Anna Wieler

deutsche Pädagogin und Schulmitgründerin

Anna Wieler (geboren am 7. Juni 1889 in Konstanz, Großherzogtum Baden; deportiert am 1. Dezember 1941 nach Riga, Reichskommissariat Ostland, Todesdatum und -ort unbekannt) war eine deutsche Lehrerin und Schulleiterin.[1] Sie war Mitbegründerin des privaten Töchterpensionats Wieler in Konstanz.

Anna Wieler, um 1933

Anna Wieler war das jüngste von acht Kindern des Textil-Großhandelskaufmanns Adolf Wieler (geboren am 8. Dezember 1840; gestorben am 24. November 1907) und dessen Ehefrau Bertha (geboren am 22. Dezember 1854 in Kappel bei Buchau; gestorben am 7. April 1942 in Konstanz), geborene Mayer.[2]

Anna Wielers Geschwister waren Bella (geboren am 7. Juni 1875 in Konstanz; gestorben am 10. Dezember 1961 in New York City), Berthold (geboren am 7. Juni 1876 in Konstanz; gestorben am 15. März 1948 in Baden, Schweiz),[3][4] Irma (geboren am 6. April 1882 in Konstanz; Deportation am 26. April 1942 über Stuttgart ins Ghetto Izbica, Todeszeitpunkt und -ort unbekannt),[5][6][7][8][9] Ludwig (1879–1886), Martha (1877), Margarethe (1880–1882) und Therese (1886–1910). Die Familie ihres Vaters war 1873 von Randegg auf der Höri nach Konstanz umgesiedelt.[10][11][12]

Die Familie lebte in der ersten Etage eines Wohn- und Geschäftshauses in der Oberen Laube 20 (heute: Hausnummer 64), wo die Kinder auch aufwuchsen. In dem Gebäude betrieben der Vater und dessen Bruder Pius (ursprünglich: Pinchas) Wieler (geboren am 20. November 1839 in Randegg auf der Höri; gestorben am 3. Februar 1899 in Konstanz) unter der Firmierung Gebrüder Wieler einen Großhandel für Garne, Woll- und Kurzwaren.[13][14][15][12][16]

Studium in London – Schulleiterin in Konstanz

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Werbeanzeige in der Wochenzeitung Die Welt – Zentralorgan der zionistischen Bewegung (Wien), 15. und 29. Dezember 1911
 
Zeitgenössische Ansichtspostkarte des Töchterpensionats Wieler, um 1920

Anna Wieler studierte an der University of London, schloss dort mit einem Diplom ab und wurde in Deutschland als Höhere Mädchenschullehrerin staatlich geprüft. Im Jahr 1912 gründete sie gemeinsam mit ihrer Mutter Bertha auf dem Anwesen der Konstanzer Villa Seegarten (heute: Hebelhof) in der Hebelstraße 6 eine weiterführende Privatschule für Mädchen, die zunächst als Töchter-Erziehungsheim und Haushaltungsschule Wieler, später als Töchterpensionat Wieler firmierte und als Internat geführt wurde.[17][18] Während Anna Wieler die wissenschaftliche Leitung des Töchterpensionats übernahm, war ihre Schwester Irma ab 1916 in Nachfolge ihrer Mutter Bertha als Vorsteherin für dessen wirtschaftliche und hauswirtschaftliche Leitung verantwortlich.[16] Anna Wieler spendete u. a. während der Rosch ha-Schana-Aktion für den Fonds Keren Kayemeth LeIsrael, um den zionistischen Aufbau im Mandatsgebiet Palästina zu fördern.[19]

Die Privatschule bestand bis etwa zum Jahr 1933, dann entschlossen sich die Schwestern zusammen mit ihrer mittlerweile 79-jährigen Mutter, in denselben Gebäuden die Familienpension Wieler zu betreiben, aber weiterhin Haushaltung (Hauswirtschaft) zu lehren.[20] Damit war jedoch verbunden, dass die 44-jährige Anna Wieler ihren Beruf als Lehrerin für Deutsch zunächst verlor.

Durch die Weltwirtschaftskrise ab Ende 1929 und die Machtabtretung an die Nationalsozialisten ab Ende Januar 1933 wurden die Betriebsbedingungen zunehmend schwierig.[21] Im Herbst 1938 sahen sich die Geschwister genötigt, den Betrieb der Familienpension einzustellen und das Anwesen Villa Seegarten zu den Bedingungen der „Arisierung“ weit unter Wert zum Verkauf anzubieten.[22][23][24] Zusammen mit ihrer Mutter war beabsichtigt, mit dem Erlös ins Mandatsgebiet Palästina zu emigrieren. Allerdings verzögerten sich der Verkauf und dessen behördliche Abwicklung erheblich; Ausreisegenehmigungen wurden ihnen dadurch nicht (mehr) erteilt.[12]

Schulleiterin in Stuttgart

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Anna Wieler musste sich daher eine Beschäftigung suchen und fand in Stuttgart, wo sie ab April 1939 unter der Adresse Werfmershalde 12 und zuletzt in der Adalbert-Stifter-Straße 107 („Judenhaus“) gemeldet war,[25] eine Anstellung. In der Nachfolge des Schulleiters Emil Goldschmidt,[26][27][28] der emigriert war, fungierte sie ab etwa Oktober 1939 als Leiterin und Lehrerin der Jüdischen Schule in Stuttgart,[29][30] die ab 1934 im Hof bzw. Garten hinter dem Verwaltungsgebäude der Jüdischen Gemeinde in der Hospitalstraße 36 a, unweit der Alten Synagoge Stuttgarts, errichtet worden war.[31][12][32]

Deportation

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Etwa Mitte November 1941 informierte das „Judenreferat“ der Stapoleitstelle Stuttgart die örtliche Jüdische Gemeinde über einen als Umsiedlung getarnten Deportationstermin am 1. Dezember und forderte dafür die namentliche Benennung von 1000 arbeitsfähigen Juden unter 65 Jahren. Den Betroffenen blieben dann nur wenige Tage, um ihre gesamte bisherige Existenz aufzulösen, umfängliche schriftliche Vermögensauskünfte zu erteilen und sich von Angehörigen zu verabschieden. Ihr Gepäck mussten sie vorab entweder im Jüdischen Gemeindehaus in der Hospitalstraße deponieren oder auf dem Gelände der 1939 veranstalteten 3. Reichsgartenschau auf dem Killesberg, das gleichzeitig als Sammellager Betroffener aus den Landgemeinden diente. Vor der Abfahrt musste eine Fahrkarte der Deutschen Reichsbahn gekauft und die Konfiskation des individuell zumeist kaum noch vorhandenen Vermögens quittiert werden.[33]

In den frühen Morgenstunden des 1. Dezember 1941 wurde Anna Wieler vom Stuttgarter Nordbahnhof aus in einem viertägigen Sammeltransport nach Riga deportiert. Ursprungsziel war das Ghetto Riga, in dem am 30. November ein Massaker stattgefunden hatte. Dennoch war das Ghetto durch neu eingetroffene Züge mit Deportierten aus Hamburg, Nürnberg und Wien überfüllt. Daher mussten die aus Stuttgart Deportierten inklusive Anna Wieler ins Lager Jungfernhof, ein Außenlager des Ghettos. Dort starben durch die Bedingungen der Unterbringung in unbeheizten Scheunen und bei Zwangsarbeit eine Vielzahl der Menschen des Stuttgarter Transports. Wer diese Torturen überlebt hatte, fiel am 25. März 1942 einem Erschießungskommando zum Opfer.[34][35][1][36][33] Das Amtsgericht Stuttgart legte den Tag der Deportation als Anna Wielers Todeszeitpunkt fest.[12]

Stolpersteine für Anna Wieler in Stuttgart (links) und Konstanz

Gedenken

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Für Anna Wieler wurden im Jahr 2009 in der Stuttgarter Werfmershalde 12 und im Jahr 2015 in der Konstanzer Hebelstraße 6 Stolpersteine verlegt.[32][12] Der Stolperstein in Stuttgart weist mit 1890 leider ein falsches Geburtsjahr auf.[25] Dieser Fauxpas hat über viele Jahre eine Zusammenführung der Konstanzer mit den Stuttgarter Lebensstationen von Anna Wieler verhindert.

Veröffentlichungen

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Commons: Anna Wieler – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

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  1. a b Wieler, Anna. In: Gedenkbuch Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933–1945, auf: bundesarchiv.de.
  2. Erich Bloch: Geschichte der Juden von Konstanz im 19. und 20. Jahrhundert – Eine Dokumentation. Rosgarten, Konstanz 1971, ISBN 3-8768-5046-0, OCLC 1043973402, S. 265 (Wieler, Anna, Lehrerin, Hebelstraße 6).
  3. Wieler, Berthold 1876–1948. In: Stolpersteine Konstanz, auf: stolpersteine-konstanz.de
  4. Philipp Zieger: Sie waren gezeichnet vom Internierungslager. In: Südkurier, auf: suedkurier.de
  5. Erich Bloch: Geschichte der Juden von Konstanz im 19. und 20. Jahrhundert – Eine Dokumentation. Rosgarten, Konstanz 1971, ISBN 3-8768-5046-0, OCLC 1043973402, S. 86 (Wieler, Irma).
  6. Wieler, Irma. In: Gedenkbuch Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933–1945, auf: bundesarchiv.de
  7. Wieler, Irma. In: Yad Vashem, auf: yadvashem.org
  8. Nr. 77 – Irma Sara Wieler. In: Deportiertenliste Konstanz, Ostern 1942 abgeschoben nach dem Osten, auf: statistik-des-holocaust.de
  9. Irma Wieler (PDF-Datei; 15,5 MB; Print S. 12 bzw. PDF S. 17). Gemeinden Baden – Deportation: Listen der Geheimen Staatspolizei (Gestapo), 1941–1942. In: Center for Jewish History, auf: cjh.org
  10. Raffael Wieler-Bloch: Verstrickungen. Hrsg. Prof. Erhard Roy Wiehn. Hartung-Gorre, Konstanz 2008. ISBN 978-3-86628-226-1, S. 11–20.
  11. Zur Erinnerung an Margarete Schestowitz (Memento des Originals vom 29. Januar 2022 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.am-spiegelgasse.de (PDF-Datei; 2,7 MB). In: Aktives Museum Spiegelgasse, auf: am-spiegelgasse.de
  12. a b c d e f Birgit Lockheimer: Anna Wieler, 1889–1941 (?). In: Stolpersteine Konstanz, auf: stolpersteine-konstanz.de
  13. Pius Wieler in der Datenbank Find a Grave, abgerufen am 22. November 2023.
  14. Erhard Roy Wiehn (Hrsg.): Die Schweiz in der Edition Schoáh & Judaica. Hartung-Gorre, Konstanz 2022. ISBN 978-3-86628-747-1, S. 217.
  15. Raffael Wieler-Bloch: Verstrickungen. Hrsg. Erhard Roy Wiehn. Hartung-Gorre, Konstanz 2008. ISBN 978-3-86628-226-1, S. 38–41.
  16. a b Birgit Lockheimer: Irma Wieler, 1882–1942 (?). In: Stolpersteine Konstanz, auf: stolpersteine-konstanz.de
  17. Raffael Wieler-Bloch: Richard Liebermann – Der gehörlose Porträt- und Landschaftsmaler 1900–1966. Hrsg. Erhard Roy Wiehn. Hartung-Gorre, Konstanz 2010. ISBN 978-3-86628-300-8, OCLC 699662253, S. 251.
  18. Prospekt Töchter-Erziehungsheim und Haushaltungsschule Wieler, Heinrich Schatz Buchdruckerei, Konstanz um 1918. In: Bayerische Staatsbibliothek München, Signatur BVO21021402 (archivarisch seitens der Monacensia [lt. Stempel auf dem Deckblatt des Prospekts] bzw. der Bayerischen Staatsbibliothek auf 1913 geschätzt, enthält aber Fotos eines erst im Mai 1916 eingeweihten Schulgebäudes).
  19. Anna Wieler. In: Spender- bzw. Spendenverzeichnis der Juedischen Rundschau, XXXII. Jahrg. (1927), Nr. 79/80, 4. Oktober 1927, S. 572.
  20. Inserat Familienpension Wieler. In: Jüdische Rundschau (Berlin), 42. Jahrg. (1937), Nr. 68, 27. August 1937, Seite 15, Spalte 5.
  21. Thomas Engelsing: Das jüdische Konstanz – Blütezeit und Vernichtung. Südverlag, Konstanz 2015. ISBN 978-3-87800-072-3, S. 89f.
  22. Raffael Wieler-Bloch: Verstrickungen. Hrsg. Erhard Roy Wiehn. Hartung-Gorre, Konstanz 2008. ISBN 978-3-86628-226-1, S. 94–101.
  23. Personenakte Wieler, Berthold. In: Staatsarchiv Freiburg, Signatur F 196/1, Nr. 4098, Archivischer Identifikator 5-697644.
  24. Personenakte Hieber/Wieler, Irma. In: Staatsarchiv Freiburg, Signatur F 196/1, Nr. 4301, Archivischer Identifikator 5-697642.
  25. a b Wieler, Anna, Werfmershalde 12 I. In: Judenliste, Stand Mitte Oktober 1939; Wieler, Anna, Werfmershalde 12 II. In: Judenliste, Stand Ende Mai 1940; Wieler, Anna, Adalbert-Stifter-Straße 107 Eg. In: Judenliste, Stand Ende Dezember 1940. – Zitiert nach: Stadtarchiv Stuttgart, Alexander Morlock, schriftl. Auskunft vom 18. Februar 2022.
  26. Emil Goldschmidt aus Hamburg war nach seiner Emigration Professor für Germanistik an der Universidad de Chile in Santiago. – Zitiert nach: Maria Zelzer: Weg und Schicksal der Stuttgarter Juden – Ein Gedenkbuch (= Veröffentlichungen des Archivs der Stadt Stuttgart, Sonderband). Ernst Klett, Stuttgart 1964, OCLC 906114512, S. 522.
  27. Emil Goldschmidt: Lectura y comentario de textos politicos. In: Clío, Vol. 12, Núm. 15–16 (1945), Universidad de Chile, auf: uchile.cl
  28. Familien Max und Otto Hirsch, Rottstraße 13–14 (PDF-Datei; 3,5 MB, S. 21–23). In: Stolpersteine Steinfurt, auf: stolpersteine-steinfurt.de
  29. Maria Zelzer: Weg und Schicksal der Stuttgarter Juden – Ein Gedenkbuch (= Veröffentlichungen des Archivs der Stadt Stuttgart, Sonderband). Ernst Klett, Stuttgart 1964, OCLC 906114512, S. 176–177.
  30. Walter Marx / Manuel Werner: Cannstatt – Neuffen – New York. Das Schicksal einer jüdischen Familie in Württemberg. Mit den Lebenserinnerungen von Walter Marx. Sindlinger-Burchartz, Nürtingen / Frickenhausen 2005. ISBN 3-928812-38-6, S. 51.
  31. Gemeinde-Zeitung für die israelitischen Gemeinden Württembergs, XII. Jahrgang (1935), H. 2, 16. April 1935, S. 15f.
  32. a b Gerhard Hiller: Dr. Benno und Ida Jakob, Anna Wieler. In: Stolpersteine Stuttgart, auf: stolpersteine-stuttgart.de.
  33. a b Deportationen seit 1941 mit Gedenkstätte Nordbahnhof. In: Stadtarchiv Stuttgart – Stadtlexikon, auf: stadtlexikon-stuttgart.de
  34. Wieler, Anna. In: Yad Vashem, auf: yadvashem.org
  35. Am 1. Dezember 1941 begann der Holocaust für die Juden in Württemberg und Hohenzollern (PDF-Datei; 80,6 kB, S. 20, hier: fehlerhaftes Geburtsjahr 1890 für Anna Wieler angegeben). In: Gedenkstätten in Baden-Württemberg, auf: gedenkstaetten-bw.de
  36. Wieler, Anna. In: Arolsen Archives, Deportierten-Liste 1.2.1.1/11201207, 11201212, auf: arolsen-archives.org