Mithu Sanyal

deutsche Kulturwissenschaftlerin, Journalistin und Autorin
(Weitergeleitet von Mithu M. Sanyal)

Mithu Melanie Sanyal (* 1971 in Düsseldorf[1]) ist eine deutsche Kulturwissenschaftlerin, Journalistin und Schriftstellerin. Ihre Themenschwerpunkte sind Feminismus, Rassismus, Popkultur und Postkolonialismus.

Mithu Sanyal, 2014

Sanyal wuchs als Tochter eines indischen Ingenieurs und einer polnischstämmigen Sekretärin, deren Eltern als Bergarbeiter nach Duisburg gekommen waren,[2] in Düsseldorf-Oberbilk auf. Sie studierte deutsche und englische Literatur an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Dort promovierte sie über die Kulturgeschichte des weiblichen Genitals. Aus ihrer Doktorarbeit entstand 2009 das Buch Vulva. Die Enthüllung des unsichtbaren Geschlechts.

Während ihres Studiums arbeitete sie zeitweilig als Aktmodell.[3]

Seit 1996 ist Mithu Sanyal Hörspiel- und Featureautorin für den WDR. Darüber hinaus schreibt sie für NDR, BR, Frankfurter Rundschau, Literaturen, taz, junge Welt, SPEX[4], Bundeszentrale für politische Bildung[5] etc. und war ehrenamtliche Redakteurin der Zeitschrift Wir Frauen. Seit Erscheinen ihres zweiten Buches Vergewaltigung wird Sanyal häufig als Expertin, Vortragende, Moderatorin, Gesprächspartnerin und Studiogast zu Beiträgen, Lesungen, Vorträgen, öffentlichen Diskussionsrunden und ins Fernsehen eingeladen.[6][7][8] Vergewaltigung wurde wie Vulva in mehrere Sprachen übersetzt.[9]

Am 17. Februar 2017 löste ein Artikel von Sanyal und der Journalistin Marie Albrecht in der Tageszeitung (taz) eine Kontroverse aus. Nach Gesprächen mit Betroffenen von sexualisierter Gewalt schlugen sie für diese neben dem Wort „Opfer“ die Bezeichnung „Erlebende sexualisierter Gewalt“ als weitere Möglichkeit der Selbstbezeichnung vor. An der #metoo-Bewegung kritisierte sie nicht die fehlende faktische Untermauerung der Vorwürfe gegen Harvey Weinstein, sondern deren stigmatisierenden Charakter: Wer einmal als Vergewaltiger gekennzeichnet werde, könne dieses Stigma kaum noch loswerden.[7][10] Feministische Medien wie der Blog Die Störenfriedas oder die Zeitschrift Emma kritisierten diesen Vorstoß als Verharmlosung von Vergewaltigungen und sexualisierter Gewalt.[11] Unabhängig davon konstruierten rechte Blogs und Websites hieraus Bezüge auf Sanyals indische Herkunft und behaupteten fälschlicherweise, Vergewaltigung sei in Indien nicht strafbar.[12][13] In dem Blog Politically Incorrect wurde Sanyals E-Mail-Adresse veröffentlicht, woraufhin sie Vergewaltigungs- und Morddrohungen erhielt.[14] In den großen Zeitungen wurde Sanyals Artikel breit diskutiert,[15] auch die feministische Sprachwissenschaftlerin Luise F. Pusch nahm in ihrem Blog Stellung.[16] Zudem schrieben hunderte Menschen Sanyal solidarische E-Mails.[17] Im Juli 2019 veröffentlichte das Journalismusportal Correctiv seine Stellungnahme unter dem Titel Nein, Mithu Sanyal hat Opfern nicht geraten, eine Vergewaltigung könne „auch Erleben sein“.[18]

Im Jahr 2021 veröffentlichte Sanyal ihr Romandebüt Identitti. Der Roman handelt von einer Düsseldorfer Professorin für postkoloniale Theorie, die sich nach der hinduistischen Göttin Saraswati benannt und fälschlich als Inderin ausgegeben hat, tatsächlich aber deutscher Abstammung ist und ihre Haut verdunkeln ließ. Die Figur ist an Rachel Dolezal angelehnt.[19] Der auf diese Enthüllung folgende Skandal wird aus der Perspektive von Saraswatis Studentin Nivedita erzählt, die wie Sanyal eine polnische Mutter und einen indischen Vater hat. Unter dem Pseudonym Identitti betreibt Nivedita einen Blog und mehrere Social-Media-Accounts, auf denen sie u. a. Rassismus, Migrationsgeschichten, sexuelle Identitäten und Orientierungen sowie identitätspolitische Debatten kommentiert. Aufgrund seiner Verortung im universitären Milieu zeichnet sich der Roman durch eine hohe Dichte an theoretischen Reflexionen aus. In Rezensionen wurde der Roman überwiegend sehr positiv besprochen.[20]

Im Roman Antichristie (2024) wählte Sanyal eine vielschichtige Erzählweise und zielte auf die Verschmelzung historischer, politischer und popkultureller Themen. Die Handlung bewegt sich zwischen den Zeiten und Welten: Durga, die Protagonistin, reist von der Gegenwart ins Jahr 1906 und wechselt dabei sogar ihr Geschlecht. Sanyal verbindet die indische Unabhängigkeitsbewegung und die britische Kolonialgeschichte mit einer zeitgenössischen feministischen Perspektive, wobei sie auch humorvolle Dialoge einfließen lässt. Der Roman ist dabei sowohl Kriminalroman als auch eine kritische Auseinandersetzung mit den Folgen des Kolonialismus und dem westlichen Blick auf Geschichte.[21]

Im Oktober 2021 wurde sie in das PEN-Zentrum Deutschland aufgenommen.[22] Als es wegen des Russischen Angriffskrieg auf die Ukraine zur Spaltung der Organisation kam, schloss sich Sanyal den Austritten an und wurde am 10. Juni 2022 in den Gründungsvorstand des PEN Berlin gewählt.[23]

Sanyal lebt mit ihrem Mann, dem Musiker und Sprecher Matti Rouse,[24] in Düsseldorf-Oberbilk. Sie hat mit ihm zwei Kinder,[25] einen Sohn und eine Tochter.[26] Gegenüber dem Stern gab sie an, mehrere Abtreibungen gehabt zu haben.[27]

Auszeichnungen

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Für ihre Radiobeiträge über die Kulturgeschichte des Lesens bekam sie dreimal den Dietrich-Oppenberg-Medienpreis der Stiftung Lesen.[1] Die Analyse Vergewaltigung. Aspekte eines Verbrechens wurde 2017 mit dem Sonderpreis im Rahmen des Programms Geisteswissenschaften International ausgezeichnet.[28] Sanyals Roman Identitti erreichte 2021 die Shortlist des Deutschen Buchpreises. Im selben Jahr wurde ihr der Ernst-Bloch-Preis zugesprochen[29] und der Roman auch mit dem Literaturpreis Ruhr ausgezeichnet.[30][31]

Publikationen

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Bücher

Hörspiele

Artikel in Zeitungen, Zeitschriften und Sammelbänden

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Commons: Mithu Sanyal – Sammlung von Bildern

Einzelnachweise

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  1. a b Dr. Mithu Sanyal – Vita (Memento vom 28. September 2007 im Internet Archive)
  2. Mithu Sanyal: „In den 80ern wurden Rassismus und Sexismus ungeniert ausgelebt“ - WELT. 13. September 2023, abgerufen am 19. September 2023.
  3. Schriftstellerinnen und ihre Nebenjobs: „Call Center und Flyer verteilen“. In: Die Tageszeitung: taz. 12. März 2022, ISSN 0931-9085 (taz.de [abgerufen am 15. März 2022]).
  4. Mithu Sanyal bei SPEX, abgerufen am 28. Juli 2020
  5. Die erste Kanzlerin. Ist nun Gleichberechtigung? Bundeszentrale für politische Bildung, 12. November 2018 abgerufen am 28. Juli 2020
  6. Kommunales Kino Freiburg: Mithu Sanyal spricht heute über die Tiefengrammatik von sexueller Gewalt, 12. März 2019
  7. a b Vorwürfe gegen Asia Argento: „Eine Person kann nicht eine Bewegung diskreditieren“. Mithu Sanyal im Gespräch mit Marietta Schwarz, Deutschlandfunk Kultur, 23. August 2018
  8. Deutscher Frauenrat: Mithu M. Sanyal, Video vom 16. Januar 2019; WDR-Hörfunk: „Eure Heimat ist unser Albtraum“, Gespräch mit Mithu Sanyal, WDR 3 Kultur am Mittag, 21. Februar 2019; Der Lila Podcast. Mehrere Gesprächsrunden mit Mithu Sanyal, 2017–2019; Heinrich-Böll-Stiftung, Gunda Werner Institut: Alle Beiträge von Mithu Sanyal, 2017–2018; Literarisches Zentrum Göttingen in Kooperation mit der 10th European Feminist Research Conference 2018 und dem Fachbereich Kultur der Stadt Göttingen: Mithu Sanyal im Gespräch mit Svenja Flaßpöhler, 2018
  9. Vergewaltigung. In: EDITION NAUTILUS. Abgerufen am 30. April 2021 (deutsch).
  10. Mithu Sanyal, Marie Albrecht: Beschreibung sexualisierter Gewalt: Du Opfer! In: Die Tageszeitung: taz. 13. Februar 2017 (taz.de [abgerufen am 29. März 2019]).
  11. Offener Brief gegen die sprachliche Verharmlosung sexueller Gewalt. In: Die Störenfriedas. 18. Februar 2017, abgerufen am 29. März 2019. Opfer sollen nicht mehr Opfer heißen. In: EMMA. 21. Februar 2017, abgerufen am 29. März 2019.
  12. Gutmenschin meint Vergewaltigungs-Opfer sollten mehr Erlebende sein. In: halle-leaks.de (Blog). 22. Februar 2017, abgerufen am 29. März 2019.
  13. David Berger: Unglaublich: Opfer von Vergewaltigung sollen ab jetzt „Erlebende“ heißen. In: Philosophia Perennis. 23. Februar 2017, abgerufen am 29. März 2019.
  14. Katrin Gottschalk: Beschreibung sexualisierter Gewalt: Debatte statt Hetze. In: Die Tageszeitung: taz. 25. Februar 2017 (taz.de [abgerufen am 29. März 2019]).
  15. Marion Detjen: Vergewaltigung: Gewalt ohne Namen. In: Die Zeit. Hamburg 27. Februar 2017 (zeit.de [abgerufen am 29. März 2019]). Ursula Scheer: Verbrechen und Sprache: Erlebnis Vergewaltigung? In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 24. Februar 2017 (faz.net [abgerufen am 29. März 2019]).
  16. Vergewaltigung als Erlebnis? Luise F. Pusch, Fembio Blog, 25. Februar 2017
  17. Mascha Drost: Kulturwissenschaftlerin Mithu Sanyal – „Die Supermarkt-Verkäuferin fühlt sich vom Mainstream-Feminismus nicht repräsentiert“. In: Deutschlandfunk.de. 3. März 2017, abgerufen am 29. März 2019.
  18. Alice Echtermann: Nein, Mithu Sanyal hat Opfern nicht geraten, eine Vergewaltigung könne „auch Erleben sein“. Correctiv, 18. Juli 2019, abgerufen am 22. Februar 2021.
  19. „Das Private ist noch nicht politisch, es muss erst dazu gemacht werden“. 15. Februar 2021, abgerufen am 16. Dezember 2023.
  20. Tobias Kniebe: „Identitti“, Roman von Mithu Sanyal: Chaos der Identitäten. Abgerufen am 29. April 2021. Mithu Sanyal: „Identitti“ – Debatte im Schleudergang. Abgerufen am 29. April 2021 (deutsch). Ronald Düker: "Identitti": „Literatur muss freundlich sein“. In: Die Zeit. 13. Februar 2021, abgerufen am 29. April 2021.
  21. Shirin Sojitrawalla: Mithu Sanyals neuer Roman: Welche Perspektive zählt? In: Die Tageszeitung: taz. 21. September 2024, ISSN 0931-9085 (taz.de [abgerufen am 21. September 2024]).
  22. PEN nimmt neue Mitglieder auf, darunter Mithu Sanyal, Sharon Dodua Otoo, Jo Lendle und Benedict Wells. In: PEN-Zentrum Deutschland. 28. Oktober 2021, archiviert vom Original am 29. Januar 2022; abgerufen am 11. Februar 2022.
  23. Andreas Platthaus: Nach Abspaltung: Wie begonnen, so zerronnen. FAZ.NET, 10. Juni 2022, abgerufen am 14. Juni 2022.
  24. A. Wehrmann: Matti Rouse im Porträt. Matti kann Voodoo. In: theycallitkleinparis. 28. Juni 2017, abgerufen am 14. Juli 2023.
  25. RP ONLINE: Mithu M. Sanyal: „Vergewaltigung ist kein Frauenthema“. 19. November 2016, abgerufen am 9. April 2021.
  26. Der ewig postpubertäre Typ. Ruprecht (Heidelberger Studierendenzeitung), 15. Juni 2018.
  27. Wir haben abgetrieben. Mithu Sanyal: „Zu meinem Leben gehören Kinder, aber auch Abtreibungen“. Mithu Sanyal ist Kulturwissenschaftlerin und Autorin. Die 49-Jährige hat dreimal abgetrieben und wünscht sich, dass in der Gesellschaft offener über das Thema gesprochen wird. Ein Protokoll. Der Stern, 7. Juni 2021.
  28. Sonderpreis für Mithu Sanyal, boersenblatt.net vom 4. Oktober 2017, abgerufen am 4. Oktober 2017.
  29. Ludwigshafen vom 7. Oktober 2021: Ernst-Bloch-Preis 2021 geht an Mithu M. Sanyal – Hanna Engelmeier erhält den Förderpreis. Abgerufen am 7. Oktober 2021
  30. Mithu M. Sanyal erhält Literaturpreis Ruhr (Memento vom 30. Oktober 2021 im Internet Archive), deutschlandfunkkultur.de, veröffentlicht und abgerufen am 28. Oktober 2021
  31. Literaturpreis Ruhr für "Identitti" von Mithu M. Sanyal, abgerufen am 28. Oktober 2021
  32. Christiane Florin: Narrative der Gewalt: Über die Kulturgeschichte der Vergewaltigung. In: deutschlandfunk.de, Andruck – Das Magazin für Politische Literatur. 21. November 2016. (24. November 2016)
  33. Rape. From Lucretia to #MeToo. by Mithu Sanyal, Verso Books, 2019
  34. WDR: Hörspiel "Aliens sind auch nur Menschen" von Mithu Sanyal. 13. März 2023, abgerufen am 16. März 2023.
  35. Post Porn Panik - Detektivin trifft auf Sexualtherapeutin. Abgerufen am 18. Februar 2023.
  36. Gott ist tot - wirklich! - Der Messias ist zurück. Oder? Abgerufen am 18. Februar 2023.
  37. Identitti (1/2): Skandal um gefakte PoC-Identität. Abgerufen am 14. Juni 2023.
  38. Identitti (2/2): Fake-PoC möchte Identität frei wählen. Abgerufen am 14. Juni 2023.
  39. The Guardian, Profil von Mithu Sanyal