Werner Stiller

deutscher Nachrichtendienstler (MfS, BND)
(Weitergeleitet von Klaus-Peter Fischer)

Werner Stiller (* 24. August 1947 in Weßmar; † 20. Dezember 2016[1] in Budapest) war ein deutscher Agent und Überläufer. Von 1972 bis 1979 war er hauptamtlicher Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) der DDR, zuletzt im Range eines Oberleutnants. Er entschied sich, in die Bundesrepublik überzulaufen und sich dem Bundesnachrichtendienst (BND) anzubieten, von dem er den Decknamen „Machete“ erhielt.[2] Seine Flucht aus der DDR 1979 mit zahlreichen geheimen Dokumenten in den Westen gilt bis heute als einer der spektakulärsten Spionagefälle im Kalten Krieg.

Er wurde im August 1947 als nichtehelicher Sohn einer Landarbeiterin geboren. Ab 1966 studierte Stiller Physik an der Universität Leipzig und schloss das Studium mit dem Diplom ab.

 
„Haus 15“ der Zentrale des Ministeriums für Staatssicherheit, 1978 bis 1990 der Hauptsitz der HVA und Arbeitsplatz Werner Stillers.

1970 wurde er inoffizieller Mitarbeiter des MfS mit dem Decknamen „Stahlmann“. Ab 1972 arbeitete er dann hauptamtlich in der Hauptverwaltung Aufklärung (HVA) des MfS, Sektor Wissenschaft und Technik (SWT), Abteilung XIII, Referat 1, und war zuständig für die Spionage im Bereich Nukleartechnik der Bundesrepublik Deutschland.[3] Die Abteilung XIII, Referat 1, des Sektors Wissenschaft und Technik der HVA war in den Zimmern 508–510 auf der 5. Etage an der Nordseite von „Haus 15/1“ der Zentrale des Ministeriums für Staatssicherheit untergebracht, und hier arbeitete auch Werner Stiller.[4]

Erste Kontakte zum BND verliefen sich aufgrund von Nachlässigkeiten Stillers.[5] Nachdem er von einem in Westdeutschland lebenden Bruder der in Oberhof arbeitenden Uschi Mischnowski erfahren hatte, machte er sich daran, sie als Freundin zu gewinnen.[6] 1978 konnte er ihren auf Besuch weilenden Bruder kennenlernen und über ihn wieder Verbindung zum BND aufnehmen,[5] der aber zunächst eine Falle vermutete.[7][8][9] Bis zu seiner Flucht lieferte Stiller fortan geheime Informationen an den BND.

Flucht in die Bundesrepublik Deutschland

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Am 19. Januar 1979 floh Stiller mit Unterlagen der HVA über den Dienstübergang des Bahnhofs Berlin Friedrichstraße nach West-Berlin.[7] Uschi Mischnowski – in Stillers 1986 unter dem Titel Im Zentrum der Spionage erschienenen Memoiren als „Helga“ bezeichnet[5] – wurde mit Hilfe der bundesdeutschen Botschaft in Warschau ausgeschleust. Seine Ehefrau, seine Tochter und seinen Sohn ließ er hingegen in der DDR zurück, wo sie diversen Schikanen wegen vermuteter Mitwisserschaft ausgesetzt waren.[10][5]

Nach der Flucht

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1981 begann für Stiller, ausgestattet mit einer neuen Identität, ein zweites Leben unter dem Namen Klaus-Peter Fischer, geboren in Budapest. Mit Unterstützung des US-Geheimdienstes CIA absolvierte er ein Wirtschaftsstudium in St. Louis und war von 1983 bis 1990 Investmentbanker bei Goldman Sachs in New York und London. Bis zum Ende der DDR versuchte eine mit großen Mitteln ausgestattete Fahndertruppe des MfS, ihn im Westen ausfindig zu machen. Ziel war es, ihn in die DDR zu entführen und dort zum Tode zu verurteilen oder ihn gleich im westlichen Ausland zu töten.[11][12][13] Anfang der 1990er-Jahre machte ein Reporterteam des Nachrichtenmagazins Der Spiegel Stiller ausfindig.[14] Er arbeitete zu diesem Zeitpunkt als Börsenmakler für das US-Unternehmen Lehman Brothers an der Börse in Frankfurt am Main. Ende der 1990er-Jahre zog Werner Stiller nach Budapest.

Nicole Glocke, Tochter eines von Stiller geführten Ostagenten, und Tochter Edina Stiller veröffentlichten 2006 ein gemeinsames Buch über die Folgen des Übertritts in die Bundesrepublik Deutschland. Stiller starb am 20. Dezember 2016 im Alter von 69 Jahren in Budapest.

Nachrichtendienstlicher Wert des Überläufers

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Stiller wurde nach seinem Überlaufen über ein Jahr lang intensiv vom BND befragt. Dadurch trug er maßgeblich zur Identifizierung des „Mannes ohne Gesicht“, des HVA-Chefs Markus Wolf, bei. Ein Foto Wolfs, welches von ihm heimlich auf einer Dienstreise in Skandinavien angefertigt wurde, gelangte an das Nachrichtenmagazin Der Spiegel und wurde dort im März 1979 auf der Titelseite veröffentlicht.[15]

Stiller gehörte als Oberleutnant nicht zum leitenden Personal der HVA. Er forcierte jedoch seinen Aufstieg zum Parteisekretär seiner Abteilung, um Vorbehalte gegen sich auszuräumen sowie über seinen direkten Arbeitsbereich hinausgehende Informationen zu erlangen. Dem BND konnte Stiller weitreichendes Wissen um das Innenleben des ostdeutschen Geheimdienstes geben, das der Dienst als Grundlage für seine weitere Arbeit gegen das MfS nutzte. Zudem lieferte Stiller Einschätzungen zu den Beziehungen des MfS zu anderen Geheimdiensten des Ostblocks. Der BND verunsicherte die HVA bewusst über die eigenen Möglichkeiten und schränkte deren Arbeitsfähigkeit durch die Suche nach weiteren Maulwürfen sowie durch gestiegenes Misstrauen und Kontrollen im eigenen Bereich ein.[2]

Zahlreiche Ostagenten wurden durch den Übertritt Stillers in der Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Österreich und den USA enttarnt und verhaftet, darunter Alfred Bahr, Gerhard Arnold, Rolf Dobbertin, Reiner Fülle, Karl-Heinz Glocke, Karl Hauffe, Armin Raufeisen sowie Günther Sänger. Mehr als 40 tatsächlichen oder mutmaßlichen Agenten gelang es kurzfristig, sich durch Flucht in die DDR der Strafverfolgung zu entziehen, so Friedrich Tomberg oder Hans-Sieghard Petras. Diese gingen dann aber als „Quellen im Objekt“ verloren. François Lachenal, Rolf Kreibich und Rolf Rosenbrock wurden zu Unrecht der Spionage beschuldigt.[15][16]

Schriften (Auswahl)

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Literatur

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  • Der Rote Schakal[17]
  • Der Spion, der ich war[18]
  • Der Agent – Ein Doppelleben zwischen Stasi und BND[19]
  • Der Überläufer, Dokumentation von Guido Knopp und Peter Adler, aus der ZDF-Reihe Top-Spione, 1994.[20]
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Einzelnachweise

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  1. Stasi-Überläufer – DDR-Doppelagent Werner Stiller ist tot. In: Märkische Allgemeine. 31. März 2017, abgerufen am 31. März 2017.
  2. a b Christopher Nehring: Der MfS-Überläufer Werner Stiller beim BND – Die Kooperation der „Bruderorgane“ in den Aussagen eines Insiders. In: al for Intelligence, Propaganda and Security Studies. Band 9, Nr. 2, 2015, S. 37–50.
  3. Das Chaos war gewaltig. In: Der Spiegel. Nr. 14, 1992, S. 107–117 (online30. März 1992).
  4. Stasi Mediathek: Tatortuntersuchungsprotokoll zum Diebstahl von geheimen Unterlagen durch Werner Stiller
  5. a b c d Graue Augen. Pfusch beim Bundesnachrichtendienst gefährdete die Flucht des Doppelagenten Werner Stiller aus der DDR. 25. Mai 1992, abgerufen am 31. Dezember 2018.
  6. Geheimnisvolle Orte – Oberhof, mdr vom 29. Dezember 2020.
  7. a b Werner Stiller: Im Zentrum der Spionage. v. Hase & Köhler, Mainz 1986, ISBN 3-7758-1141-9; englisch „Beyond the Wall“
  8. Graue Augen. In: Der Spiegel. Nr. 22, 1992, S. 47–54 (online25. Mai 1992).
  9. If It Had Not Been For 15 Minutes (Memento vom 19. Juli 2011 im Internet Archive)
  10. Sonst nehmen wir Ihre Kinder weg. In: Der Spiegel. Nr. 15, 1992, S. 70–71 (online6. April 1992).
  11. Stasi-Jagd auf Stiller. In: Der Spiegel. Nr. 40, 1992, S. 16 (online28. September 1992).
  12. Jens Gieseke: Der Mielke-Konzern (Memento vom 13. Dezember 2013 im Internet Archive) (PDF; 806 kB), Stuttgart 2001, ISBN 3-421-05481-9, S. 183.
  13. Sonderauftrag Mord Die Geheimnisse der Stasi (Memento vom 10. Januar 2015 im Internet Archive), ZDF, 28. September 2010.
  14. In der Ruhe liegt die Kraft. In: Der Spiegel. Nr. 13, 1992, S. 35–38 (online23. März 1992).
  15. a b DDR-Spionage: Das läßt die mächtig wackeln. In: Der Spiegel. Nr. 10, 1979, S. 70 (online5. März 1979).
  16. RIAS-Bericht über die Enttarnung von DDR-Agenten durch den Überläufer Stiller, 8. März 1979
  17. Der Rote Schakal bei TV Spielfilm
  18. ARD-Programminformation, abgerufen am 2. Mai 2023.
  19. ARD-Programminformation, abgerufen am 2. Mai 2023.
  20. Peter Adler reportage + dokumentation, Youtube-Kanal