asch-Schāfiʿī

islamischer Rechtsgelehrter
(Weitergeleitet von Muhammad ibn Idris asch-Schafii)

Muhammad ibn Idrīs asch-Schāfiʿī (arabisch محمد بن إدريس الشافعي, DMG Muḥammad ibn Idrīs aš-Šāfiʿī; * 767 in Palästina; † 820 in Fustāt (Alt-Kairo)) war ein bedeutender islamischer Rechtsgelehrter, auf den eine eigene Rechtsschule (madhhab) zurückgeführt wird, die als schāfiʿitisch bezeichnet wird. Asch-Schāfiʿī gilt auch als der eigentliche Begründer der islamischen Rechtstheorie.

Das Grab von asch-Schāfiʿī in Kairo

Asch-Schāfiʿī gehörte zum mekkanischen Stamm der Quraisch und war ein Nachkomme von al-Muttalib, dem Bruder von Hāschim ibn ʿAbd Manāf. Er verbrachte seine Jugend in ärmlichen Verhältnissen in Mekka und besuchte dort die Lehrsitzungen von Muslim ibn Chālid az-Zandschī (st. 795/96), der als Mufti der Stadt fungierte, und Sufyān ibn ʿUyaina (st. 813). Nachdem er mit 15 Jahren von Chālid die Erlaubnis erhalten hatte, Fatwas zu erstellen, wandte er sich um 786 Mālik ibn Anas in Medina zu und wurde sein Schüler.[1]

Sodann übernahm er ein Amt in Nadschrān im Jemen.[2] Hier wurde er in alidische Umtriebe verwickelt. So huldigte er dem Hasaniden Yahyā ibn ʿAbdallāh. Deswegen wurde er später auch des Schiitentums verdächtigt.[3] Zusammen mit neun Aliden wurde er 803 in Ketten vor den Kalifen Hārūn ar-Raschīd gebracht, der ihn aber begnadigte. Bei dieser Gelegenheit soll er auch mit dem Hanafiten asch-Schaibānī in nähere Berührung gekommen sein.[4] Ab 810 lehrte asch-Schāfiʿī in Bagdad.[5] Um 814 ließ er sich in Fustāt nieder, wo er bis zu seinem Tod im Jahre 820 in der ʿAmr-Moschee lehrte.[6] Hier hatte er auch Kontakt zu Saiyida Nafīsa.

Asch-Schāfiʿī soll insgesamt über hundert Schriften verfasst haben, von denen 109 bei Ibn an-Nadīm aufgeführt werden.[7] Besonders wichtig waren davon:

  • ar-Risāla ("Sendschreiben"). Asch-Schāfiʿī nannte sein Buch selbst al-Kitāb. Der Titel "Sendschreiben" bezieht sich darauf, dass asch-Schāfiʿī dieses Werk als Antwort auf Bitten des Traditionisten ʿAbd ar-Rahmān ibn Mahdī (st. 813) abfasste und ihm zuschickte.[8] ʿAbd ar-Rahmān hatte ihn gebeten, ein Werk abzufassen, das sich mit rechtlichen Aussagen des Korans, den historischen Berichten, die sich auf sie beziehen, und der Beweiskraft des Idschmāʿ befasst und Klarheit über die abrogierenden und abrogrierten Aussagen von Koran und prophetischer Sunna schafft.[9] Das Buch, das mehrfach kommentiert worden ist,[10] gilt als das erste Werk zu den Usūl al-fiqh, allerdings kommt dieser Ausdruck an keiner Stelle des Werks vor.[11] Nach Lowry dreht sich asch-Schāfiʿīs Risāla vor allem um das juristisch-hermeneutische Konzept des bayān ("Erläuterung"). Nach diesem Konzept ist das islamische Gesetz grundsätzlich in Koran und Sunna enthalten, wobei sich die einzelnen rechtlichen Regeln auf fünferlei Art aus diesen Quellen ergeben: (1) aus dem Koran allein; (2) aus Koran und Sunna zusammen, wobei beide auf dasselbe hinauslaufen; (3) aus Koran und Sunna zusammen, wobei die Sunna den Koran erläutert; (4) aus der Sunna allein; (5) aus keiner der beiden Rechtsquellen. In letztgenanntem Fall ist eigene Urteilsbemühung (Idschtihād) erforderlich.[12]
  • Kitāb al-Umm. („Das grundlegende Werk“). Es handelt sich um eine Sammlung von Abhandlungen asch-Schāfiʿīs, die erst nach seinem Tode von Schülern besorgt und unter diesem Titel verbreitet wurde.[13] Die moderne Druckausgabe umfasst sieben Bände.
  • Kitāb Iḫtilāf al-ḥadīṯ ("Buch über das Widersprüchliche im Hadith"). Das Werk ist am Rande des Kitāb al-Umm abgedruckt worden.
  • Musnad asch-Schāfiʿī Hadithsammlung mit 2000 Hadithen, ohne bestimmte Ordnung. Das Buch gibt es in der Rezension von Muhammad ibn al-Matar.

Nachwirkung

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Stellung in der schāfiʿītischen Rechtsschule

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Obwohl sich asch-Schāfiʿī in seinen Werken stark gegen das Prinzip des Taqlīd, der Übertragung der Urteilsfindung an einen anderen, ausgesprochen hatte, bildete sich nach seinem Tod ein eigener Madhhab um seine Lehren mit Zentrum in Ägypten. Von dort verbreitete er sich im 10. Jahrhundert in den Irak und nach Chorasan.[14]

Mehrere Schāfiʿiten, darunter al-Baihaqī (st. 1066), Fachr ad-Dīn ar-Rāzī (gest. 1209) und Ibn Hadschar al-ʿAsqalānī (gest. 1449), verfassten später Werke über die "hervorragenden Eigenschaften" (manāqib) asch-Schāfiʿīs.[15] Die Schafiiten sahen in dem Gründer ihrer Rechtsschule einen Verteidiger der Sunna des Propheten, im Gegensatz zu Abū Hanīfa, der ihnen als Verfechter des Raʾy galt.[16]

Fachr ad-Dīn ar-Rāzī erklärte in seinem Werk, dass die muslimischen Gelehrten zwar schon vor asch-Schāfiʿī Fragen der islamischen Rechtstheorie behandelt, jedoch noch keine universalen Prinzipien besessen hätten, denen sie bei der Behandlung dieser Fragen folgen konnten. Das, was asch-Schāfiʿī hinsichtlich der „Wissenschaft von der Offenbarung“ (ʿilm aš-šarʿ) geleistet habe, entspreche dem, was Aristoteles vorher für die „Verstandeswissenschaft“ (ʿilm al-ʿaql) geleistet habe.[17] Allgemein betrachteten die schafiitischen Gelehrten asch-Schāfiʿī als den Begründer der Usūl al-fiqh. Zwei schafiitische Autoren des 14. Jahrhunderts, as-Subkī (gest. 1370) und az-Zarkaschī (gest. 1392), lieferten in ihren Werken lange Listen von Usūl-al-fiqh-Büchern, die sie jeweils mit der Risāla asch-Schāfiʿīs beginnen ließen.[18]

Die Verehrung von asch-Schāfiʿīs Grab

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Das Grabmausoleum von asch-Schāfiʿī auf dem südlichen Friedhof von Kairo

Asch-Schāfiʿī stand auch schon früh im Rufe eines Heiligen. Nach einem Bericht al-Maqrīzīs trat im Jahre 1081 Nizām al-Mulk, der Wesir des Seldschukenreichs, mit seinem fatimidischen Kollegen Badr al-Dschamali in briefliche Verhandlungen, um die Überreste asch-Schāfiʿīs nach Bagdad überführen zu lassen, weil er damit seine Nizāmīya-Schule, in der asch-Schāfiʿīs Rechtssystem gelehrt wurde, ausstatten wollte. Als jedoch Badr al-Dschamali mit seinen Leuten daranging, den Leichnam asch-Schāfiʿīs zu exhumieren, kam es zu heftigen Protesten der örtlichen Bevölkerung, die den Wesir und seinen Oberherrn, den Kalifen al-Mustansir jedoch nicht davon abhielten, an dem Unternehmen festzuhalten. Al-Maqrīzī berichtet, dass nun aber durch ein wunderhaftes Eingreifen asch-Schāfiʿīs der Plan vereitelt wurde. Just zu dem Augenblick, als sich die Bauleute daran machten, die Ziegeln des Grabes abzutragen, trat nämlich ein betörender Duft aus seinem Grab, der diese für eine Stunde ohnmächtig werden ließ. Als sie wieder aufwachten, sollen sie sich geweigert haben, das Unternehmen fortzusetzen, und das Grab wieder verschlossen haben.[19]

Im Jahre 1211 ließ al-Malik al-Kamil über dem Grab asch-Schāfiʿīs ein Mausoleum errichten. Der Kuppelbau (qubba) liegt weit im Südosten des Kairoer Gräberviertels. Der reich verzierte hölzerne Sarg wurde früher in einer Jahreswallfahrt (maulid, mausim) aufgesucht. In weiteren Grabstätten der Anlage sind der Erbauer der Moschee und seine Familie beigesetzt.

Wertschätzung außerhalb der schāfiʿītischen Rechtsschule

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Auch außerhalb seiner Rechtsschule wird asch-Schāfiʿī als Rechtsdenker geschätzt. So verbreitete sich die Auffassung von asch-Schāfiʿī als Begründer der Usūl al-fiqh ebenfalls in anderen Rechtsschulen.[20] Hanbaliten versuchten aufzuzeigen, dass asch-Schāfiʿī mit ihnen in der Ablehnung des Kalām übereinstimmte. Ibn Qaiyim al-Dschauzīya (st. 1350) schloss dies unter anderem aus der Tatsache, dass in der erweiterten Hamdala am Anfang von asch-Schāfiʿīs Risāla Gott als derjenige beschrieben wird, "der so ist, wie er sich selbst beschrieben hat, und über dem steht, womit ihn die Menschen beschrieben haben".[21] Ibn al-ʿImād (gest. 1679) überlieferte von ihm den Ausspruch: "Es gibt nichts, was mir mehr verhasst ist als der Kalām und seine Anhänger" (mā šaiʾun abġaḍu ilaiya min al-kalām wa-ahli-hī).[22]

Siehe auch

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Literatur

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Arabische Quellen
Sekundärliteratur
  • Paul-Richard Berger: Safiʿi. In: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon (BBKL). Band 8, Bautz, Herzberg 1994, ISBN 3-88309-053-0, Sp. 1172–1176.
  • E. Chaumont: Art. "al-S̲h̲āfiʿī" in The Encyclopaedia of Islam. New Edition. Bd. IX, S. 181a-185a.
  • Wael B. Hallaq: "Was al-Shafiʿi the Master Architect of Islamic Jurisprudence?" in International Journal of Middle East Studies 25 (1993) 587–605. Wieder abgedruckt in Hallaq: Law and Legal theory in Classical and Medieval Islam. Aldershot 1995.
  • W. Heffening: „al-S̲h̲āfiʿī“ in Enzyklopädie des Islam Bd. IV, S. 271a–273a. Digitalisat
  • Henri Laoust: "Šâf'î et le kalâm d'après Râzi" in Recherches d'islamologie: Recueil d'articles offert à Georges C. Anawati et Louis Gardet. Louvain: Éditions Peeters 1978. S. 389–401.
  • Joseph Lowry: Early Islamic Legal Theory. The Risāla of Muḥammad ibn Idrīs al-Shāfiʿī. Leiden 2007.
  • George Makdisi: "The Juridical Theology of Shâfiʿî. Origins and Significance of Uṣūl al-fiqh" in Studia Islamica 59 (1984) 5–47. - Wieder abgedruckt in George Makdisi: Religion, Law and Learning in Classical Islam Hampshire 1991.
  • Stephennie Mulder: “The Mausoleum of Imam Al-Shafiʿi.” in Muqarnas 23 (2006) 15–46.
  • Fuat Sezgin: Geschichte des arabischen Schrifttums. Band I, Brill, Leiden 1967, S. 484–490.
  • Ferdinand Wüstenfeld: "Der Imâm el-Schâfi`í, seine Schüler und Anhänger bis zum J. 300 d.H." in Abhandlungen der Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften in Göttingen 36 (1890) 1–105. Hier online einsehbar: http://eudml.org/doc/135917

Einzelnachweise

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  1. Vgl. Chaumont: Art. "al-Shāfiʿī". Bd. IX, S. 182a.
  2. Vgl. Chaumont: Art. "al-Shāfiʿī". Bd. IX, S. 182b.
  3. aḏ-Ḏahabī: Siyar aʿlām an-nubalāʾ. 1982, Bd. X, S. 58.
  4. Heffening: „al-Shāfiʿī“ in EI1. Bd. IV, S. 271.
  5. Vgl. Chaumont: Art. "al-Shāfiʿī". Bd. IX, S. 182b.
  6. Vgl. Sezgin: Geschichte des arabischen Schrifttums. Bd. I, S. 484f.
  7. Vgl. Sezgin 486.
  8. Vgl. Sezgin 488.
  9. Vgl. Makdisi 6.
  10. Sezgin 488f zählt neun Kommentare.
  11. Vgl. Makdisi 9.
  12. Vgl. Lowry 23f.
  13. Vgl. Sezgin: Geschichte des arabischen Schrifttums. 1967, S. 486–488.
  14. Vgl. Makdisi 20.
  15. Vgl. Sezgin 486.
  16. Vgl. Makdisi 20f.
  17. Vgl. Makdisi 10, 12f.
  18. Vgl. Makdisi 30–32.
  19. Vgl. al-Maqrīzī: al-Mawāʿiẓ wa-l-iʿtibār bi-ḏikr al-Ḫiṭaṭ wa-l-āṯār. Ed. M. Zaynihim, M. aš-Šarqāwī. 3 Bde. Kairo 1998. Bd. III, S. 692 f.
  20. Vgl. Makdisi 6.
  21. Vgl. Makdisi 41.
  22. Vgl. Makdisi 17f.