See ist besonders belastet, da dort hohe Konzentrationen verschiedener Radionuklide festgestellt wurden, die durch die regelmäßigen Einleitungen in Sellafield verursacht werden. Prognosen und Messungen britischer Behörden zeigen, dass nahe Sellafield gelegene Verbrauchergruppen, die größere Mengen Meerestiere konsumieren, einer deutlich höheren Strahlenexposition ausgesetzt sind – etwa 200 µSv im Jahr 1998.[45]

Seit den 1970er Jahren wurden Filter- und Reinigungsanlagen durch die BNFL errichtet und betrieben.[6] Eine der Anlagen ist bspw. Enhanced Actinide Removal Plant (EARP).[46] Eine weitere Anlagen, die seit 1985 aktiv arbeitet, ist die Site Ion Exchange Effluent Plant (SIXEP).[47]

Großbritannien ist, wie auch viele weitere Anrainerstaaten, ein Signatarstaat des Abkommens OSPAR, zum Schutz der Nordsee und Umgebung.[48] In den Messzeiträumen 1995–2001 und 2012–2018 wurden jeweils radioaktive Entladungen von Kernanlagen gemessen und bewertet. Der Ausschuss Radioactive Substances Committee Thematic Assessment attestiert zusammenfassend in seinem Bericht für das Jahr 2023, dass „die Umweltkonzentrationen von Indikatorradionukliden im OSPAR-Meeresgebiet keine signifikanten radiologischen Auswirkungen auf den Menschen oder die Meeresumwelt haben.“[49]

Sellafield berichtet laufend über die Einhaltung von Grenzwerten, festgelegt z. B. von der Internationale Strahlenschutzkommission (ICRP).[8] Es erfolgt eine laufende Strahlungsüberwachung der Umgebung durch die irische Environmental Protection Agency.[50]

Weitere aktuelle (Stand 2021) Kennzahlen zu den verschiedenen Abfallprodukten, den Grenzwerten und Zählungen (Messungen, Statistik) sind öffentlich einsehbar (Discharges and Environmental Monitoring Annual Report 2021).[8]

Krebscluster

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In den Jahren 1955 bis 1983 wurde im britischen Dorf Seascale, nahe der Nuklearanlage Sellafield in Nordwestengland, eine auffällige Häufung von Leukämiefällen bei Kindern festgestellt. Eine ITV-Dokumentation im Jahr 1983 brachte die erhöhte Anzahl an Krankheitsfällen in die Öffentlichkeit und löste landesweite Besorgnis aus. Die Zahl der betroffenen Kinder lag mit sieben Fällen signifikant über dem statistisch erwarteten Wert von weniger als einem Fall, was Spekulationen über mögliche Ursachen, insbesondere den Einfluss radioaktiver Emissionen aus Sellafield, nach sich zog. Daraufhin wurde das Committee on Medical Aspects of Radiation in the Environment (COMARE) gegründet, das über mehrere Jahrzehnte hinweg eine Reihe von Studien durchführte. Die Untersuchungen bestätigten, dass die Rate an Leukämie und Non-Hodgkin-Lymphomen bei Kindern in Seascale zwischen den 1950er Jahren und 1990 tatsächlich erhöht war. Ähnliche Krebscluster wurden auch in der Nähe der Nuklearanlage Dounreay in Schottland dokumentiert.[51]

Viele Studien haben mögliche Ursachen für Cluster bei Sellafield und anderen Nuklearanlagen untersucht. Im Fokus stand zunächst die Strahlung, die mit den Aktivitäten der Anlagen in Verbindung gebracht wurde. Die Ergebnisse zeigen, dass die Strahlendosen aus geplanten Freisetzungen zu gering waren, um die beobachteten Fälle von Leukämie bei Kindern zu erklären. Auch die unabsichtlichen Freisetzungen aus der Sellafield-Anlage werden als unwahrscheinliche Ursache angesehen. Verschiedene Mechanismen im Zusammenhang mit Strahlung wurden analysiert und ausgeschlossen. Obwohl keine eindeutige Erklärung für das Leukämie-Cluster in Sellafield gefunden wurde, wird als eine plausible Hypothese angesehen, dass in neu zusammengesetzten Gemeinschaften Infektionen auf anfällige Personen übertragen werden und in seltenen Fällen Leukämie auslösen können.[52]

Organ-Skandal

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Zwischen 1960 und 1991 wurden in Sellafield sowie an weiteren Standorten nuklearer Anlagen Organe verstorbener Arbeiter ohne Einwilligung entnommen und für Strahlenforschungen genutzt. Eine Untersuchung unter Leitung des Kronanwalts Michael Redfern deckte auf, dass in 64 Fällen bei Sellafield-Mitarbeitern und in 12 weiteren Fällen an anderen Standorten wie Springfields und Aldermaston Organe entnommen wurden, ohne die Angehörigen zu informieren. Die Betroffenen wurden beerdigt oder kremiert, ohne dass ihre Familien von den umfassenden Organentnahmen wussten. Die Praxis umfasste eine breite Palette von Organen. Häufig entnommen wurden Leber, Lungen, Wirbel, Rippen, Lymphknoten, Milz und Nieren, seltener auch Gehirne, Herzen und Hoden. Die meisten Obduktionen wurden von Pathologen des West Cumberland Hospitals durchgeführt, wobei eine „informelle Vereinbarung“ bestand, wonach der Betriebsarzt von Sellafield benachrichtigt wurde. Viele der Entnahmen hatten keinerlei Bezug zur Todesursache. Redfern kritisierte insbesondere die enge Zusammenarbeit zwischen Pathologen, Coronern und Sellafield-Medizinern, die häufig zu Gesetzesverstößen führte. Die Untersuchung zeigte, dass Pathologen Organe entnahmen, ohne die gesetzlich vorgeschriebene Zustimmung einzuholen. Einige Coroner ignorierten Post-mortem-Berichte, andere duldeten bewusst die unrechtmäßigen Praktiken. Die Vorgänge verstießen gegen den Human Tissue Act von 1961, der Entnahmen nur mit Zustimmung des Verstorbenen oder der Angehörigen erlaubt. Knochen wurden sogar durch Besenstiele ersetzt, damit bei den Beerdigungen niemand Verdacht schöpfte. Redfern betonte, dass die Würde der Verstorbenen massiv verletzt worden sei. Viele Angehörige fühlten sich betrogen und verstört. Gewerkschaften und Arbeitnehmervertretungen wie die GMB verurteilten die Vorgänge, betonten jedoch den Nutzen medizinischer Forschung zur Bewertung von Gesundheitsrisiken.[53]

Im Jahr 2010 entschuldigte sich die britische Regierung für die Vorfälle.[54] Eine vollständige Aufarbeitung wurde unter dem Titel The Redfern Inquiry veröffentlicht.[55]

Siehe auch

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Literatur

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Fachartikel und Fachbücher

  • D. O. Campbell, W. D. Burch: The chemistry of fuel reprocessing: Present practices, future trends. In: Journal of Radioanalytical and Nuclear Chemistry Articles. Band 142, Nr. 1, September 1990, S. 303–320, doi:10.1007/BF02039470 (englisch).
  • Raphael Oen: Streitschlichtung zwischen EG-Mitgliedstaaten im Rahmen gemischter Verträge. Der MOX Plant-Fall und seine Folgen. In: Archiv des Völkerrechts. Band 45, Nr. 1, 2007, S. 136, doi:10.1628/000389207780788346.
  • Robin Taylor: Reprocessing and Recycling of Spent Nuclear Fuel (= A volume in Woodhead Publishing Series in Energy). Elsevier, 2015, ISBN 978-1-78242-212-9, doi:10.1016/C2013-0-16483-5 (englisch).
  • William Penney, Basil F J Schonland, J M Kay, Jack Diamond, David E H Peirson: Report on the accident at Windscale No. 1 Pile on 10 October 1957. In: Journal of Radiological Protection. Band 37, Nr. 3, September 2017, S. 780–796, doi:10.1088/1361-6498/aa7788.
  • Michael I. Ojovan, William E. Lee, Stepan N. Kalmykov: An Introduction to Nuclear Waste Immobilisation. Elsevier, 2019, ISBN 978-0-08-102702-8, doi:10.1016/C2017-0-03752-7 (englisch).
  • Vladimir Maderich, Kyeong Ok Kim, Roman Bezhenar, Kyung Tae Jung, Vazira Martazinova, Igor Brovchenko: Transport and Fate of 137Cs Released From Multiple Sources in the North Atlantic and Arctic Oceans. In: Frontiers in Marine Science. Band 8, 23. Dezember 2021, S. 806450, doi:10.3389/fmars.2021.806450 (englisch).
  • B. S. Tomar, P. R. Vasudeva Rao, S. B. Roy, Jose P. Panakkal, Kanwar Raj, A. N. Nandakumar (Hrsg.): Nuclear Fuel Cycle. Springer Nature Singapore, Singapore 2023, ISBN 978-981-9909-48-3, doi:10.1007/978-981-99-0949-0 (englisch).

Sachbücher

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Commons: Sellafield – Album mit Bildern

Einzelnachweise

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  1. ONR - Sellafield programme. Office for Nuclear Regulation, 13. April 2023, abgerufen am 23. Mai 2023 (britisches Englisch).
  2. ONR - Sites that we regulate: Sellafield. ONR, 13. April 2023, abgerufen am 22. September 2023 (britisches Englisch).
  3. William Penney, Basil F J Schonland, J M Kay, Jack Diamond, David E H Peirson: Report on the accident at Windscale No. 1 Pile on 10 October 1957. In: Journal of Radiological Protection. Band 37, Nr. 3, September 2017, ISSN 0952-4746, S. 780–796, doi:10.1088/1361-6498/aa7788 (englisch, iop.org [abgerufen am 23. Mai 2023]).
  4. History of the UK Atomic Energy Authority. In: UKAEA. Gov.uk, abgerufen am 23. Mai 2023 (englisch).
  5. C N Hill: An Atomic Empire: A Technical History of the Rise and Fall of the British Atomic Energy Programme. IMPERIAL COLLEGE PRESS, 2013, ISBN 978-1-908977-41-0, doi:10.1142/9781908977434_0004 (englisch, worldscientific.com [abgerufen am 11. Juli 2023]).
  6. a b Morley, R.G., Dunlop, P., Jackson, D.: BNFL Sellafield: The future for discharges. 1. Mai 2000 (iaea.org [abgerufen am 16. August 2023]).
  7. Peter J. Kershaw, Kins S. Leonard, David McCubbin, John N. Aldridge: Plutonium: The legacy of Sellafield. In: Radioactivity in the Environment (= Plutonium in the Environment). Band 1. Elsevier, 1. Januar 2001, S. 305–328 (englisch, sciencedirect.com [abgerufen am 23. Mai 2023]).
  8. a b c Sellafield: Discharges and Environmental Monitoring Annual Report 2021. Gov.uk, 8. November 2022, abgerufen am 16. August 2023 (englisch).
  9. Steve Jones: Health effects of the Windscale Pile fire. In: Journal of Radiological Protection. Band 36, Nr. 4, Dezember 2016, ISSN 0952-4746, S. E23–E25, doi:10.1088/0952-4746/36/4/E23 (englisch, iop.org [abgerufen am 20. Juni 2023]).
  10. a b All foreign-owned waste at Sellafield packaged and set for return. In: Sellafield Ltd. Gov.uk, 9. Dezember 2021, abgerufen am 23. Mai 2023 (englisch).
  11. Decommissioning campaign complete at UK reactor. In: World nuclear news. World Nuclear Association, 16. Juni 2011, abgerufen am 25. Mai 2023 (englisch).
  12. Nuclear Decommissioning Authority, Sellafield Ltd: End of reprocessing at Thorp signals new era for Sellafield. Gov.uk, 16. November 2018, abgerufen am 23. Mai 2023 (englisch).
  13. David Peattie: NDA Update. In: New Transport and Waste Divisions. Gov.uk, 19. Januar 2021, abgerufen am 23. Mai 2023 (englisch).
  14. Reprocessing ceases at UK's Thorp plant : Waste & Recycling - World Nuclear News. In: World nuclear news. World Nuclear Association, 14. November 2018, abgerufen am 23. Mai 2023 (englisch).
  15. Demolition starts on Windscale chimney. In: NDA. Gov.uk, abgerufen am 25. Mai 2023 (englisch).
  16. Diffuser removed from Windscale Pile Chimney : Waste & Recycling - World Nuclear News. WNN, abgerufen am 4. Juli 2023 (englisch).
  17. Sellafield ends nuclear fuel reprocessing after 58 years : Waste & Recycling - World Nuclear News. In: World nuclear news. World Nuclear Association, 21. Juli 2022, abgerufen am 23. Mai 2023 (englisch).
  18. Teures Aufräumen in Sellafield. In: nzz.ch. Neue Zürcher Zeitung, 4. Februar 2013, abgerufen am 31. Oktober 2023.
  19. Nuclear Decommissioning Authority: Managing risk at Sellafield. (pdf) In: publications.parliament.uk. House of Commons – Committee of Public Accounts, 4. Februar 2013, S. 7, abgerufen am 4. Februar 2013 (englisch).
  20. Sellafield nuclear decommissioning work ‘significantly’ delayed and millions over budget, report reveals. 31. Oktober 2018, abgerufen am 23. Mai 2023 (englisch).
  21. Alex Lawson, Anna Isaac: Sellafield cleanup cost rises to £136bn amid tensions with Treasury. In: The Guardian. 23. Oktober 2024, ISSN 0261-3077 (theguardian.com [abgerufen am 31. Oktober 2024]).
  22. Sellafield: Briten fliegen Rückbau-Kosten der Atom-Anlage um die Ohren. WinFuture, 28. Oktober 2024, abgerufen am 10. November 2024.
  23. Our governance. In: Sellafield Ltd. Gov.uk, abgerufen am 21. August 2023 (englisch).
  24. About us. In: Sellafield Ltd. Gov.uk, abgerufen am 23. Mai 2023 (englisch).
  25. What is Sellafield? - Cleaning up our nuclear past: faster, safer and sooner. In: Sellafield Ltd, NDA, NWS, Dounreay, Magnox Ltd. Gov.uk, 7. September 2018, abgerufen am 11. Juli 2023 (englisch).
  26. Macdonald, A.G.: The MOX Demonstration Facility - the stepping stone to commercial MOX production. In: Nuclear Energy. Band 33, Nr. 3, 1994, ISSN 0140-4067 (englisch, iaea.org [abgerufen am 14. Juli 2023]).
  27. What is the Silo Maintenance Facility at Sellafield? In: Sellafield Ltd. Gov.uk, 8. März 2023, abgerufen am 14. Juli 2023 (englisch).
  28. PRIS - Reactor Details (WINDSCALE AGR). IAEA, 9. Juli 2023, abgerufen am 10. Juli 2023 (englisch).
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