Sprachtod

Prozess des Sterbens einer Sprache, bis eine Sprache keine Muttersprachler mehr hat
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Der Sprachtod bezeichnet den Prozess des Sterbens einer Sprache, bis eine Sprache keine Muttersprachler mehr hat. Sprachtod entsteht häufig in Situationen von Sprachkontakt, in denen zwei oder mehr Sprachen in einer Gesellschaft miteinander konkurrieren: Immer weniger Sprecher verwenden eine Sprache in immer weniger Kontexten, bis es schließlich kaum noch kompetente Sprecher der Sprache gibt und sie vollständig durch die dominante Sprache ersetzt wird. Ein extremer Fall des Sprachtods ist die Ausrottung ihrer Sprecher durch Hunger, Seuchen oder Genozid.[1]

Wenn eine Sprache weder schriftliche Aufzeichnungen noch Tonaufzeichnungen hinterlässt, ist sie damit vollständig verschwunden und gilt als ausgestorben.[2] Wissenschaftliche Schätzungen gehen von etwa 6.000 bis 7.000 lebenden Sprachen weltweit aus, von denen im 21. Jahrhundert zwischen 50 und 90 Prozent aussterben werden.[3][4]

Anmerkungen zur Terminologie

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Der Ausdruck Sprachtod ist eine Metapher und nicht wörtlich zu verstehen. Die Metapher des Sprachtods dient aber der Beschreibung eines dramatischen Vorgangs, denn mit dem Tod einer Sprache geht in der Regel auch der Verlust einer kulturellen Tradition und die ethnische und sozioökonomische Unabhängigkeit einer Sprachgruppe einher. Allein in den letzten 500 Jahren sind etwa die Hälfte der bekannten Sprachen der Welt ausgestorben.[5]

Tote Sprachen und ausgestorbene Sprachen

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Gelegentlich wird unterschieden zwischen ausgestorbenen Sprachen, für die es keine Sprecher mehr gibt, und toten Sprachen, für die es zwar keine Muttersprachler mehr gibt, aber noch Sprecher, die die Sprache verstehen. Eine tote Sprache kann gut dokumentiert sein, als Fremdsprache gelehrt und eventuell sogar noch in bestimmten Zusammenhängen gebraucht werden, wie Latein oder Altkirchenslawisch. So ist z. B. Latein eine tote Sprache, da es niemanden gibt, der es als Muttersprache spricht. Gleichwohl gibt es aber viele Menschen, die Latein verstehen, weil sie diese Alte Sprache als Fremdsprache gelernt haben. Klassisches Latein entwickelt sich als tote Sprache nicht mehr weiter, aber es gibt die romanischen Sprachen, die sich aus dem Vulgärlatein fortentwickelt haben.[6]

Mit gewissen phonologischen Einschränkungen ist es sogar möglich, eine tote Sprache wiederzubeleben, wie das beim Iwrit (Modernes Hebräisch) der Fall ist, das rund 2000 Jahre nach dem Aussterben des Hebräischen als gesprochene Sprache zur Staatssprache Israels wurde. Das wiederbelebte Kornische dagegen ist nicht viel mehr als ein Hobby von Englischsprachigen, die im Kornischen meist kein besseres Sprachvermögen erreichen, als Englischsprachige, die Deutsch im Schnellkurs erlernen.

Abgrenzung zum Linguizid

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Sprachtod muss von dem seltener gebrauchten Begriff Linguizid unterschieden werden. Der Linguizid (Sprachenmord) ist der provozierte Sprachtod. Seit dem 16. Jahrhundert wurde insbesondere in kolonialen Zusammenhängen eine Sprachpolitik betrieben, die den Sprechern das Sprechen ihrer Muttersprache explizit verboten bzw. gezielt erschwert hat.[7][8] In der Literatur wird Linguizid mitunter auch als eine Form des Ethnozid betrachtet.[9]

Ursachen des Sprachtods

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Es gibt nicht eine einzelne Ursache für Sprachtod, sondern eine Reihe von Faktoren, die zum Sprachtod beitragen können:[10]

  • Einflüsse, die Sprecher einer Sprache gefährden oder gar auslöschen: Naturkatastrophen wie Erdbeben, Vulkanausbrüchen oder Tsunamis, Dürren und Hungerkatastrophen, Seuchen, aber auch die Vernichtung von Stammesländern indigener Völker, Kriege und militärische Konflikte
  • Einflüsse, die Kulturveränderungen auslösen: kulturelle Assimilation, Urbanisierung, Sprachpolitik mit negativen Auswirkungen auf Minderheiten oder mit dem Zweck der Unterdrückung sprachlicher Minderheiten

Beispiele finden sich sowohl aus heutiger Zeit als auch in der Weltgeschichte: Als Folge eines Erdbebens 1998 an der Küste von Papua-Neuguinea wurden unter anderem die Dörfer der Arop und Warupu zerstört und 30 % der Einwohner getötet. Die Überlebenden zogen in andere Regionen oder urbane Zentren, so dass es fraglich ist, ob ihre Sprachen überleben werden. Ein weiteres Beispiel ist das Irische, das zwar nicht ausgestorben ist, aber dessen Niedergang durch die Hungersnot 1845–1851 mit über einer Million Toten und anschließender Massenauswanderung beschleunigt wurde. In Amerika sind seit der Ankunft der spanischen Eroberer durch militärische Aggression während der Kolonialisierung ungefähr 30 Sprachen ausgestorben.[11]

Ablauf des Sprachsterbens

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Eine Sprache kann sterben, wenn Sprecher zwei Sprachen verwenden und schließlich die eine Sprache zugunsten der zweiten Sprache aufgeben. Der Ablauf eines Sprachsterbens umfasst drei Phasen:[12]

  • Phase I (Sprachwechsel): In einer bilingualen oder multilingualen Gesellschaft sprechen Sprachgruppen ursprünglich zwei Sprachen, wovon eine Sprache in der Regel ihre Muttersprache ist und die andere Sprache, die Zielsprache, in der Gesellschaft in verschiedenen Domänen (z. B. Schule, öffentliche Einrichtungen, Medien) dominant ist. Die erste Phase des Sprachsterbens ist erreicht, wenn Sprecher anfangen, die Zielsprache gegenüber der Muttersprache zu bevorzugen, etwa aufgrund von sozio-ökonomischem Druck von außen. Kinder hören die Muttersprache möglicherweise nur noch im familiären Kontext, aber nicht mehr außerhalb von zu Hause. Damit einher geht oft eine Veränderung der Einstellung gegenüber der in der Familie gesprochenen Sprache, die dort zunehmend an Bedeutung verliert.
  • Phase II (Sprachverfall): Die Weitergabe der Ursprungssprache von Eltern an ihre Kinder findet nicht oder nicht mehr umfassend statt. Es entstehen „Halbsprecher“, die die Sprache nur noch unvollkommen beherrschen: Obwohl sie noch über ein umfangreiches Vokabular verfügen, ist ihr Repertoire an grammatischen Strukturen und stilistischer Vielfalt eingeschränkt. Damit einher geht auch ein phonologischer Verfall, d. h., die Halbsprecher beherrschen die für die Sprache typischen Laute nur unzureichend.
Gibt es für eine Sprache fast nur noch Sprecher, die über 50 Jahre alt sind, sowie „Halbsprecher“ in der Altersgruppe zwischen 25 und 50 Jahren, jedoch kaum noch Sprecher in der Altersgruppe unter 25 Jahren, so gilt diese Sprache als „moribund“ (todgeweiht), da die Weitergabe der Sprache von Eltern an ihre Kinder kaum noch möglich ist.
  • Phase III (Sprachtod): Die ursprüngliche Sprache wird nicht mehr verwendet und ist vollständig durch die Zielsprache ersetzt. Es kann jedoch sein, dass sprachliche Eigenarten der Ursprungssprache als sogenanntes Substrat Eingang in die Zielsprache finden.

Folgen des Sprachtods und Maßnahmen zur Sprachrevitalisierung

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Mit dem Tod von Sprachen geht auch der Verlust anderer menschlicher Errungenschaften einher:[13]

  • Die in einer Sprache speziell immanenten Konzepte von Bezeichnungen und Sicht auf die Welt können untergehen und damit traditionelles Wissen über unsere Umwelt, Medizin, Pflanzen, Tiere oder die Erde.
  • Jede Sprache stellt ein kulturelles Erbe dar, das verloren gehen kann, einschließlich mündlich weitergegebener Geschichte, Lyrik, Epik, Schlaflieder, Witze, Sprüche, Mythen.
  • Forscher verlieren Datengrundlagen für die Erforschung menschlicher Kognition, z. B., ob die Grammatik oder das Vokabular einer Sprache Denken und Weltsicht beeinflusst.

Beispiele für den Verlust kulturellen Erbes sind etwa die Mythen und Legenden der Tuwa, Wissen über traditionellen Reisanbau bei den Ifugao auf den Philippinen oder das Zahlensystem verschiedener Sprachen.[14]

Mittels Sprachpolitik wird in vielen Ländern versucht, Sprachen lebendig zu erhalten oder wieder neu zu beleben. Der Erfolg solcher Maßnahmen hängt jedoch von der noch vorhandenen Sprecherzahl, ihrem politischen Einfluss, finanziellen Möglichkeiten und dem Stadium des Sprachsterbens ab. Ein Beispiel für eine solche versuchte Spracherhaltung ist die Sprachpolitik in Wales: Walisisch wird an Schulen unterrichtet und hat den Status einer offiziellen Sprache in Wales, ferner gibt es den walisischsprachigen Fernsehsender S4C.[15]

Dialekttod

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Dialekte können ebenfalls zurückgehen und ganz verschwinden; man spricht dann auch vom Dialekttod.[16] Beispielsweise sind in den meisten Gegenden Frankreichs die verschiedenen galloromanischen Lokalvarietäten vollständig verschwunden. Dasselbe ist in verschiedenen Gegenden Norddeutschlands mit den niederdeutschen Varietäten geschehen, etwa im Raum Hannover. Jedoch wird das Niederdeutsche größtenteils als eigenständige Sprache gesehen und so im Sinne der Europäischen Charta der Regional- und Minderheitensprachen behandelt, sodass es in einigen Ländern bereits im Bildungsbereich Angebote zum Erhalt der Sprache gibt.[17][18][19][20][21] Im oberdeutschen Sprachraum (alemannisch, bairisch) sind Dialekte auch in Kultur und Medien in Gebrauch, jedoch nicht im Schweizer Parlament.[22][23]

Siehe auch

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Literatur

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  • Lyle Campbell: Language Death. In: R.E. Asher, J.M.Y. Simpson (Hrsg.): The Encyclopedia of Language and Linguistics. Band 4. Pergamon Press, Oxford 1994, ISBN 0-08-035943-4, S. 1960–1968.
  • David Crystal: Language Death. Cambridge University Press, Cambridge 2000, ISBN 0-521-65321-5.
  • K. David Harrison: When Languages Die. The Extinction of the World’s Languages and the Erosion of Human Knowledge. Oxford University Press, Oxford u. a. 2007, ISBN 978-0-19-518192-0.
  • Marke Janse, Sijmen Tol: Language Death and Language Maintenance: Theoretical, practical and descriptive approaches. John Benjamins, Amsterdam/Philadelphia 2003, ISBN 90-272-4752-8.
  • Hans-Jürgen Sasse: Theory of Language Death. In: Matthias Brenzinger: Language Death. Factual and Theoretical Explorations with Special Reference to East Africa (= Contributions to the Sociology of language. 64). Mouton de Gruyter, Berlin u. a. 1992, ISBN 3-11-013404-7, S. 7–30, (Darin ein durchdachtes Modell zur Abfolge des Sprachtodes).
  • Peter Schrijver, Peter-Arnold Mumm (Hrsg.): Sprachtod und Sprachgeburt. Hempen, Bremen 2004, ISBN 3-934106-37-4.
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Wiktionary: Sprachtod – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen
Wiktionary: tote Sprache – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Einzelnachweise

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  1. Lyle Campbell: Language Death. In: R.E. Asher, J.M.Y. Simpson (Hrsg.): The Encyclopedia of Language and Linguistics. Band 4. Pergamon Press, Oxford 1994, ISBN 0-08-035943-4, S. 1960.
  2. David Crystal: Language Death. Cambridge University Press, Cambridge 2000, ISBN 0-521-65321-5, S. 2.
  3. David Crystal: Language Death. Cambridge University Press, Cambridge 2000, ISBN 0-521-65321-5, S. 3, 18-19.
  4. Elena Bernard: 1.500 Sprachen sind akut vom Aussterben bedroht In: Scinexx, 27. Dezember 2021, abgerufen am 30. Dezember 2021.
  5. Hans-Jürgen Sasse: Theory of language death/Language decay and contact-induced change: similarities and differences. [Papers presented at the International Symposium on Language Death in East Africa, Bad Homburg, January 8 - 12, 1990]. In: Institut für Linguistik (Köln). Abteilung Allgemeine Sprachwissenschaft: Arbeitspapier; N.F., Nr. 12. Allgemeine Sprachwissenschaft, Institut für Linguistik, Universität zu Köln, Köln 1990, S. 1.
  6. Wilfried Stroh: Ein unsterbliches Gespenst: Latein. In: Peter Schrijver, Peter-Arnold Mumm (Hrsg.): Sprachtod und Sprachgeburt. Hempen, Bremen 2004, ISBN 3-934106-37-4, S. 77–78, 85–86.
  7. Amir Hassanpour: The Politics of A-political Linguistics: Linguists and Linguicide. In: Robert Phillipson (Hrsg.): Rights to Language. Equity, Power, and Education. Celebrating the 60th Birthday of Tove Skutnabb-Kangas. Erlbaum Associates, Mahwah NJ u. a. 2000, ISBN 0-8058-3346-3, S. 33–39.
  8. Beau Grosscup: Strategic Terror. The Politics and Ethics of Aerial Bombardment. SIRD, Kuala Lumpur 2006, ISBN 1-84277-543-X, S. 33 ff.
  9. Israel W. Charny: Toward a Generic Definition of Genocide. In: George J. Andreopoulos (Hrsg.): Genocide. Conceptual and Historical Dimensions. University of Pennsylvania Press, Philadelphia PA 1994, ISBN 0-8122-3249-6, S. 64–94, hier S. 85.
  10. David Crystal: Language Death. Cambridge University Press, Cambridge 2000, ISBN 0-521-65321-5, S. 70–88.
  11. David Crystal: Language Death. Cambridge University Press, Cambridge 2000, ISBN 0-521-65321-5, S. 71, 76.
  12. Hans-Jürgen Sasse: Theory of language death/Language decay and contact-induced change: similarities and differences. [Papers presented at the International Symposium on Language Death in East Africa, Bad Homburg, January 8 - 12, 1990]. In: Institut für Linguistik (Köln). Abteilung Allgemeine Sprachwissenschaft: Arbeitspapier; N.F., Nr. 12. Allgemeine Sprachwissenschaft, Institut für Linguistik, Universität zu Köln, Köln 1990, S. 9–19.
  13. K. David Harrison: When Languages Die. The Extinction of the World’s Languages and the Erosion of Human Knowledge. Oxford University Press, Oxford u. a. 2007, ISBN 978-0-19-518192-0, S. 15–19.
  14. K. David Harrison: When Languages Die. The Extinction of the World’s Languages and the Erosion of Human Knowledge. Oxford University Press, Oxford u. a. 2007, ISBN 978-0-19-518192-0, S. 57, 142, 163, 169.
  15. David Crystal: The Cambridge Encyclopedia of Language, 2. Auflage. Cambridge University Press, Cambridge 1997, ISBN 0-521-559677, S. 305.
  16. David Britain, Reinhild Vandekerckhove, Willy Jongenburger (Hrsg.): Dialect Death in Europe? International Journal of the Sociology of Language 196/197. Mouton de Gruyter, Berlin/New York 2009.
  17. Ministerie van Binnenlandse Zaken en Koninkrijksrelaties: De Nedersaksische taal - Erkende talen - Rijksoverheid.nl. 14. Juli 2020, abgerufen am 26. Januar 2024 (niederländisch).
  18. Niederdeutsch. Abgerufen am 26. Januar 2024.
  19. Regionalsprache Niederdeutsch. Abgerufen am 26. Januar 2024.
  20. Aktuelles | Niederdeutschsekretariat und Bunnsraat för Nedderdüütsch. 5. November 2017, abgerufen am 26. Januar 2024 (deutsch).
  21. Europäische Sprachencharta - Bundeskanzleramt Österreich. Abgerufen am 26. Januar 2024.
  22. blick.ch: Kein Mundart im Nationalrat, abgerufen am 31. Januar 2024
  23. diotikon.ch:schweizerdeutsch, abgerufen am 31. Januar 2024