Vorehelicher Geschlechtsverkehr

Geschlechtsverkehr eines Paares vor der Heirat
(Weitergeleitet von Sex vor der Ehe)

Als vorehelicher Geschlechtsverkehr gilt der Geschlechtsverkehr eines Paares zu einem Zeitpunkt vor der Heirat. In vielen Industriestaaten der westlichen Welt ist vorehelicher Geschlechtsverkehr heute gesellschaftlicher Alltag. Der größte Teil der Ehepaare hatte bereits vor der Heirat Sex miteinander und/oder mit anderen Partnern. Bereits 1948 ergab der Kinsey-Report (Befragung von 12.000 Männern in den Vereinigten Staaten), dass rund 86 % der Männer vor der Ehe Geschlechtsverkehr hatten. In einigen muslimischen Staaten ist vorehelicher Geschlechtsverkehr strafbar (siehe Karte im Artikel Schutzalter).

Geschichte

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Im Frühmittelalter kannte man die Todesstrafe und Geldbußen als Strafe für vorehelichen Geschlechtsverkehr wie auch für Ehebruch; der Begriff Unzucht war bis in das 20. Jahrhundert gebräuchlich.[1] Auch galten unehelich empfangene Kinder als Folge unsittlichen Verhaltens. War zum Zeitpunkt einer Eheschließung bereits eine Schwangerschaft bekannt, fand die Heirat „ohne Sang und Klang“ statt.

Teile der Bevölkerung waren Leibeigene. Heiraten durften sie nur mit Genehmigung des Gutsherrn und nach Zahlung einer Heiratsabgabe. Ohne Genehmigung des Leibherrn durfte keine Trauung vorgenommen werden. Damit eine Ehe nicht gegen den Willen des Gutsherrn erzwungen werden konnte, war Geschlechtsverkehr unter Ledigen verboten. Die Eheschließung alleine ließ auch die Leibeigenschaft nicht wegfallen.[2] In Württemberg durften Leibeigene eines Leibherrn untereinander heiraten.[3] Überwiegend war die „ungenoßsame“ Ehe mit Leibeigenen eines anderen Leibherrn verboten. Bei der Frau bestand die Gefahr, dass sie mit dem Ehemann abzog und dem Leibherrn dadurch die zu erwartenden Kinder entgingen. Die Ehe war allerdings nicht unwirksam, sondern wurde mit einer Geldstrafe in Höhe des entgangenen Vorteils oder höher bestraft.[4] Besonders in Orten mit mehreren Herren veranlassten die Eheverbote die bäuerliche Bevölkerung zur Ablehnung der Leibeigenschaft.

Seit der Aufklärung

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Nach dem Beginn der Aufklärung änderte sich die Einstellung allmählich durch den Begriff der Menschenrechte. Als bekannteste Erklärungen aus dieser Zeit gelten die zwei folgenden Dokumente:

Die Präambel der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten (1776) und die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte durch die Französische Nationalversammlung 1789. Artikel 4 der Erklärung von 1789 lautet übersetzt:

„Die Freiheit besteht darin, alles tun zu dürfen, was einem anderen nicht schadet: Die Ausübung der natürlichen Rechte eines jeden Menschen hat also nur die Grenzen, die den anderen Mitgliedern der Gesellschaft den Genuss ebendieser Rechte sichern. Diese Grenzen können nur durch das Gesetz bestimmt werden.“

Die in der genannten Präambel formulierten Rechte wurden in der späteren Verfassungspraxis zunächst nur frei geborenen, weißen Männern in vollem Umfang zugestanden, nicht aber Frauen, freien Schwarzen und Sklaven. Gleichwohl war das Leben in den Vereinigten Staaten damals geprägt von der Einstellung: „Jeder kann tun und lassen, was er will, solange er keinem anderen damit schadet“.

Die Psychologie entwickelte sich erst im 19. Jahrhundert zu einer empirischen Wissenschaft; davor war in wissenschaftlicher Hinsicht über den Sexualtrieb wenig bekannt. Viele Aspekte der menschlichen Sexualität wurden tabuisiert. Zahlreiche Heranwachsende wurden von ihren Eltern nicht sexuell aufgeklärt.

Bis zur Verbreitung des Kondoms waren vorehelicher und außerehelicher Geschlechtsverkehr mit dem Risiko von Geschlechtskrankheiten konnotiert, insbesondere der Syphilis. Syphilis war weit verbreitet in vielen Ländern; sicher vor ihr waren nur Menschen, die füreinander jeweils der erste Sexualpartner waren. Vor diesem Hintergrund war Promiskuität verpönt.

Der Schweizer Arzt Samuel Auguste Tissot (1728–1797) propagierte als eine Maßnahme gegen Masturbation die Beschneidung der Vorhaut und die weiblicher Genitalien. Die Sexualfeindlichkeit hatte unter anderem zu tun mit den weitverbreiteten Geschlechtskrankheiten wie Syphilis, gegen die und gegen deren Spätfolgen (sog. Hirnerweichung) es bis ins 20. Jahrhundert keine Gegenmittel gab.

Kurz vor dem Jahr 1900 wurde das BGB konzipiert und trat am 1. Januar 1900 in Kraft. § 1300, der sogenannte Kranzgeld-Paragraph, lautete:

„(1) Hat eine unbescholtene Verlobte ihrem Verlobten die Beiwohnung gestattet, so kann sie, wenn die Voraussetzungen des § 1298 oder des § 1299 vorliegen, auch wegen des Schadens, der nicht Vermögensschaden ist, eine billige Entschädigung in Geld verlangen.“

Begründet wurde der Schadenersatzanspruch damit, dass die Ledige wegen des Verlusts ihrer Jungfräulichkeit geringere Chancen auf eine standesgemäße Heirat mit einem anderen Mann hatte. War die Ledige oder die Witwe hingegen schon vor der „Beiwohnung“ nicht mehr „unbescholten“, so stand ihr auch kein Kranzgeld zu, wobei sich der Begriff „bescholten“ auf den sittlichen Lebenswandel im Allgemeinen bezog.

Die Erfindung und Weiterentwicklung des Kondoms trug viel zum Einstellungswandel gegenüber vorehelichem Geschlechtsverkehr bei. 1912 entwickelte der Gummifabrikant Julius Fromm erstmals eine Methode, um nahtlose Kondome herzustellen; ab 1930 wurde Latex als Material benutzt. Kondome verhüten sowohl Schwangerschaften als auch die Übertragung von Geschlechtskrankheiten. Der Verkauf von Kondomen war bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts allerdings vielerorts verboten beziehungsweise nur zum medizinischen Gebrauch erlaubt. In Irland galt eine solche Regelung noch bis Anfang der 1990er Jahre.

 
Eine Postkarte aus dem frühen 20. Jahrhundert spielt auf das Problem ungewollter Schwangerschaft an

Die Sexualmoral wandelte sich im 20. Jahrhundert erheblich. Während der alliierten Rheinlandbesetzung (1919–1930) wurden zahlreiche Besatzungskinder gezeugt und geboren. Die Kinder eines schwarzen Vaters und einer weißen Mutter – einige dieser Truppen stammten aus afrikanischen Kolonien Frankreichs – nannte man „Rheinlandbastarde“. Sie machten sozusagen vor- bzw. außerehelichen Geschlechtsverkehr offenkundig.

Zeit des Nationalsozialismus

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Während der Zeit des Nationalsozialismus erleichterten Aktivitäten von Hitlerjugend (HJ) und Bund Deutscher Mädel (BDM) den vorehelichen Geschlechtsverkehr:

  • HJ und BDM boten in großem Umfang Ferienreisen an, die auch Kindern aus ökonomisch schwachen Familien Fahrten in ein Winter-Skilager oder ein Sommer-Zeltlager ermöglichten.[5]
  • Zur Vorbereitung der Mädchen für den „Dienst an Volk und Familie“ gab es zudem – zunächst auf freiwilliger Basis, von 1938 an verpflichtend – ein Dienstjahr als hauswirtschaftliche oder landwirtschaftliche Hilfe (sog. Landjahr; 1938 wurde es zum Pflichtjahr für alle Frauen unter 25). Die Mädchen wohnten und arbeiteten dabei in den Haushalten bzw. auf den Bauernhöfen.
  • Die Vorbereitungslager für den Landdienst von Mädchen und Jungen lagen oft dicht nebeneinander. Allein bei 900 der BDM-Mitglieder, die 1936 vom Reichsparteitag in Nürnberg zurückkehrten, wurden anschließend Schwangerschaften festgestellt.[6]

Der Lebensborn e. V. war im nationalsozialistischen Deutschen Reich ein von der SS getragener, staatlich geförderter Verein, dessen Ziel es war, auf der Grundlage der nationalsozialistischen Rassenhygiene und Gesundheitsideologie die Erhöhung der Geburtenratearischer“ Kinder auch aus außerehelichen Beziehungen herbeizuführen. Dies sollte durch anonyme Entbindungen und Vermittlung der Kinder zur Adoption – bevorzugt an Familien von SS-Angehörigen – erreicht werden.

Während des Zweiten Weltkriegs arbeiteten viele junge Frauen als Wehrmachthelferinnen („Blitzmädel“). Viele von ihnen lebten längere Zeit mit Soldaten in Kasernen oder Stellungen (Fernmeldewesen, Flak usw.) dicht zusammen. Auch hier kam es zu vielen vorehelichen Beziehungen.

1968er und sexuelle Revolution

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Maßgeblichen Anteil an der Veränderung der Einstellungen bezüglich des vorehelichen Geschlechtsverkehrs hatte in den westlichen Industriestaaten die sexuelle Revolution in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Insbesondere die Entwicklungen in der Generation der 1968er veränderten das Bewusstsein in den westlichen Industriestaaten. Hinzu kam die Entwicklung der Antibabypille, die ungewollte Schwangerschaften verhinderte.

Religion

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Die Sexualethik wird in einem wesentlichen Maße von der Religion mitgeprägt. Der voreheliche Geschlechtsverkehr wird von einigen Religionen und Glaubensgemeinschaften, darunter die abrahamitischen Religionen, abgelehnt.

Christentum

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Der exegetische Konsens ist vielschichtig und komplex, aber überwiegend negativ gegenüber der Praxis des vorehelichen Geschlechtsverkehrs eingestellt[7][8]. Diese Position wird unter anderem mit dem biblischen Ideal der Ehe begründet, nach dem Mann und Frau zu einem Fleisch werden[9][10]. Des Weiteren wird auf das Gesetz in Exodus hingewiesen, wonach ein Mann, der eine Frau verführt und mit ihr schläft, den Brautpreis zahlen oder sie heiraten musste, da sie auf dem Heiratsmarkt fortan keinen Wert mehr hatte[11] (ob dieses Gesetz aus wirtschaftlichen oder moralischen Gründen entstand, ist ungeklärt).

Weitere Bibelverse verurteilen sexuelle Unreinheit und Ehebruch[12][13], was auf vorehelichen Geschlechtsverkehr nur dann anwendbar ist, wenn diese Begriffe diese Praxis entweder direkt einschließen oder zumindest implizieren.

Die Praxis des vorehelichen Geschlechtsverkehrs erfährt jedoch, insbesondere in westlichen und aufgeklärten Gesellschaften, zunehmende Akzeptanz in Kirchen und Gemeinden. Laut Umfragen zwischen 2014 und 2018 in den USA betrachten nur noch 37 % der befragten jungen evangelischen Männer und Frauen vorehelichen Sex als „immer verwerflich“, während 41 % dies als „überhaupt nicht verwerflich“ empfinden. Im Zeitraum von 1974 bis 1978 lag die entsprechende Umfrage bei 44 % und 27 %.

Darüber hinaus ergab eine Umfrage im Zeitraum von 2008 bis 2018 durch die General Social Survey (GSS), dass 86 % der weiblichen evangelikalen Fundamentalisten mindestens einen Geschlechtspartner hatten, während 57 % mindestens drei verschiedene Geschlechtspartner hatten. Bei männlichen Teilnehmern waren es 82 %, die mindestens einen Geschlechtspartner hatten, und 65 %, die drei oder mehr Geschlechtspartner hatten.[14]

Gegen den vorehelichen Geschlechtsverkehr richten sich in ihren Publikationen unter anderem auch die Zeugen Jehovas und die Neuapostolische Kirche[15] sowie Organisationen wie die Christliche Mitte. In der Schweiz nimmt die Eidgenössisch-Demokratische Union eine ähnliche Position ein. Vor allem in den Vereinigten Staaten ist die christliche Keuschheitsbewegung verbreitet („True love waits“, „Wahre Liebe Wartet“).

2011 gründete das polnisch-italienische ehemalige It-Girl Ania Goledzinowska[16] und der Ordensbruder Fra Renzo Gobbi im Marienwallfahrtsort Medjugorje die italienischsprachige Initiative „Cuori puri“ („Reine Herzen“). In ihr geloben junge Menschen vor einem katholischen Priester ihrer Wahl, bis zur Heirat zu warten.[17]

Siehe auch

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Literatur

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  • Stefan Breit: „Leichtfertigkeit“ und ländliche Gesellschaft: voreheliche Sexualität in der frühen Neuzeit (= Ancien Régime, Aufklärung und Revolution, Band 23). Oldenbourg, München 1991, ISBN 3-486-55884-6 (Dissertation, Universität München, 1989, 335 Seiten).
  • Astrid Bochow: Intimität und Sexualität vor der Ehe: Gespräche über Ungesagtes in Kumasi und Endwa, Ghana (= Beiträge zur Afrikaforschung, Band 44). Lit, Berlin / Münster 2010, ISBN 978-3-643-10688-9 (Dissertation, Universität Bayreuth, [2010], 330 Seiten).
  • Peter Klammer: In Unehren beschlaffen. Unzucht vor kirchlicher und weltlicher Gerichtsbarkeit im frühneuzeitlichen Salzburger Lungau (= Wissenschaft und Religion, Band 7) Lang, Frankfurt am Main u. a. 2004, ISBN 978-3-631-52228-8 (Dissertation, Universität Salzburg, 2003, 359 Seiten).
  • Andreas Malessa: Sex nur in der Ehe, die Moral der Bibeltreuen. In: Klaus Hofmeister, Lothar Bauerochse (Hrsg.): Religion und Sexualität – eine spannungsreiche Beziehung. Claudius, München 2011, ISBN 978-3-532-62421-0, Buch zur Sendereihe „Himmlische Lust“ auf hr2-kultur.

Einzelnachweise

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  1. Konfliktregelung in den frühmittelalterlichen Leges. geschichte-des-rechts.de
  2. Ingo Ullmann: Die rechtliche Behandlung holsteinischer Leibeigener um die Mitte des 18. Jahrhunderts. Dargestellt unter besonderer Berücksichtigung der Schmoeler Leibeigenschaftsprozesse von 1738 bis 1743 sowie von 1767 bis 1777 (= Rechtshistorische Reihe, Band 346) Lang, Frankfurt am Main u. a. 2007, ISBN 978-3-631-55736-5, S. 110, 125 (Dissertation, Universität Kiel, 2006, 504 Seiten)
  3. Christian Keitel: Herrschaft über Land und Leute. Leibherrschaft und Territorialisierung in Württemberg, 1246–1593 (= Schriften zur südwestdeutschen Landeskunde, Band 28), SRW, Leinfelden–Echterdingen 2000, ISBN 3-87181-428-8, S. 195 (Dissertation, Universität Tübingen, 1998/1999, 288 Seiten).
  4. Claudia Ulrich: Leibherrschaft am Oberrhein im Spätmittelalter (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Band 58) Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen 1979, ISBN 3-525-35369-3, S. 157 (Dissertation, Universität Saarbrücken, Philosophische Fakultät, 1977, 327 Seiten).
  5. Arno Klönne: Jugend im Dritten Reich. Lizenzausgabe: Piper Taschenbuch 2045, München 1995, ISBN 3-492-12045-8, Seite 128.
  6. Kater, Seite 95, berichtet auch einen Fall, dass ein eben Mutter gewordenes BDM-Mädchen 13 Personen als mögliche Väter benannte. „Um wenigstens den schlimmsten Ausschweifungen Einhalt zu gebieten, wurde daraufhin dem BDM 1937 das Kampieren im Freien untersagt.“ in: Michael H. Kater: Hitler-Jugend. Primus, Darmstadt 2005 (Aus dem Englischen von Jürgen Peter Krause), ISBN 3-89678-252-5.
  7. Ist Sex vor der Ehe eigentlich erlaubt? Abgerufen am 13. August 2024.
  8. Sex vor der Ehe — warum sind Christen so vehement dagegen? Abgerufen am 13. August 2024.
  9. Genesis 2,24
  10. Epheser 5,31
  11. Exodus 22,15
  12. Hebräer 13,4
  13. Exodus 20,14
  14. https://ifstudies.org/ifs-admin/resources/final-ifsresearchbrief-ayers-evangelicalsandsex8819.pdf, abgerufen am 20. Oktober 2023
  15. Neuapostolische Kirche: Vorehelicher Geschlechtsverkehr
  16. Autobiografie: Salvata dall’inferno, Libri SugarCo, Italien 2014, dt. Übersetzung „Aus der Hölle gerettet“ (von Claudia Reimüller), CanisiEdition 2015.
  17. Cuori Puri. Abgerufen am 13. August 2024 (italienisch).