Spanisches Amnestiegesetz 1977

(Weitergeleitet von Spanische Amnestiegesetz 1977)

Das spanische Amnestiegesetz von 1977 (spanisch Ley de Amnistía, formell Gesetz 46/1977 vom 15. Oktober 1977) ist ein Gesetz, das am 15. Oktober 1977 in Spanien vom Parlament erlassen wurde und mit seiner Veröffentlichung im Staatsanzeiger unter der Registrierung BOE-A-1977-24937 am 17. Oktober desselben Jahres, zwei Jahre nach dem Tod des Diktators Francisco Franco, in Kraft trat.[1]

Das Gesetz – bestehend aus insgesamt 12 Artikeln – sieht eine Amnestie für alle Handlungen mit politischer Absicht vor, die bis zum 15. Juni 1977, dem Datum der ersten demokratischen Wahlen nach vierzig Jahren Diktatur, als Straftaten im Sinne des Gesetzes angesehen wurden.[1] Ebenso gewährt es Behörden und Vollzugsbeamten Amnestie, die bei der Verfolgung politischer Handlungen Verbrechen oder Vergehen begangen oder „die Rechte von Personen“ verletzt hatten. Das Gesetz hatte zum Ziel, etwaige strafrechtliche Auswirkungen zu verhindern, welche die seinerzeitige Konsolidierung hin zu einer Demokratie in Spanien gefährden könnten.[2][1] Es wird als Grund dafür angeführt, dass Menschenrechtsverletzungen durch Anhänger Francisco Francos nicht untersucht und verfolgt werden.[3][4]

Das Gesetz war der explizite Ausdruck des spanischen sogenannten „Pakt des Vergessens“[5] (spanisch: Pacto de Olvido, eine politische Entscheidung sowohl der linken als auch der rechten Parteien Spaniens, die direkte Auseinandersetzung mit dem Erbe des Franquismus nach dem Tod Francos im Jahr 1975 zu vermeiden).[6][7] Das Gesetz wurde insbesondere durch die kommunistische Partei und die sozialistische PSOE vorangetrieben, die Franco-nahe Alianza Popular weigerte sich an dem Gesetzestext mitzuarbeiten.[8][9] Es war als Antwort gedacht auf Forderungen der linken Opposition nach Freilassung der zum damaligen Zeitpunkt immer noch inhaftierten politischen Gefangenen, während Spaniens Rechte dies als Freibrief für sämtliche franquistischen Verbrechen angesehen haben.[10][11]

Der finale Gesetzentwurf wurde am 6. Oktober 1977 dem spanischen Parlament vorgestellt. Es wurde von einer großen Mehrheit der Abgeordneten, bei Enthaltung der Alianza Popular, am 15. Oktober 1977 angenommen.[12] Es gab insgesamt 296 Stimmen für das Gesetz, zwei Gegenstimmen der Abgeordneten Julio Busquets und José Antonio Bordés Vila (PSOE), 18 Enthaltungen und eine nicht gültige Stimme.[9]

Unmittelbar nach Verkündung des Gesetzes wurden 118 politische Gefangene freigelassen.[13][14]

Kontroversen

Bearbeiten

Der spanische Staat argumentiert, dass Täter von Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Nachhinein nicht für Verbrechen verfolgt werden könnten, die vor 1939 begangen wurden. Diese Auffassung wurde von den obersten spanischen Gerichten mehrfach bestätigt.[15] Die Vereinten Nationen nebst diverser Menschenrechtsorganisationen wie etwa Amnesty International[16] und Human Rights Watch[17] sind gegenteiliger Ansicht und haben dies mehrfach zum Ausdruck gebracht; die Verbrechen der Franco-Ära sollten untersucht werden.[18][19]

Unter anderem am 5. Januar 2009 hatten die Vereinten Nationen Spanien gegenüber deutlich ihre Besorgnis zum Ausdruck gebracht, dass das Gesetz nach wie vor in Kraft sei.[20] Drei Tage später antwortete die spanische Regierung mit einer diplomatischen Note, in welcher sie sich irritiert zeigte und darauf verwies, dass das Gesetz die Zustimmung des gesamten spanischen Volkes aufweise.[21]

Anfang Februar 2012 wiederum forderte die Hohe Kommissarin der Vereinten Nationen für Menschenrechte, Navi Pillay, formell die Aufhebung des Amnestiegesetzes von 1977 mit der Begründung, dass es gegen internationale Menschenrechtsvorschriften verstoße. Pillay verwies auf die Verpflichtung Spaniens zur Einhaltung des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte.[22] Nach den internationalen Menschenrechtsvorschriften gibt es keine Verjährungsfrist für Verbrechen gegen die Menschlichkeit.[22]

2013 forderte eine Expertengruppe der Vereinten Nationen Spanien erneut auf, das Gesetz von 1977 aufzuheben.[23][24]

Literatur

Bearbeiten
  • C. Molinero: La transición: historia y relatos (= Colección Hitos). Siglo XXI España, 2018, ISBN 978-84-323-1909-9 (spanisch, 1).
  • S. Juliá: Un siglo de España: política y sociedad (= Estudios (Marcial Pons, Ediciones de Historia)). Marcial Pons, 1999, ISBN 978-84-95379-03-0 (spanisch).
  • Walther L. Bernecker: Geschichte Spaniens im 20. Jahrhundert. Beck, München, 2017. ISBN 978-3-406-62384-4
  • B. Bannasch, C. Holm, C. Freytag: Erinnern und Erzählen: der Spanische Bürgerkrieg in der deutschen und spanischen Literatur und in den Bildmedien. Narr, Tübingen, 2005. ISBN 978-3-8233-6168-8
Bearbeiten

Einzelnachweise

Bearbeiten
  1. a b c Jefatura del Estado: Ley 46/1977, de 15 de octubre, de Amnistía. Ley 46/1977, 17. Oktober 1977, S. 22765–22766 (boe.es [abgerufen am 29. Februar 2024]).
  2. Ley De Amnistía | Advocatus Diaboli. 21. Februar 2014, archiviert vom Original am 21. Februar 2014; abgerufen am 29. Februar 2024.  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.ishkarioth.com
  3. K. Ambos, J. Large, M. Wierda: Building a Future on Peace and Justice: Studies on Transitional Justice, Peace and Development The Nuremberg Declaration on Peace and Justice (= Humanities, Social Science and Law). Springer Berlin Heidelberg, 2008, ISBN 978-3-540-85754-9, S. 505,522 (englisch, google.com [abgerufen am 29. Februar 2024]).
  4. K. Ackar: International Journal of Rule of Law, Transitional Justice And Human Rights. Association Pravnik Sarajevo, S. 120–132 (englisch, google.com [abgerufen am 29. Februar 2024]).
  5. E. Wang / Wiss. Dienst Deutscher Bundestag: Spaniens „Gesetz zur demokratischen Erinnerung“. In: Deutscher Bundestag. Deutscher Bundestag, 2022, abgerufen am 1. März 2024: „Das Amnestiegesetz von 1977, das die strafrechtliche Verfolgung wegen vieler während der Diktatur und des Bürgerkriegs begangener Straftaten verhinderte, sicherte diesen „Pakt des Vergessens“ juristisch ab.“
  6. Forgetting, in Order to Move On. In: NYTimes.com. 6. Januar 2014, abgerufen am 29. Februar 2024 (englisch): „After the demise in 1975 of the Francisco Franco dictatorship, the nation’s leading political parties negotiated the so-called Pact of Forgetting, an informal agreement that made any treatment of the most difficult episodes of Spanish history, such as the horrific violence of the Civil War, unnecessary and unwelcomed.“
  7. Der öffentliche Umgang mit der Franco-Diktatur. In: bpb.de. 30. August 2010, abgerufen am 11. März 2024: „Als Konsequenz gab es in Spanien über zwanzig Jahre lang keine gesellschaftliche Debatte über die Franco-Diktatur und den Bürgerkrieg. Eine Thematisierung der Repression wurde gemieden, der viel gepriesene, erfolgreiche Übergang zur Demokratie - die sogenannte transicion (1975-1982) - basierte auf einem offiziellen Verschweigen der Bürgerkriegs- und Diktaturverbrechen.“
  8. Mónica Ceberio Belaza: Alianza Popular sostuvo que la amnistía de 1977 no era "buena medicina". In: El País. 18. April 2010, abgerufen am 11. März 2024 (spanisch): „Alianza Popular, a diferencia de la UCD, no apoyó la ley. Esa norma no fue una fórmula de los herederos del franquismo para protegerse a sí mismos. No era para ellos, sino que tenía el objetivo contrario: liberar a todos aquellos opositores a la dictadura que aún quedaban en las cárceles.“
  9. a b editor2: Amnistías en el Estado español (1832-1977) (y III). La Ley 46/1977, de 15 de octubre, de amnistía. In: www.sinpermiso.info. 23. November 2022, abgerufen am 11. März 2024 (spanisch).
  10. M. Dahms: Spanien: ein Länderporträt. Links, 2011, ISBN 978-3-86153-631-4, S. 143 (google.es [abgerufen am 29. Februar 2024]).
  11. Gegen die Straflosigkeit. In: Deutschlandfunk. 26. April 2010, abgerufen am 1. März 2024: „„Amnestie und Freiheit“ rief damals vor allem Spaniens Linke, galt es doch, Regimegegner aus den Gefängnissen zu befreien. Kaum jemand dachte daran, dass damit auch die Vertreter des Regimes eine weiße Weste erhielten.“
  12. Guillermo Altares: El dilema de revisar la Ley de Amnistía. In: El País. 18. November 2021, abgerufen am 11. März 2024 (spanisch): „Era una reclamación histórica de la izquierda, promovida desde el Partido Comunista y el PSOE, con la voluntad de reparar a las víctimas de la dictadura. La aprobaron la inmensa mayoría de los diputados, con la abstención de Alianza Popular y solo dos votos en contra.“
  13. editor2: Amnistías en el Estado español (1832-1977) (y III). La Ley 46/1977, de 15 de octubre, de amnistía. In: www.sinpermiso.info. 23. November 2022, abgerufen am 11. März 2024 (spanisch).
  14. editor2: Amnistías en el Estado español (1832-1977) (y III). La Ley 46/1977, de 15 de octubre, de amnistía. 23. November 2022, abgerufen am 11. März 2024 (spanisch): „(...)entre la aprobación de la Ley y el 31 de octubre fueron excarcelados 118 presos políticos o de conciencia:(...)“
  15. Guillermo Altares: El dilema de revisar la Ley de Amnistía. 18. November 2021, abgerufen am 11. März 2024 (spanisch): „Sin embargo, en las últimas décadas un número creciente de asociaciones de víctimas comenzó a ver la norma como una ley de punto final que impedía investigar los crímenes del franquismo, una transformación que coincidió con la idea cada vez más difundida entre juristas expertos en el derecho internacional de que los crímenes de lesa humanidad y genocidio eran imprescriptibles, incluso por encima de las legislaciones nacionales —una tesis que han rechazado reiteradamente el Supremo y el Constitucional, como recuerda la catedrática de derecho penal de la UNED, Alicia Gil, quien explica que “cualquier tribunal español siempre va a rechazar una interpretación de la ley que perjudique al reo”—.“
  16. La Ley de Amnistía de 1977, una de las asignaturas pendientes de la Ley de Memoria Democrática. In: Amnistía Internacional España - Derechos humanos. 15. Juli 2022, abgerufen am 11. März 2024 (spanisch).
  17. Spain: End Amnesty for Franco Era Atrocities. In: Human Rights Watch. 19. März 2010, abgerufen am 11. März 2024 (englisch).
  18. La ONU da la razón a Garzón y pide investigar el franquismo. 10. Februar 2012, abgerufen am 29. Februar 2024: „La oficina de la Alta Comisionada de Naciones Unidas para los Derechos Humanos, Navi Pillay, ha pedido este viernes a España la derogación de la ley de amnistía de 1977 porque incumple la normativa internacional en materia de Derechos Humanos.“
  19. Ley de Amnistía 1977: Una excusa que dura 40 años. In: Amnistía Internacional España - Derechos humanos. 11. Oktober 2017, abgerufen am 11. März 2024 (spanisch): „La ley de Amnistía es uno de los principales obstáculos para facilitar verdad, justicia y reparación a las víctimas de la Guerra Civil y el franquismo“
  20. La ONU amonestó tres veces a España por la Ley de Amnistía. 19. April 2010, abgerufen am 29. Februar 2024: „El Comité de Derechos Humanos de Naciones Unidas, que vela por el cumplimiento del Pacto Internacional de Derechos Civiles y Políticos, fue el primero en amonestar a España y lo hizo en términos muy duros. Su documento, publicado el 5 de enero de 2009, muestra 'preocupación' por 'el mantenimiento en vigor de la Ley de Amnistía' de 1977 y recuerda que 'los delitos de lesa humanidad son imprescriptibles' y que las amnistías 'relativas a las violaciones graves de los derechos humanos son incompatibles con el pacto'.“
  21. Spaniens Vertretung in den Vereinten Nationen: Comentarios del Gobierno de España sobre las observaciones finales del Comité de Derechos Humanos (CCPR/C/ESP/CO/5). In: Nuevatriubuna.es. Nuevatriubuna.es, 13. Januar 2009, abgerufen am 29. Februar 2024 (spanisch).
  22. a b Thomson Reuters Foundation: Spain must lift amnesty for Franco era crimes-U.N. Abgerufen am 29. Februar 2024.
  23. U.N. tells Spain to revoke Franco-era amnesty law. In: Reuters. 30. September 2013, abgerufen am 29. Februar 2024 (englisch): „The United Nations called on Monday for Spain to overturn a 1977 amnesty law that pardons crimes committed during the 36-year dictatorship of General Francisco Franco. (...) It is regrettable the situation of impunity for cases of enforced disappearances that occurred during the civil war and the dictatorship. There is no ongoing effective criminal investigation nor any person convicted," the UN experts said.“
  24. UN presses Spain over Franco-era crimes and mass graves. In: BBC News. 1. Oktober 2013, abgerufen am 11. März 2024 (englisch): „"There is no ongoing effective criminal investigation nor any person convicted," the experts said. They regretted that Spain's amnesty law remains in force, and also complained of difficulties in accessing archives.“