Transvestitenschein

Erlaubnisdokument für das Tragen gegengeschlechtlicher Kleidung
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Ein umgangssprachlich so genannter Transvestitenschein oder auch Transvestitenbescheinigung war ein ab 1909 bis mutmaßlich in die 1950er Jahre ausgegebenes Dokument, das dem jeweiligen Besitzer ohne Furcht vor behördlicher oder polizeilicher Verfolgung gestattete, in der Öffentlichkeit gegengeschlechtliche Kleidung zu tragen. Transvestit bezog sich zu diesem Zeitpunkt auf alle Personen, deren Geschlechtsidentität und bevorzugte Kleidung nicht mit ihrem zugewiesenen Geschlecht übereinstimmten, und umfasste daher sowohl Cross-Dresser als auch Transgender-Personen.[2]

Faksimile eines originalen Transvestitenscheins[1] der Magnus Hirschfeld Stiftung

Geschichte

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Seit Beginn des 20. Jahrhunderts zog es Homosexuelle und transvestitisch veranlagte Personen vermehrt in die deutsche Hauptstadt Berlin. Hier war es im Vergleich zum Umland oder anderen Regionen eher möglich, auf Gleichgesinnte zu treffen. Zwar gab es auch in Berlin einen Verfolgungsdruck aufgrund der damaligen Strafbarkeit von Homosexualität (unter Männern), aber er war nicht so groß wie in der jeweiligen dörflichen oder kleinstädtischen Heimat, wo man sich oftmals auch kannte. Diese provinzielle Enge ist bis heute und auch weltweit für Homosexuelle und Transgender ein Beweggrund für den Wegzug in eine Großstadt geblieben.

Zwischen dem 6. Juli 1919 und dem 6. Mai 1933 existierte in Berlin-Tiergarten das Institut für Sexualwissenschaft (IfS). Gegründet und geführt wurde es von dem Arzt und Sexualforscher Dr. Magnus Hirschfeld (1868–1935). In Berlin führte die Kriminalpolizei seit Längerem ein eigenes „Homosexuellendezernat“. Hirschfeld verfügte als prominente Person und SPD-Mitglied über gute persönliche Kontakte zu den Kripo-Beamten und konnte in Gesprächen mit ihnen erstaunliche liberale Einstellungen gewinnen. Es gab hier Kommissare, die durch sachliche Überlegung und sicher auch Überzeugung die Verfolgung von „Männerfreunden und Päderasten“ wahlweise nur wenig nachdrücklich betrieben oder sogar für die Abschaffung des § 175 plädierten. Hierunter zählen Personen wie Leopold von Meerscheidt-Hüllessem (1849–1900), Hans von Tresckow (1863–1934) und der laut Jens Dobler „linke sexual-reformistische“ Heinrich Kopp (1871–1941).[3]

Das Tragen gegengeschlechtlicher Kleidung fiel zwar nicht unter den „Homosexuellenparagraphen“, konnte aber strafrechtlich unter Umständen als „Erregung öffentlichen Ärgernisses“ nach § 183 des Reichsstrafgesetzbuches eingeordnet und mit bis zu zwei Jahren Gefängnis oder Geldstrafe belegt werden. Da hierfür ebenfalls das Homosexuellendezernat zuständig war, erwies sich die Zusammenarbeit mit den Wissenschaftlern des sexualwissenschaftlichen Instituts als vorteilhaft, als es darum ging, hier liberalere Vorgehensweisen zu etablieren.

Magnus Hirschfeld hatte in seinen Forschungen den Begriff „Transvestit“ geprägt und 1910 mit seiner Publikation Die Transvestiten weltweit erstmals eine Untersuchung über den „erotischen Verkleidungstrieb“ veröffentlicht. Hierbei stellte er fest, dass es keine zwangsläufige Verbindung zwischen Homosexualität und Transvestitismus gab. Er machte vielmehr eine Nichtübereinstimmung zwischen physischer und psychischer Verfassung des Betreffenden aus. Er sah es aufgrund der lebenswichtigen Bedeutung, die die „Umkleidung“ für den jeweiligen Träger hatte, als seine ärztliche Aufgabe an, diese als notwendig zu attestieren. Hirschfeld und Kopp konnten somit eine Regelung erwirken[4], die erlaubte, den betreffenden Personen nach Vorlage einer ärztlichen Bestätigung ihres „Transvestitismus“ bestimmte polizeiliche Ausweise auszustellen, womit sich die Inhaber(innen) bei Polizeikontrollen, Razzien oder vor Gericht als offiziell bekannt „Männerkleidung tragend“ bzw. „Frauenkleidung tragend“ ausweisen konnten und so vor Verhaftung und Strafen geschützt waren.

 
Herbert W. (links) und ein Freund. Er lebte zwei Jahre in Berlin unter seinem gewählten Namen[5]

So erhielt ein 1885 in Berlin als Katharina T. geborener Transmann bereits 1909 einen solchen Ausweis.[6] Im Jahr darauf bekam – unter breiter Pressebegleitung – auch Gerda von Zobeltitz (1891–1963) dieses Dokument, die durch ihre provokante Art behördlichen Ärger bis dahin regelrecht auf sich gezogen hatte. Allerdings wurde ihr der Transvestitenschein auf Betreiben eines Verwandten 1916 wieder entzogen.[7]

Das Institut fungierte als Gutachter für Transvestitenscheine und andere „Trans-Atteste“, was für das IfS auch eine willkommene wirtschaftliche Komponente in dieser von der Weltwirtschaftskrise gezeichneten Zeit darstellte. 1924 berechnete das Haus für ein solches Gerichtsgutachten 150 Reichsmark, und als Gebühr für einen Transvestitenschein wurde 1929 50 RM erhoben. Hilfreich für die Betroffenen war es auch, dass es 1921 einen Beschluss des preußischen Innenministeriums gab, wonach es möglich wurde, dass die begutachteten Männer und Frauen ihren Vornamen geschlechtstypisch angleichen oder geschlechtsneutrale Namen wie Alex, Toni oder Gert tragen durften. Allerdings wurden diese Änderungen in den amtlichen Verlautbarungen öffentlich gemacht, womit die Betroffenen unfreiwillig geoutet wurden. Die Verlautbarungen enthielten die Klarnamen, persönliche Daten und sogar die Wohnadressen der Betreffenden. Aber auch danach waren sie abhängig vom Verständnis der Polizei und Justiz, auf deren Genehmigung sie angewiesen und deren Kontrollwillkür sie ausgeliefert waren. Insofern hatten Transvestiten trotz dieser Liberalisierungen also auch weiterhin einen prekären Status.[8]

Auch in anderen Städten wie Hamburg, München, Köln oder Essen wurden Transvestitenscheine ausgegeben. In Preußen, dem größten Einzelstaat des Deutschen Reiches, waren Transvestitenscheine am ehesten verbreitet.[9][10] Dennoch blieb die Ausgabe dieser Transvestitenscheine im Deutschen Reich die Ausnahme, da sich nahezu zeitgleich eine andere liberale Entwicklung Bahn brach: Die Berliner Kriminalpolizei veröffentlichte 1922 eine Stellungnahme, in der sie eine Verhaftung ausschließlich aufgrund des Tragens geschlechtsuntypischer Kleidung verbot, und führte dazu aus:

„Die im Publikum noch verbreitete Meinung, dass es sich bei den verkleideten Personen um verkappte Verbrecher […] handele, ist hinfällig.“

Drittes Reich und Nachkriegsdeutschland

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Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 und der Vernichtung des Instituts für Sexualwissenschaft am 6. Mai 1933 endete die Praxis dieser Transvestitenscheine allerdings nicht. Wer im Nationalsozialismus keine homosexuellen Handlungen erkennen ließ oder öffentliches Ärgernis erregte (etwa Menschenaufläufe), blieb als Transvestit meist unbehelligt.[11] Auch Personenstandänderungen wurden zugelassen.[12]

Auch im Nachkriegsdeutschland wurde die Vergabepraxis der Transvestitenscheine fortgesetzt. So erhielt Toni (Anton) Simon (1887–1979)[13] vor wie auch nach dem Zweiten Weltkrieg von den deutschen Behörden die Erlaubnis, sich öffentlich in Frauenkleidern zu bewegen.[14]

Literatur

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  • Magnus Hirschfeld: Die Transvestiten, Berlin 1925.
  • Magnus Hirschfeld: Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen unter besonderer Berücksichtigung der Homosexualität.
  • Jens Dobler: Zwischen Duldungspolitik und Verbrechensbekämpfung. Homosexuellenverfolgung durch die Berliner Polizei von 1848 bis 1933, Frankfurt a. M. 2008, ISBN 978-3-86676-041-7.
  • Robert Beachy: Das andere Berlin. Die Erfindung der Homosexualität. Eine deutsche Geschichte 1867 – 1933, München 2015, ISBN 978-3-82750-066-3.
  • Rainer Herrn: Schnittmuster des Geschlechts. Transvestitismus und Transsexualität in der frühen Sexualwissenschaft, Gießen 2005, ISBN 978-3-89806-463-7.

Einzelnachweise

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  1. Ein Schein zum (Anders)-Sein Informationen der Stiftung Deutsches Historisches Museum
  2. Livia Gershon: Gender Identity in Weimar Germany. 18. November 2018, abgerufen am 17. November 2020 (amerikanisches Englisch).
  3. Jens Dobler: Dr. Heinrich Kopp (1871–1941), Archiv für Polizeigeschichte, 11. Jg. (1/2000), S. 2–7;
    Jens Dobler: Zwischen Duldungspolitik und Verbrechensbekämpfung. Homosexuellenverfolgung durch die Berliner Polizei von 1848 bis 1933, Kap. V, 1.1.3. Homosexuellenreferat, Frankfurt a. M. 2008, ISBN 978-3-86676-041-7 (= Dobler, Polizei), S. 445–450.
  4. Dobler, Polizei, S. 446f
  5. Bildquelle: Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen unter besonderer Berücksichtigung der Homosexualität, Jahrgang 1922
  6. Magnus Hirschfeld: Transvestiten, 2. Auflage Berlin 1925, Seiten 192f., 194, 196 (online auf archive.org)
  7. Persönlichkeiten in Berlin 1825 – 2006 Hrsg. Berliner Senatsverwaltung für Arbeit, Integration und Frauen Landesstelle für Gleichbehandlung – gegen Diskriminierung (PDF 1,8 MB)
  8. Ver-körperungen des anderen Geschlechts - Transvestitismus und Transsexualität historisch betrachtet von Rainer Herrn, veröffentlicht am 8. Mai 2012 auf der Webseite der Bundeszentrale für politische Bildung
  9. Ich habe gedacht, wir sind die Einzigen auf der ganzen Welt@1@2Vorlage:Toter Link/schwules-netzwerk.de (Seite nicht mehr abrufbar, festgestellt im Mai 2024. Suche in Webarchiven)  Info: Der Link wurde automatisch als defekt markiert. Bitte prüfe den Link gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis. Lesbisch/trans*/schwul nach 1945; Zeitzeug_innen erinnern sich, Schwules Netzwerk NRW, PDF 3,8 MB
  10. Natasha Frost: The Early 20th-Century ID Cards That Kept Trans People Safe From Harassment. 2. November 2017, abgerufen am 17. November 2020 (englisch).
  11. Rainer Herrn, Zeitschrift für Sexualforschung Jf. 26 (2013) 4, S. 330–37: Sofern Trans*personen den „gegen sie erhobenen Homosexualitätsverdacht entkräften konnten, lässt sich in keinem Fall eine Strafverfolgung nachweisen“
  12. Geschlechtswechsel unter der NS‐Herrschaft, von Ilse Reiter-Zatloukal (2014)
  13. Lebensgeschichte Toni Simon in LAMBDA, Jg. 32, Nr. 133, S. 36
  14. Raimund Wolfert: Skandinavien: Grundsteinlegung und Konsolidierung, in: Goodbye to Berlin? 100 Jahre Schwulenbewegung. Eine Ausstellung des Schwulen Museums und der Akademie der Künste; 17. Mai bis 17. August 1997, Berlin 1997, S. 236