Ali Schariati
Ali Schariati (persisch على شريعتى, DMG ʿAlī Šarīʿatī [ ]; in englischer Schreibweise Shari’ati; geb. 24. November 1933 im iranischen Dorf Kahak bei Mazinan unweit der Stadt Sabzewar in der Provinz Chorasan; gest. 19. Juni 1977 in Southampton, England) war ein iranischer schiitischer Ideologe und Religionssoziologe. Er gilt als einer der wichtigsten Vordenker der Islamischen Revolution.[1] Seine Schriften, die sich um die revolutionäre Rolle des Islams und des Schiismus und die Rückgewinnung des kulturellen Erbes drehten, hatten großen Einfluss auf die jungen Intellektuellen Irans.
Leben
BearbeitenKindheit und Jugend
BearbeitenAli Schariati war der Sohn des Religionslehrers Mohammad Taqi Schariati und stammte aus einer Gelehrtenfamilie.[2] Er wuchs teilweise in Mazinan und teilweise in Sabzevar auf und besuchte dann die weiterführende Schule und anschließend das örtliche Lehrerseminar in Maschhad. In diesen frühen Jahren stand er stark unter dem intellektuellen Einfluss seines Vaters, den er später einmal als seinen „ersten wirklichen Lehrer“ beschrieb.[3] Vater und Sohn beteiligten sich aktiv an den politischen Diskussionen ihrer Zeit und wurden Mitglied einer Gruppe, die sich Bewegung der Gott ergebenen Sozialisten nannte. Der Cheftheoretiker dieser Gruppe, Abolqassem Schakibnia, behauptete, dass es der Prophet Mohammed gewesen sei, der den Sozialismus erfunden und noch in seiner Zeit auf der arabischen Halbinsel eingeführt hätte.[4]
Als Student und politischer Aktivist in Maschhad
BearbeitenWährend seines Studiums an der Pädagogischen Hochschule nahm Schariati an Demonstrationen für Premierminister Mohammad Mossadegh Mossadeq teil und unterstützte aktiv die Nationale Front. Wie die anderen Mitglieder der Diskussionsgruppe seines Vaters war er der Ansicht, dass die religiösen Führer im Jahr 1953 die nationalistische Sache verraten hätten. Nach Abschluss seiner Schulausbildung wurde Ali Schariati Lehrer in einem Dorf in der Nähe von Maschhad. In dieser Zeit übersetzte er ein arabisches Buch des ägyptischen Publizisten ʿAbd al-Hamīd as-Sahhār über Abū Dharr al-Ghifārī. Dieser Prophetengefährte und sein Eintreten für soziale Gerechtigkeit sollten Ali Schariatis weiteres Denken entscheiden beeinflussen. Jahre später erklärte Schariatis Vater, sein Sohn habe versucht, den Prinzipien Abū Dharrs treu zu bleiben, „vom Tag an, als er diese Biographie entdeckte, bis zu seinem Tod“. Andere lobten Ali Schariati als den „Abū Dharr des modernen Iran“.[5]
Ab Dezember 1950 veröffentlichte Abolqassem Schakibnia mehrere Artikel Schariatis, die auf das Vaset-Konzept (zu arab. al-wasaṭiyya, vgl. im Koran: A nation justly balanced) anspielten, den gleichnishaft benutzten mathematischen Zentralwert (Median) einbrachten und „Die Median-Schule des Islam“ (Maktabe Vasete Islam) titelten. Einem dieser Artikel war eine Karte beigefügt, die die Länder von Nordafrika über Saudi-Arabien, die Türkei, Iran, Pakistan, die südlichen Republiken der Sowjetunion und Afghanistan zeigte, und die er den Medianischen Block nannte. In der Zeit des Kalten Krieges sollten die Länder des Medianischen Blocks einen „Dritten Weg“ eröffnen (Na Sharghi Na Gharbi: „Neither East, nor West“; „Weder Ost noch West“), der vom Islam geprägt ist, und der weniger materialistisch als der Kapitalismus oder der Kommunismus, sondern mehr auf Erlösung und ein erfülltes Seelenleben ausgerichtet zu sein beanspruchte. Schariatis „Weder Ost noch West“ wurde später, wenn auch variiert, von Chomeinis Revolution aufgegriffen: Na Sharqi Na Gharbi Jomhuri-ye Eslami: „Weder Ost noch West [sondern eine] Islamische Republik“.[6]
Ab November 1954 veröffentlichte die Zeitung Khorasan zehn Wochen lang auf ihrer ersten Seite eine Artikelserie, die den Titel Die Median-Schule des Islam trug. Dieses Mal hieß der Verfasser Ali Schariati. Eine ähnliche Karte wie in den Veröffentlichungen Schakibnias wurde auch als Teil dieser Artikelserie abgedruckt, doch dieses Mal lautete der Autor Ali Schariati, ohne die zuvor erschienenen Veröffentlichungen von Abolqassem Schakibnia zu erwähnen. Die Artikelserie machte Ali Schariati auf einen Schlag bekannt. Die Idee, dass der Islam einen Dritten Weg, quasi ein alternatives gesellschaftliches Modell gegenüber dem kruden Materialismus des Kommunismus und der schnöden Gier des Kapitalismus aufzeigen konnte, schien zu verlockend zu sein. Der Islam, der immer als rückständig und rückwärtsgewandt gegolten hatte, war mit den Schriften Schariatis plötzlich in der Moderne angekommen.
1956 schrieb sich Schariati an der Literaturkolleg der Universität Maschhad ein, um moderne Sprachen, insbesondere Französisch und Arabisch, zu studieren.[5] Neben seiner Tätigkeit als Lehrer studierte Schariati Iranische Literatur.
Paris: Studium an der Sorbonne
Bearbeiten1959 erhielt Schariati ein staatliches Stipendium, um an der Sorbonne in Paris Philologie zu studieren.[5] Dort beteiligte er sich auch an der Herausgabe von zwei regimekritischen Zeitschriften: Nāme-ye Pārs („Pars-Brief“), dem vierteljährlichen Journal der iranischen Studentenvereinigung, und Īrān-e Āzād („Freier Iran“), dem Hauptorgan der im Exil lebenden Nationalen Front. In beiden Zeitschriften schrieb er regelmäßig Kolumnen unter dem Pseudonym Schamʿ („Kerze“). Das Schīn stand dabei für Schariati, das Mīm für Mazinan und das ʿAin für seinen Vornamen Ali. Außerdem begann er mit der Übersetzung von „Le Meilleur Combat“ des algerischen Politikers Amar Ouzegane, den er als großen muslimischen Marxisten pries.[7]
Schariati interessierte sich sehr für die westliche Orientalistik, die französische Soziologie und die radikale Katholische Theologie, insbesondere die Vorläufer der Befreiungstheologie. In der Orientalistik besuchte Schariati die Vorlesungen von Louis Massignon und Henry Corbin; von Massignon schrieb er später, dass er den größten Einfluss auf ihn gehabt habe. Er übersetzte auch Massignons Bücher über al-Hallādsch und Salmān al-Fārisī. Die Übersetzung des Buches über Salmān al-Fārisī war ihm besonders wichtig, weil dieser, wie er später erklärte, „der erste Muslim, der erste Schiit und der erste Iraner war, der für Imam ʿAlī kämpfte“.[8] Durch Massignon lernte Schariati auch die radikale katholische Zeitschrift Esprit kennen.[9] Schariati besuchte auch Vorlesungen von Raymond Aron, dem kommunistischen Intellektuellen Roger Garaudy, dem marxistischen Philosophen Georges Politzer, und dem Soziologien Georges Gurvitch.[7] Schariati selbst schrieb später, dass er fünf Jahre lang fleißig Gurvitchs Vorlesungen an der Sorbonne besucht habe und Gurvitchs Einfluss auf ihn nur von demjenigen Massignons übertroffen wurde.[9]
Nachdem Schariati 1965 seinen Doktortitel erhalten hatte, kehrte er in den Iran zurück, wurde jedoch an der Grenze festgenommen und zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt.[9] Nach seiner Freilassung versuchte er zunächst an der Universität Teheran eine Anstellung zu bekommen, wurde aber abgelehnt. Er wurde 1965 an die Universität von Maschhad als Assistenzprofessor für Geschichte berufen.
An der Hoseiniye-ye Erschād in Teheran
Bearbeiten1965 wurde Ali Schariati als Vortragsredner an die Hoseinīye-ye Erschād eingeladen, wo er bald zum Starredner der Institution aufstieg, der die immer zahlreicher werdenden Hörer in seinen Bann schlug. Schariati erhob in seinen Reden den Weg des schiitischen Märtyrers „zum einzigen Weg, der zur Wahrheit und Gerechtigkeit führt“, und er forderte seine Zuhörer auf, „die Tyrannen zu töten oder zu sterben“.[10] Im Jahr 1969 wechselte er offiziell an die Hoseiniye, um dort eine Festanstellung anzutreten.[9] Bis 1972 war er reguläres Mitglied der Institution. Er konnte dort öffentliche Vorträge halten und sorgte dafür, dass diese Vorträge sowohl in Form von Broschüren als auch auf Kassetten weite Verbreitung fanden.[1]
Im November 1972 wurde die Hoseiniye-ye Erschād geschlossen.[11] Ein Grund war, dass der SAVAK über die aufrührerischen Reden Schariatis, die ein begeistertes Publikum anzogen, beunruhigt war und entdeckt hatte, dass die Volksmudschahedin den Ort als Rekrutierungsstätte nutzten. Zum Teil lag die Schließung auch an internen Differenzen innerhalb der Institution: Einige Vorstandsmitglieder, vor allem Ayatollah Motahhari, waren der Meinung, dass Schariatis Vorlesungen zu konfrontativ, zu kritisch gegenüber der traditionellen islamischer Gelehrsamkeit und zu sehr von westlicher Methodologie, vor allem von marxistischer Soziologie, abhängig seien.[12]
Haft, Ausreise nach England und Tod
BearbeitenSchariati selbst wurde im September 1973 wegen der Propagierung des „islamischen Marxismus“ und seiner Kontakte zu den „Mudschahedin-Terroristen“ verhaftet. Im März 1975 wurde er wieder aus dem Gefängnis entlassen, nachdem er in mehreren Tageszeitungen Artikel veröffentlicht hatte, in denen er den Marxismus kritisiert und die Regentschaft von Mohammad Reza Schah gelobt hatte. Nach Ervand Abrahamian wurden diese Artikel vom SAVAK ohne Schariatis Autorisierung veröffentlicht, um ihn bei linken Gruppen zu diskreditieren.[12]
Nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis war Ali Schariati ein gebrochener Mann. Er behauptete zwar, er hätte mit der Veröffentlichung der regimefreundlichen Artikel nur den SAVAK täuschen wollen, um seine Freilassung zu erreichen, doch sein Ruf bei der Geistlichkeit und der politischen Opposition war ruiniert. Schariati verfiel in tiefe Depression[10] und verließ in den folgenden zwei Jahren sein Haus in Teheran kaum noch.[13]
Um einen Reisepass bekommen, legte sich Schariati einen neuen Nachnamen zu, Mazinani, gewählt nach dem Dorf, in dem er geboren worden war.[13] Am 16. Mai 1977 verließ er Iran, um in London ein neues Leben zu beginnen.[10] Doch dazu kam es nicht mehr. Ali Mazinani Schariati starb am 19. Juni 1977 an einem Herzinfarkt.[14] Der Tod Schariatis, der von der Opposition im Iran als SAVAK-Mord ausgegeben wurde, heizte die Stimmung gegen Mohammad Reza Schah weiter an. Schariati wurde nach seinem Tod zum Märtyrer stilisiert und damit Teil eines Kultes, den er zu Lebzeiten gepredigt hatte. Die Iranische Freiheitsbewegung würdigte ihn 1979 nicht nur als Märtyrer, sondern auch als Mudschahed und eines neuen Maktab, also einer neuen Schule des Islams.[13]
Schriften
BearbeitenDas erste von Schariatis vielen veröffentlichten Büchern war die Übersetzung ʿAbd al-Hamīd as-Sahhārs Buch über Abū Dharr al-Ghifārī. Schariatis Übersetzung hatte den Titel Abū Ẕarr: ḫodāparast-e sosīyalīst („Abū Dharr: Der sozialistische Gottesdiener“) und wurde 1956 in Mashhad veröffentlicht. Zwei weitere Bücher mit den Titeln Ḫvīš („Selbst“) und Niyāyeš („Gebet“) waren Übersetzungen von Texten Alexis Carrels, eines französischen Medizinforschers, der versucht hatte, seine eigene Version des „christlichen Humanismus“ zu entwickeln, um dem marxistischen Materialismus entgegenzuwirken.[5]
Unter seinen zahlreichen – wie bei politischen Pamphleten üblich, vielenorts ohne Impressum erschienenen – persischsprachigen Publikationen gibt die in zahlreichen Editionen verbreitete Programmschrift Hadsch (auch Hajj) eine gute Einführung in seine Theorie. Die Schariati-Stiftung (Shariati Foundation) in Teheran gab zahlreiche Studien heraus. Besonders der Soziologie widmet sich seine Schrift On the Sociology of Islam (hgg. von Hamid Algar, Berkeley, Mizan Press, 1979). Auf Deutsch erschienen einige seiner Schriften in der von der Presse- und Kulturabteilung der Botschaft der Islamischen Republik Iran in Bonn herausgegebenen Reihe Islamische Renaissance.
Ideologie
BearbeitenDer Islam als revolutionäre Ideologie
BearbeitenGeschichte, betonte Schariati oft, ist die Geschichte der menschlichen Entwicklung.[15] In diesem dialektischen Prozess hat der Islam – und insbesondere das Schiismus – als revolutionäre Bewegung seiner Meinung nach die entscheidende Rolle gespielt. Wie Schariati oft sagte: „Jeder Monat ist Muharram, jeder Tag ist Aschura und jeder Ort ist Kerbela.“[16] In dem letzten Brief an seinen Vater, der ihn überlebte, schrieb Schariati, er habe sein Leben einer doppelten Mission gewidmet: einerseits den Muslimen zu beweisen, dass der Islam revolutionär sei, und andererseits nicht-religiöse Revolutionäre davon zu überzeugen, in den Schoß der Muslime zurückzukehren.[17] Der wahre revolutionäre Islam ist aber Schariati zufolge nicht unter seinen offiziellen Interpreten zu finden, weil diese ihn, wie er meinte, verfälscht hatten und als Mitglieder der herrschenden Klasse die Religion als Opium für die Massen verwendeten.[16]
Den Schiismus, so meinte Schariati, hat trotz seiner revolutionären Anfänge das gleiche Schicksal ereilt wie den frühen Islam. Er entwickelte die Theorie, dass es zwei Arten des Schiismus gebe, den reinen und authentischen Schiismus von Ali und den korrumpierten Schiismus der Safawiden, der herrschenden Klasse, der nichts als Unterdrückung und Ausbeutung mit sich gebracht habe. Schariati bezeichnete ersteren als „Roten Schiismus“ und letzeren als „Schwarzen Schiismus“.[18]
Der „Verrat“ des Klerus
BearbeitenSchariati meinte, dass die Geistlichen den Schiismus von einem revolutionären Glaubensbekenntnis in eine konservative Ideologie verwandelt hätten, die bestenfalls Philanthropie, Paternalismus und freiwilligen Verzicht auf Luxus predige.[19] Indem die Geistlichen sich an die herrschende Klasse verkauften und die revolutionäre Sache zu einer Staatsreligion institutionalisierten, hätten sie den Islam verraten, so Schariatis Auffassung. Die schiitischen Geistlichen hätten sich auf so unwichtige Dinge wie Kleidung, Rituale und Bartlänge konzentriert und das Jenseits benutzt, um den Problemen dieser Welt zu entfliehen, insbesondere den Problemen des Industrialismus, Kapitalismus, Imperialismus und Zionismus. Und sie hätten die Bedeutung so entscheidender Begriffe wie Umma, Imamat und monistischer Ordnung (neẓām-e touḥīdī) nicht begriffen. Um die wahre Bedeutung solcher Begriffe herauszufinden, so Schariati in einem ätzenden Kommentar, müsse er sich an europäische Orientalisten wie William Montgomery Watt wenden.[20]
Schariati argumentierte weiter, dass die sozialen Bindungen des Klerus an die besitzenden Klassen ihn zu ihrem Instrument gemacht hätten: Theologische Seminare würden finanziert, um die Belange der Armen nicht ansprechen zu müssen, und die Wirtschaftslehren der Rechtsgelehrten zielten darauf ab, Sharecropping und Ausbeutung zu legitimieren. Diese Lehren seien noch konservativer als jene des kapitalistischen Amerikas. Sie enthielten zwar eine lange Reihe von Verboten, aber keine Hinweise darauf, wie das Land zu entwickeln sei.[21] Noch schwerwiegender war der Vorwurf Schariatis, die Geistlichkeit versuche, eine „monopolistische Kontrolle“ über die Auslegung des Islam zu erlangen, um eine „klerikale Despotie“ (estebdād-e rūḥānī) zu errichten. Diese hielt er für die „schlimmste und unterdrückerischste Form der Despotie, die es in der Menschheitsgeschichte gegeben hat“.[22]
Die Rolle der Intellektuellen
BearbeitenDa die Geistlichkeit die schiitische Sache verraten habe, so Schariati weiter, liege die entscheidende Aufgabe, den Koran und die Hadithe zu verstehen und die revolutionäre Bedeutung des wahren Islam zu enthüllen, nun auf den Schultern der Rouschanfekrān, also der Intellektuellen. Hierbei müssten sie aber vorsichtig vorgehen, weil sich der Iran weder im 20. Jahrhundert noch im Zeitalter der Großbourgeoisie und der Industriellen Revolution befinde, sondern noch immer im Zeitalter des Glaubens in der spätfeudalistischen Ära, unmittelbar am Vorabend der Renaissance.[23]
In Ummat o imāmat („Gemeinschaft und Imamat“) vertrat Schariati die Auffassung, dass die einzige Herrschaft, die nach der zu erwartenden Revolution sowohl akzeptabel als auch wünschenswert wäre, die der Intellektuellen wäre. Dies begründete er damit, dass alle anderen Alternativen unerwünscht seien: die Herrschaft eines einzelnen Mannes, die Diktatur, wäre deswegen unerwünscht, weil sie „Faschismus“ wäre; die Herrschaft des Klerus wäre inakzeptabel, da die Geistlichen ein integraler Bestandteil der unterdrückerischen herrschenden Klasse gewesen seien; und die Herrschaft der Massen, die Demokratie, wäre unerwünscht, da die breite Öffentlichkeit im Iran wie auch in anderen Teilen der Dritten Welt so sehr an traditionellen Aberglauben gebunden sei, dass sie konservative Selbstsüchtige statt „progressiver Intellektueller“ wählen würde. Schariati sprach sich also für die Herrschaft, vielleicht sogar Diktatur, der Intellektuellen aus.[24]
Das Verhältnis zum Marxismus
BearbeitenObwohl Schariati den Marxismus im Allgemeinen und kommunistische Parteien im Besonderen unablässig verurteilte, darunter auch die iranische Tudeh-Partei, war er doch stark vom Marxismus beeinflusst, insbesondere vom Neomarxismus Georges Gurvitchs, für den Marx ein humanistischer Sozialwissenschaftler war, der die Geschichte als dialektischen Prozess betrachtete und für den Religion das Schlüsselelement der Volkskultur war, „das den Unterdrückten Trost, Würde, ein Ventil für ihr Leiden, ein Gefühl von Gerechtigkeit, ein Gemeinschaftsgefühl und manchmal sogar ideologische Werkzeuge zum Kampf gegen ihre Unterdrücker bot“.[25]
Auch in seiner Kritik am schiitischen Klerus griff Schariati auf die marxistische Terminologie zurück. So erklärte er, dass das eigentliche Problem des Islams darin bestehe, dass er zur Religion des Kleinbürgertums geworden sei und die Mullahs eine unheilige Ehe mit den Basarhändlern geschlossen hätten. Die einzige Möglichkeit, den Islam vor dem endgültigen „Verfall“ zu „retten“, bestand seiner Auffassung nach darin, ihn aus den „schmutzigen“ Fängen des Kleinbürgertums zu „befreien“.[21]
Nach Schariatis Auffassung bestand Marx aus drei verschiedenen Personen:
- dem ersten jungen Marx, der ein militanter atheistischer Philosoph gewesen war, der die Welt in groben ökonomischen Begriffen betrachtete und sich weigerte, in der Religion irgendwelche positiven Seiten zu finden,
- dem zweiten reifen Marx, der ein ein anspruchsvoller Soziologe gewesen war, der untersuchte, wie Herrscher die Beherrschten unterdrückten, wie die Gesetze des „historischen Determinismus“ funktionierten, und wie der Überbau eines Landes, insbesondere seine vorherrschende Ideologie und seine politischen Institutionen, mit seiner sozioökonomischen Infrastruktur interagierte, und
- dem dritten älteren Marx, der im Wesentlichen ein Politiker war, der die internationale kommunistische Bewegung anführte und dabei Kompromisse und Vorhersagen machte, die zwar vielleicht politisch opportun waren, seiner sozialwissenschaftlichen Methodik jedoch nicht gerecht wurden.
Von diesen drei Marxen lehnte Schariati den ersten und den dritten klar ab, den zweiten jedoch nicht.[26]
Während Schariati offen Kritik an Marx als Philosoph und Politiker übte, bediente er sich freimütig bei Marx als Sozialwissenschaftler.[27] Er hatte nur drei Vorbehalte gegenüber der marxistischen Sozialwissenschaft:
- Er argumentierte, dass Klassen eher politische als wirtschaftliche Einheiten seien; der Klassenkampf gehe daher eher um politische Macht als um die Produktionsmittel.
- Er argumentierte weiter, dass Marx die Rolle der Ideen unterschätzt habe, dass Ideologie die Wirtschaft verändern könne, und dass die Kontrolle über den politisch-ideologischen Überbau grundlegende Veränderungen in der sozioökonomischen Infrastruktur bewirken könne.
- Schließlich verkündete er, dass der wahre Schiismus eine revolutionäre Religion sei und daher nicht mit anderen Religionen dem von der herrschenden Klasse kontrollierten Überbau zugeordnet werden dürfe.[28]
Die Rückgewinnung des kulturellen Erbes
BearbeitenSchariati war der Auffassung, dass die Völker der Dritten Welt zunächst ihr kulturelles Erbe, einschließlich ihres religiösen Erbes, zurückgewinnen müssten, bevor sie den Imperialismus bekämpfen, die soziale Entfremdung überwinden und so weit reifen könnten, dass sie Technologie aus dem Westen übernehmen könnten, ohne ihre eigene Identität und ihr Selbstwertgefühl zu verlieren.[29] Er forderte deswegen die Länder der Dritten Welt auch immer wieder dazu auf, ihre kulturellen Wurzeln wiederzuentdecken und zu bewahren: ihre Religionen, Volksbräuche und sogar ihre traditionelle Kleidung.[30]
Kritik
BearbeitenAufgrund seiner heftigen Kritik an der schiitischen Geistlichkeit war Schariati bei den schiitischen Gelehrten ziemlich unbeliebt. Nach Angaben seiner Witwe führten sie eine Verleumdungskampagne gegen ihn durch, in der unterschiedliche Behauptungen aufstellten, wie zum Beispiel, dass er ein ein heimlicher Marxist sei, ein Wahhabit, ein Babi, ein Sunnit, ein Munāfiq, ein Eklektiker, ein blinder Nachahmer des Westens und ein Bewunderer „dieses Juden Gurvitch und dieses Christen Massignon“.[21]
Ayatollah Motahhari, der selbst eine wichtige Rolle als Vordenker der Islamischen Revolution gespielt hat, vertrat die Auffassung, dass Schariati den Islam für politische Zwecke „missbraucht“ habe, und warf ihm auch vor, dass er sich mehr von der Theorie des historischen Materialismus als vom Islam habe inspirieren lassen. Er soll Schariati als „verfluchte Person“ (malʿūn) bezeichnet haben. Motahhari versuchte auch, Ruhollah Chomeini zu überreden, sich gegen Schariati auszusprechen. Chomeini lehnte dies jedoch ab, wahrscheinlich weil er erkannte, wie beliebt Schariati bei der jüngeren Generation war.[31]
Literatur
Bearbeiten- Ervand Abrahamian: Radical Islam. The Iranian Mojahedin. I.B. Tauris, London 1989. S. 105–125.
- Ronen Cohen: The Mostadha'fin's confusing journey from Sharia'ti's revolutionary utopianism to Khomeini’s dystopian reality, 1976-1982. Peter Lang, New York u. a. 2019.
- Hamid Dabashi: Theology of Discontent. The Ideological Foundations of the Islamic Revolution in Iran. New York University Press, New York und Londen 1993. S. 102–146.
- Ahsanul Haq: Reinterpreting Islam in Iran: life and thoughts of ʿAli Shariʿati. Aligarh Muslim University, Aligarh 1995.
- Silvia Kaweh: Ali Schariati interkulturell gelesen. Bautz, Nordhausen 2005, ISBN 3-88309-199-5
- Abbas Milani: Eminent Persians. Syracuse University, New York 2008, ISBN 978-0-8156-0907-0, S. 359–366.
- Abdol Reza Navah: Der Gegensatz „islamisch-westlich“ im Menschenbild zeitgenössischer schiitischer Beiträge im Iran, unter besonderer Berücksichtigung von Motahhari und Schariati. Phil. Diss. Universität Kiel 1987
- Ali Rahnema: An Islamic Utopian. A Political Biography of Ali Shariʿati. London 1998. ISBN 1-86064-118-0
- Siavash Saffari: Beyond Shariati: Modernity, Cosmopolitanism, and Islam in Iranian Political Thought. Cambridge University Press, Cambridge 2017.
- Suzan Stutz: Islam und Moderne. Ein Abriss über die innermuslimische Diskussion im 20. Jahrhundert. KIT Scientific Publ., Karlsruhe 2013 (zugl. Diss. phil. KIT, Fakultät für Geistes- und Sozialwissenschaften 2012) ISBN 3-86644-995-X, S. 133–193. Link zum Digitalisat
Weblinks
Bearbeiten- Literatur von und über Ali Schariati im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
- Biographie von Schariati (englisch)
- „Haddsch“ von Ali Schariati
Einzelnachweise
Bearbeiten- ↑ a b Abrahamian: Radical Islam. The Iranian Mojahedin. 1989, S. 103.
- ↑ Abbas Milani: Eminent Persians. Syracuse University 2008, S. 360.
- ↑ Abrahamian: Radical Islam. The Iranian Mojahedin. 1989, S. 105.
- ↑ Abbas Milani: Eminent Persians. Syracuse University 2008, S. 361.
- ↑ a b c d Abrahamian: Radical Islam. The Iranian Mojahedin. 1989, S. 106.
- ↑ persisch نه شرقى نه غربى ـ جمهورى اسلامى
- ↑ a b Abrahamian: Radical Islam. The Iranian Mojahedin. 1989, S. 107.
- ↑ Zitiert in Abrahamian: Radical Islam. The Iranian Mojahedin. 1989, S. 107.
- ↑ a b c d Abrahamian: Radical Islam. The Iranian Mojahedin. 1989, S. 108.
- ↑ a b c Abbas Milani: Eminent Persians. Syracuse University 2008, S. 366.
- ↑ Rahnema: An Islamic Utopian. A Political Biography of Ali Shariʿati. 1998, S. 324.
- ↑ a b Abrahamian: Radical Islam. The Iranian Mojahedin. 1989, S. 109.
- ↑ a b c Abrahamian: Radical Islam. The Iranian Mojahedin. 1989, S. 110.
- ↑ Rahnema: An Islamic Utopian. A Political Biography of Ali Shariʿati. 1998, S. 368.
- ↑ Abrahamian: Radical Islam. The Iranian Mojahedin. 1989, S. 111.
- ↑ a b Abrahamian: Radical Islam. The Iranian Mojahedin. 1989, S. 112.
- ↑ Abrahamian: Radical Islam. The Iranian Mojahedin. 1989, S. 125.
- ↑ Abrahamian: Radical Islam. The Iranian Mojahedin. 1989, S. 112f.
- ↑ Abrahamian: Radical Islam. The Iranian Mojahedin. 1989, S. 120.
- ↑ Abrahamian: Radical Islam. The Iranian Mojahedin. 1989, S. 118.
- ↑ a b c Abrahamian: Radical Islam. The Iranian Mojahedin. 1989, S. 121.
- ↑ Abrahamian: Radical Islam. The Iranian Mojahedin. 1989, S. 119.
- ↑ Abrahamian: Radical Islam. The Iranian Mojahedin. 1989, S. 113.
- ↑ Abrahamian: Radical Islam. The Iranian Mojahedin. 1989, S. 113f.
- ↑ Abrahamian: Radical Islam. The Iranian Mojahedin. 1989, S. 114.
- ↑ Abrahamian: Radical Islam. The Iranian Mojahedin. 1989, S. 114f.
- ↑ Abrahamian: Radical Islam. The Iranian Mojahedin. 1989, S. 117.
- ↑ Abrahamian: Radical Islam. The Iranian Mojahedin. 1989, S. 118.
- ↑ Abrahamian: Radical Islam. The Iranian Mojahedin. 1989, S. 115.
- ↑ Abrahamian: Radical Islam. The Iranian Mojahedin. 1989, S. 125.
- ↑ Abrahamian: Radical Islam. The Iranian Mojahedin. 1989, S. 121f.
Personendaten | |
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NAME | Schariati, Ali |
ALTERNATIVNAMEN | Ali Shari'ati |
KURZBESCHREIBUNG | iranischer Soziologe und Intellektueller |
GEBURTSDATUM | 24. November 1933 |
GEBURTSORT | Maschhad, (Iran) |
STERBEDATUM | 19. Juni 1977 |
STERBEORT | England |