Sinfonieorchester Kiew
Das Sinfonieorchester Kiew (ukrainisch Київський симфонічний оркестр, englisch Kyiv Symphony Orchestra) ist ein ukrainisches Sinfonieorchester.
Geschichte
BearbeitenDas Orchester wurde in den 1980er Jahren[1] in der damaligen Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik gegründet.[2] Von 2018 bis 2024 war Luigi Gaggero Chefdirigent.[3][4] Er kam um 2012 als Schlagwerker in die Ukraine und war von der stillen Aufmerksamkeit des Publikums beeindruckt, so als lauschten sie einer „geistigen Botschaft“. Gaggero wurde in Italien geboren, studierte in Deutschland und lehrte in Frankreich.[2] Er sah darin „ein schönes Bild für Europa. Jedes Land bringt etwas, das die anderen nicht haben. Aber das Haus, das wir zusammen aufbauen, ist das gleiche Haus.“[2] Das Begleitheft der Warschauer Philharmonie sah das Orchester seinerzeit in einer Phase der revolutionären Erneuerung. Mit der Bestellung eines Ausländers zum Chefdirigenten werde das Ziel verfolgt, Musikwerke gleichzeitig frisch, geschichtsbewusst und emotional bewegend zu interpretieren. Dadurch sei eine seltene Verschmelzung aus der sinnlichen Musikalität der Ukraine und der analytischen Haltung des Westens entstanden.[5] Die Frankfurter Allgemeine Zeitung schrieb nach dem Konzert in Berlin, was man gehört habe, sei „hervorragender Orchesterklang auf internationalem Niveau.“[6]
Das Orchester gab Gastspiele in der Ukraine, in Spanien und in den Niederlanden.[2] Es spielte zu nationalen Feiertagen, wie bei der Feier zum 30-jährigen Jubiläum der Unabhängigkeit der Ukraine 2021.[1]
Während des russischen Überfalls auf die Ukraine war das Orchester zu einer Reihe von Konzerten in Polen und Deutschland eingeladen, beginnend mit einem Konzert in Warschau am 21. April 2022.[7] Die Tournee wurde nicht nur vom Kulturministerium, sondern auch vom Verteidigungsministerium genehmigt, das den männlichen Mitgliedern erlaubte, die Ukraine für die Tournee verlassen.[2][8] In Deutschland spielte das Orchester im Kulturpalast in Dresden,[9] in Leipzig,[2] der Berliner Philharmonie, dem Kurhaus Wiesbaden als Teil des Rheingau Musik Festivals,[10] in Freiburg, im Kuppelsaal der Stadthalle Hannover und in der Elbphilharmonie in Hamburg.[1][11] Die Künstler durften von ihren Familien begleitet werden.[7] Die ukrainischen Komponisten Maxim Sosontowitsch Beresowski, Myroslaw Skoryk und Borys Ljatoschynskyj standen im Fokus der Tournee.[2] Das Programm in Wiesbaden verband Beresowskis Sinfonie in C-Dur aus den 1770er Jahren mit dem Poème von Ernest Chausson op. 25 für Violine und Orchester und Myroslaw Skoryks Melodie in a-Moll (1982).[10][9] Der Violinist war Aleksey Semenenko.[10] Das Programm endete mit Ljatoschynskyjs Sinfonie No. 3, Op. 50. Der letzte Satz dieser Sinfonie trägt das Thema Der Frieden wird den Krieg besiegen. Ljatoschynskyj musste unter dem Druck der sowjetischen Zensur dieses Thema streichen und die Musik optimistischer gestalten. Das Orchester spielte die Originalversion von 1951.[10][3]
Am 29. Juni 2022 spielte das Orchester im Rahmen des NATO-Gipfels in Madrid im Prado-Museum.[12]
Im Juli 2022 erklärte Julian Vonarb, Oberbürgermeister der Stadt Gera, dass Gera das Orchester langfristig aufnehmen und den Musikern und ihren Familien Wohnungen und Proberäumlichkeiten zur Verfügung stellen werde. Da ihr dortiges Konzerthaus kriegsbedingt für andere Zwecke genutzt wird, kann das Orchester nicht nach Kiew zurückkehren.[13] Im August 2022 trat das Sinfonieorchester Kiew am ukrainischen Nationalfeiertag als Dankeschön für Gastfreundschaft und Hilfsbereitschaft im Rahmen eines Open-Air-Konzerts im Geraer Hofwiesenpark auf.[14]
Auf Einladung des 38. Deutschen Evangelischen Kirchentags Nürnberg 2023 präsentierte am 10. Juni 2023 im Großen Saal der Meistersingerhalle das Sinfonieorchester Kiew unter dem italienischen Dirigenten Luigi Gaggero „Zeitgefühle“. Inspiriert von der Losung des Kirchentages musizierte das Sinfonieorchester Kiew Werke aus verschiedenen Musikepochen zu den unterschiedlichen musikalischen „Qualitäten“ von Zeit. Nach Stücken von Schumann und Stankowytsch beschloss das ukrainische Sinfonieorchester das Konzert mit der 5. Sinfonie von Beethoven.[15]
Im Februar 2024 trennte sich das Orchester „im Unfrieden“[4] abrupt von seinem Chefdirigenten Luigi Gaggero. Zum Sommer 2024 will das Orchester aus finanziellen[16] und atmosphärischen Gründen[17][18] nach zwei Jahren Gera verlassen und auf Einladung von Bürgermeister Daniel Zimmermann in die Stadt Monheim am Rhein umziehen, die ihnen im stadteigenen Kulturbetrieb befristete Arbeitsverträge für bis zu drei Jahre[19] angeboten hat. In Monheim wird eine alte Shell-Fassabfüllanlage an der Rheinpromenade in die Kulturraffinerie K714 umgebaut[18]. Die Wohnungen für die insgesamt 130 Ukrainerinnen und Ukrainer, die Ende Juli nach Monheim am Rhein umziehen werden, stelle die städtische Wohnungsbaugesellschaft bereit.[20] Für Oleksandra Zaitseva ist das ein Zeichen dafür, wie sehr sich die Region für die Kultur engagiert. Dem Orchester werden in der Stadt viele Probe- und Auftrittsmöglichkeiten bereitgestellt.
Weblinks
Bearbeiten- Offizielle Website (ukrainisch, englisch)
- „Speaking to the soul“: Kyiv Symphony Orchestra starts European tour euronews.com
Einzelnachweise
Bearbeiten- ↑ a b c Kyiv Symphony Orchestra kommt auf Deutschland-Tour. In: musik-heute.de. 5. April 2022, abgerufen am 22. April 2022.
- ↑ a b c d e f g Michael Ernst: Sinfonieorchester Kiew : Die Ukraine existiert, das zeigen wir mit Kunst, Geschichte und Musik! In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 25. April 2022, abgerufen am 22. Mai 2022.
- ↑ a b Ukrainische Musik in Zeiten des Krieges / Das Kyiv Symphony Orchestra gastiert in der Philharmonie Berlin. Berliner Philharmoniker, 2022, abgerufen am 22. April 2022: „Borys Ljatoschynskyj... erregte mit seiner Musik immer wieder das Missfallen des Sowjet-Regimes. So musste er das Finale seiner Dritten Symphonie, das das Motto »Der Friede wird den Krieg besiegen« trug, komplett umarbeiten. Das Kyiv Symphony Orchestra stellt uns das Werk in seiner Urfassung von 1951 vor.“
- ↑ a b Wolfgang Hirsch: Kyiv Symphony Orchestra trennt sich von Chefdirigent Luigi Gaggero. In: Thüringer Allgemeine. 23. Februar 2024, abgerufen am 24. Juni 2024.
- ↑ Voice of Ukraine - The Kyiv Symphony Orchestra tour; Begleitheft; Warschauer Philharmonie (Hrsg.) 2022
- ↑ Thomas Lindemann: Achtzig Musiker, die dem Krieg für ein paar Wochen entkommen sind. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 30. April 2022, abgerufen am 27. Mai 2022.
- ↑ a b "Culture triumphs over evil": Kyiv Symphony Orchestra woos Warsaw and performs for first time since invasion. In: thefirstnews.com. 2022, abgerufen am 22. April 2022.
- ↑ 'I Will Remember This Forever': Kyiv Orchestra Begins European Tour. Radio Free Europe, 21. April 2022, abgerufen am 2. Mai 2022: „Ukrainian males aged 18-60 are currently forbidden from leaving their country and several members of the Kyiv orchestra had to apply for permission to go abroad. The musicians will perform the work of several Ukrainian composers, including a Borys Lyatoshynsky symphony inspired by World War II, with the theme of peace overcoming war.“
- ↑ a b Sonderkonzert / Das Kyiv Symphony Orchestra. Dresdner Philharmonie, 2022, abgerufen am 25. April 2022.
- ↑ a b c d Kyiv Symphony Orchestra / Luigi Gaggero, Leitung / Aleksey Semenenko, Violine. Rheingau Musik Festival, 2022, abgerufen am 22. April 2022.
- ↑ Kyiv Symphony Orchestra / Luigi Gaggero / Fundraising concert for Ukrainehilfe Hamburg. Elbphilharmonie, 2022, abgerufen am 22. April 2022.
- ↑ Cultural front reaches a new point. Kyiv Symphony Orchestra performed in front of NATO leaders during the Madrid Summit. In: kyivsymphony.com. Sinfonieorchester Kiew, 30. Juni 2022, abgerufen am 26. August 2022 (englisch).
- ↑ Gera nimmt Sinfonieorchester Kiew langfristig auf. In: www.sueddeutsche.de. Süddeutsche Zeitung, 12. Juli 2022, abgerufen am 26. August 2022.
- ↑ mdr.de: Kyiv Symphony Orchestra gibt Dankes-Konzert in Gera | MDR.DE. Abgerufen am 25. August 2022.
- ↑ Ella Schindler: Auftritt in Nürnberg, Krieg in der Heimat: Orchester aus Kiew "kämpft an der kulturellen Front". In: www.nn.de. Nürnberger Nachrichten, 8. Juni 2023, abgerufen am 20. Juni 2023.
- ↑ Wolfgang Hirsch und Fabian Klaus: Kyiv Symphony Orchstra in finanziellen Nöten: Das System Zaitsev in Gera. In: Thüringer Allgemeine. 5. März 2024, abgerufen am 24. Juni 2024.
- ↑ Jacob Queißner: Kyiv Symphony Orchestra in Gera: Musik als Waffe. In: Die Tageszeitung: taz. 28. August 2023, ISSN 0931-9085 (taz.de [abgerufen am 24. Juni 2024]).
- ↑ a b Blanka Weber: Warum das Kyiv Symphony Orchestra Gera verlässt. In: MDR KULTUR. 22. Juni 2024, abgerufen am 24. Juni 2024.
- ↑ Monheim am Rhein wird provisorische Heimat für das Kyiv Symphony Orchestra. Stadt Monheim am Rhein, 12. Juni 2024, abgerufen am 24. Juni 2024.
- ↑ Monheim wird Heimat für Symphonieorchester von Kiew. In: www.faz.net. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12. Juni 2024, abgerufen am 25. Juni 2024.