Neugeborenenscreening

national konzipiertes Programm zur Reihenuntersuchung an Neugeborenen
(Weitergeleitet von Neugeborenen-Screening)

Unter Neugeborenenscreening versteht man ein in der Regel national konzipiertes Programm zur Reihenuntersuchung an Neugeborenen. Hierbei soll auf bestimmte angeborene Stoffwechsel- und Hormonerkrankungen getestet werden, bei denen eine präventive Behandlung möglich ist und Folgeschäden durch den Beginn der Behandlung vor Einsetzen der Krankheitserscheinungen vermieden werden können.[1]

Bis 2022 wurden in Deutschland seit der Einführung 1969 mehr als 34 Millionen Kinder getestet und bei mehr als 14.000 Kindern frühzeitig eine angeborene Krankheit festgestellt.[2] Nach § 11 Absatz 2 GenDG können die Ergebnisse genetischer Untersuchungen und Analysen nicht direkt, sondern nur über die beauftragende Stelle angefordert werden: „Eine nach § 7 Abs. 2 mit der genetischen Analyse beauftragte Person oder Einrichtung darf das Ergebnis der genetischen Analyse nur der ärztlichen Person mitteilen, die sie mit der genetischen Analyse beauftragt hat.“

Grundlagen

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Ziel und Voraussetzungen von Screeninguntersuchungen sind im Artikel Screening beschrieben. In Deutschland bildet eine Leitlinie der Gesellschaft für Neonatologie und pädiatrische Intensivmedizin, die von einer gemeinsamen ständigen Kommission aus pädiatrischen und geburtshilflichen Fachgesellschaften erarbeitet wurde, die Grundlage für die inhaltliche und organisatorische Durchführung des Neugeborenenscreenings auf Stoffwechselstörungen.

 
Fersenblutentnahme auf eine Filterpapierkarte für das Neugeborenenscreening

Die Probe wird in der Regel am dritten Lebenstag entnommen, in Deutschland oftmals auch gleichzeitig zur U2 Untersuchung. Eine Abweichung vom empfohlenen Entnahmezeitraum zwischen 36 und 72 Stunden nach der Geburt bedarf ggfs. einer Kontrolluntersuchung. Bei Frühgeborenen unter der 32. Schwangerschaftswoche wird das Screening zweimal durchgeführt, zum üblichen Zeitraum für reife Neugeborene und erneut beim rechnerischen Erreichen von 32 Schwangerschaftswochen.[3]

Durch eine Gewinnung weniger Blutstropfen üblicherweise aus der Ferse, alternativ auch aus einer Vene, wird eine mit den Patienten-Daten beschriftete Filterpapierkarte in vorgegebenen Feldern vollständig und gleichmäßig mit Blut durchtränkt. Die Karte wird anschließend mindestens eine Stunde bei Zimmertemperatur getrocknet, darf dafür aber keinesfalls erhitzt werden. Am selben Tag wird sie in das Screening-Labor versandt. Sammeln von Proben über mehrere Tage ist nicht zulässig. Neben konventionellen Testmethoden (Bestimmung von Enzymaktivität, colorimetrisch, immunologisch) wird die Blutprobe heutzutage auch mittels der Tandem-Massenspektrometrie analysiert.

Umfang der Tests in Deutschland

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Nach den Richtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen über die Früherkennung von Krankheiten bei Kindern bis zur Vollendung des 6. Lebensjahres („Kinder-Richtlinien“) werden im Rahmen des erweiterten Neugeborenenscreenings untersucht:[4]

  • Hormonkrankheiten:
  1. Primäre Hypothyreose
  2. Adrenogenitales Syndrom (AGS)
  • Stoffwechselkrankheiten:
  1. Biotinidasemangel
  2. Galaktosämie
  3. Phenylketonurie (PKU) und Hyperphenylalaninämie (HPA)
  4. Ahornsirupkrankheit (MSUD)
  5. Medium-Chain-Acyl-CoA-Dehydrogenase-Mangel (MCAD)
  6. Long-Chain-3-OH-Acyl-CoA-Dehydrogenase-Mangel (LCHAD)
  7. Very-Long-Chain-Acyl-CoA-Dehydrogenase-Mangel (VLCAD)
  8. Carnitinzyklusdefekte:
    a) Carnitin-Palmitoyl-Transferase-I-Mangel (CPT-I)
    b) Carnitin-Palmitoyl-Transferase-II-Mangel (CPT-II)
    c) Carnitin-Acylcarnitin-Translokase-Mangel (CACT)
  9. Glutarazidurie Typ 1 (GA1)
  10. Isovalerianazidämie (IVA)
  11. Mukoviszidose (Cystische Fibrose, CF)
  12. Tyrosinämie Typ I[5]

Die höchste Prävalenz unter den untersuchten Krankheiten weisen die primäre Hypothyreose und die Mucoviszidose auf.[3]

  • Früherkennung von Immundefizienzen:

14. SCID (Severe combined Immunodeficiency), seit August 2019[6]

Neben dem erweiterten Neugeborenenscreening wird ein Neugeborenenhörscreening zur Früherkennung von Hörstörungen durchgeführt.

Seit Oktober 2022 wird durch den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) bewertet, ob folgende weitere Krankheiten bei dem erweiterten Neugeborenenscreening untersucht werden sollen[7]:

Im Februar 2024 sprach sich das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen dafür aus, auf B12-Mangel zu testen. Für die anderen Erkrankungen sei die Studienlage nicht ausreichend, um eine Empfehlung auszusprechen. Da eine Testung nur auf Vitamin-B12-Mangel technisch jedoch kaum durchführbar sei, sollte eine Früherkennung aller vier Krankheiten in Betracht gezogen werden.[8][9]

Umfang der Tests in Österreich

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  1. Adrenogenitales Syndrom
  2. Ahornsirupkrankheit
  3. Biotinidasemangel
  4. Carnitinstoffwechseldefekte
  5. Galaktosämie
  6. Glutarazidurie Typ 1
  7. Hypothyreose
  8. Isovalerianazidämie
  9. LCHAD-Mangel
  10. VLCAD-Mangel
  11. MCAD-Mangel
  12. Phenylketonurie
  13. Mukoviszidose (Cystische Fibrose)[10]

Umfang der Tests in der Schweiz

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  1. Phenylketonurie
  2. Ahornsirupkrankheit
  3. Galaktosämie
  4. Biotinidasemangel
  5. MCAD-Mangel
  6. Hypothyreose
  7. Adrenogenitales Syndrom
  8. Glutarazidurie Typ 1
  9. Mukoviszidose (Cystische Fibrose), seit 2011[11]
  10. SCID (Severe combined immunodeficiency), seit 2019, zunächst auf 5 Jahre befristet[12]

Geschichte

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Die Geschichte des Neugeborenenscreenings ist eng mit Robert Guthrie verbunden, der 1962 einen einfach durchzuführenden Test bei Neugeborenen auf Phenylketonurie entwickelte.[13] Zuvor hatte Horst Bickel 1953 beweisen können, dass eine frühzeitige Behandlung die schweren Folgen dieser Krankheit verhindern kann. Mitte der 1960er Jahre führte der Staat Massachusetts das erste Neugeborenenscreening-Programm ein.[14]

Deutschland

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In Deutschland wurde 1969/1970 das flächendeckende Screening auf Phenylketonurie eingeführt, im Laufe der Jahre kamen weitere Krankheiten dazu und wurden teilweise wieder verworfen. 1997 empfahl die Ständige Screeningkommission der Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde und Jugendmedizin ein Screening auf 5 Krankheiten. Zu den Vorreitern für das erweiterte Neugeborenenscreening in Deutschland gehörte Bayern mit seinem 1999 initiierten Modellprojekt Neugeborenenscreening, bei dem die teilnehmenden Kinder auf mehr als 100 angeborene seltene Erkrankungen getestet wurden.[15] Durch neue Untersuchungsmethoden wurde das Spektrum der zu screenenden Krankheiten im November 2002 im Vergleich zu früheren Screenings wesentlich erweitert, wenn es auch viel kleiner war als im Modellprojekt.[3] In die Kinder-Richtlinien[4] wurde das erweiterte Neugeborenenscreening mit Wirkung zum 1. April 2005[16] und das Neugeborenenhörscreening mit Wirkung zum 1. Januar 2009[17] als Regelleistungen für die ersten Lebenstage für die gesetzlich Krankenversicherten aufgenommen. Seit dem 1. September 2016 wurde das Screening um die Mukoviszidose (CF) erweitert[18], seit dem 16. März 2018 umfasst es die Tyrosinämie und seit dem 1. Oktober 2021 eine Form der Spinalen Muskelatrophie (SMA) sowie die Sichelzellkrankheit (SCD).

Literatur

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Einzelnachweise

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  1. Deutsche Gesellschaft für Neugeborenenscreening
  2. Ute Spiekerkötter, Heiko Krud: Zielkrankheiten des Neugebornenenscreenings in Deutschland Deutsches Ärzteblatt 2022, Jahrgang 119, Heft 17 vom 29. April 2022, Seiten 306–316, DOI: 10.3238/arztebl.m2022.0075
  3. a b c Universitätsklinikum Heidelberg: Fachinformation Neugeborenenscreening (PDF; 1,4 MB), abgerufen am 20. November 2019
  4. a b Richtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen über die Früherkennung von Krankheiten bei Kindern bis zur Vollendung des 6. Lebensjahres („Kinder-Richtlinien“), zuletzt geändert am 16. Dezember 2010 veröffentlicht im Bundesanzeiger 2011; Nr. 40: S. 1013, in Kraft getreten am 12. März 2011
  5. DGNS e. V. - Deutsche Gesellschaft für Neugeborenenscreening e. V. Abgerufen am 13. Dezember 2018.
  6. Detail. Abgerufen am 17. Februar 2020.
  7. Bewertung eines Neugeborenen-Screenings gemäß § 135 Absatz 1 in Verbindung mit § 26 SGB V: Früherkennung eines Vitamin B12-Mangels und weiterer Zielerkrankungen (Homocystinurie, Propionazidämie und Methylmalonazidurie) (§ 26 SGB V). Gemeinsamer Bundesausschuss (G-BA), 20. Oktober 2022, abgerufen am 20. Januar 2023.
  8. Früherkennung eines Vitamin-B12-Mangels und weiterer Zielerkrankungen (Homocystinurie, Propionazidämie und Methylmalonazidurie) im erweiterten Neugeborenenscreening (ENS). Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen, 25. Februar 2024, ISSN 1864-2500, S. v, doi:10.60584/S22-02.
  9. IQWiG spricht sich für Früherkennung eines erworbenen Vitamin-B12-Mangels bei Säuglingen aus. In: aerzteblatt.de. 12. März 2024, abgerufen am 15. Mai 2024.
  10. Österreichisches Programm zur Früherfassung von angeborenen Stoffwechselerkrankungen, abgerufen am 14. Oktober 2012
  11. Die Krankheiten, nach denen gesucht wird (abgerufen am 22. April 2014)
  12. Änderungen der Leistungspflicht bei medizinischen Leistungen, Mitteln und Gegenständen, Analysen sowie Arzneimitteln per 1. Januar 2019. BAG-Bulletin 1+2/2019, S. 13, abgerufen am 19. Februar 2019
  13. Jason Gonzales, Monte S. Willis: Robert Guthrie, MD, PhD erschienen in LabMedicine online abrufbar, abgerufen am 20. November 2019
  14. Kristin Gatrell Bryant et al.: History of Newborn Screening in Medscape today online abrufbar, abgerufen am 6. August 2011
  15. Gudrun Heyn, Neugeborenenscreening: Ein lebensrettender Test, Pharmazeutische Zeitung (PZ) online, Ausgabe 23/2009
  16. Bekanntmachungen: Beschluss über eine Änderung der Richtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen über die Früherkennung von Krankheiten bei Kindern bis zur Vollendung des 6. Lebensjahres (Kinder-Richtlinien) zur Einführung des erweiterten Neugeborenen-Screenings vom 21. Dezember 2004, Bekanntmachung des Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung, veröffentlicht im Deutschen Ärzteblatt (Dtsch Arztebl 2005; 102(16): A-1158/B-970/C-914, 22. April 2005), abgerufen am 20. November 2019
  17. Bekanntmachung eines Beschlusses des Gemeinsamen Bundesausschusses über eine Änderung der Kinder-Richtlinien: Einführung eines Neugeborenen-Hörscreenings, vom 19. Juni 2008, veröffentlicht von der Deutschen Gesellschaft für Neugeborenenscreening (DGNS e. V.), abgerufen am 20. November 2019
  18. Geraldine Nagel: Mukoviszidose: Neugeborenen-Screening ab dem 1.9.2016. 1. September 2016, abgerufen am 14. Dezember 2016.