Archiannelida
Die Einteilung der Lebewesen in Systematiken ist kontinuierlicher Gegenstand der Forschung. So existieren neben- und nacheinander verschiedene systematische Klassifikationen. Das hier behandelte Taxon ist durch neue Forschungen obsolet geworden oder ist aus anderen Gründen nicht Teil der in der deutschsprachigen Wikipedia dargestellten Systematik.
Archiannelida, bei Berthold Hatschek Archiannelides („Urringelwürmer“) und bei Ray Lankester Haplodrili („Einfache Regenwürmer“) ist der Name eines historischen, meist als Ordnung kategorisierten Taxons von Ringelwürmern in der Klasse der Vielborster, das überwiegend sehr kleine, ausschließlich im Sandlückensystem lebende Arten in Meeren weltweit umfasste, die sich meist von Bakterien an den Sandpartikeln ernähren. Nach jüngeren Forschungsergebnissen sind sie auf die beiden nicht näher miteinander verwandten Taxa Protodriliformia und Orbiniida aufzuteilen.
Merkmale
BearbeitenDie Archiannelida haben trotz geringer Größe eine große Anzahl an Segmenten und ein Prostomium, an dem ein Paar „Tentakel“ (Palpen) sitzt. Das Nervensystem besteht aus einem einfachen Gehirn und einem ventralen Nervenstrang, der eng mit der Epidermis verbunden ist und keine einzelnen Ganglien aufweist. Das wohl entwickelte Coelom ist durch Scheidewände in segmentweise Kammern unterteilt, in denen der Darmkanal an vollständigen längs verlaufenden Mesenterien aufgehängt ist. Die Nephridien sind einfach und zum Coelom offen. Das geschlossene Blutgefäßsystem ist einfach gebaut und besteht aus einem Rücken- und Bauchgefäß sowie diese verbindenden paarigen Seitengefäßen. Viele Arten, so in der Gattung Polygordius, besitzen keine Borsten, während diese etwa bei Saccocirrus vorhanden sind. Es wurden aber auch vereinfachte, frei schwimmende oder parasitische Formen mit nur wenigen Segmenten wie Dinophilus und Histriodrilus, denen etwa Coelomscheidewände und Blutgefäßsystem fehlen, hierzu gezählt.
Systematik
BearbeitenDer Begriff der Archiannelida beinhaltet, dass diese Ringelwürmer dem gemeinsamen Vorfahren aller Ringelwürmer, der hiernach ein Sandlückenbewohner gewesen sein müsste, ähnelten und entsprechend ursprüngliche Merkmale aufweisen. 1868 beschrieb Friedrich Anton Schneider eine neue Ringelwurm-Gattung aus der Sandlückenfauna, Polygordius, mit den Arten Polygordius lacteus und Polygordius purpureus. Berthold Hatschek bezeichnete 1878 diese Gattung, in der es „noch“ keine Borsten (Chaetae) gibt, als die „primitivste“ unter den Ringelwürmern, und auch Saccocirrus, wenn er auch Borsten hat, sei primitiv. 1891 beschrieb er innerhalb der Annelida die Unterklasse Archiannelides mit den Gattungen Protodrilus und Polygordius, denen er jeweils den Status einer Familie zuerkannte: Protodrilidae (im Meere, im Sande) und Poygordiidae (im Meere, Strandregion). Ausdrücklich schloss er weitere Familien aus, die von anderen Forschern hierher gestellt wurden, womit er unter Archiannelides im Wesentlichen eine Gruppe im Umfang des späteren Taxons Protodriliformia verstand. Das Konzept der Archiannelida als primitive Anneliden hielt sich bis mindestens 1969, als Hermans die Archiannelida als polyphyletische Gruppe bezeichnete, deren Vertreter sich konvergent im Interstitium des Sandes zu sehr ähnlichen Formeln entwickelt hätten, so dass Kristian Fauchald dieser Argumentation folgte und 1977 die Familien nicht mehr als Archiannelida zusammenfasste. Günter Purschke und Claude Jouin-Toulmond argumentierten 1988, dass zumindest ein Teil der Familien der Archiannelida eine monophyletische Gruppe bildet und stellten das Taxon Protodrilida, in das sie die Gattungen Parenterodrilus, Protodriloides, Protodrilus und Saccocirrus einbezogen, der Schwestergruppe der Spionida gegenüber, während Kristian Fauchald und Gregory Rouse 1997 eine solche Beziehung nicht erkennen konnten und die drei Familien Protodrilidae, Protodriloididae und Saccocirridae ebenso wie übrigen Familien der Archiannelida als familiae incertae sedis in die Ordnung Canalipalpata beziehungsweise die Unterklassen Palpata oder Scolecida stellten.
Neue Untersuchungen führten zu der Auffassung, dass die ehemaligen Archiannelida zu zwei monophyletischen Gruppen gehören, die aber beide miteinander nicht näher verwandt sind. Struck, Golombek und andere stellten 2015 auf Grund phylogenetischer Untersuchungen auf molekulargenetischer Grundlage zum einen das Taxon Protodriliformia auf, bestehend aus den Ordnungen Protodrilida und Polygordiida, als Schwestergruppe der aus den (Unter-)Ordnungen Eunicida und Phyllodocida bestehenden Aciculata, mit denen es die Gruppe der (neu umgrenzten) Errantia bildet, zum anderen das Taxon Orbiniida in neuem Umfang aus den Familien Orbiniidae, Parergodrilidae, Diurodrilidae, Dinophilidae und Nerillidae auf, das hiernach wiederum eine Schwestergruppe zu einer Klade darstellt, die aus den Clitellata, Terebellida, Arenicolidae, Opheliidae, Capitellidae, Echiura, Spionida, Sabellida, Cirratulidae und Siboglinidae besteht, und mit dieser eine als Sedentaria bezeichnete Gruppe bildet, die aber weitaus umfangreicher als das frühere Taxon Sedentaria ist. Aus dieser Arbeit geht hervor, dass die in Sandlückensystemen (Interstitia) lebenden Orbiniida – Parergodrilidae, Diurodrilidae, Dinophilidae und Nerillidae – durch Progenese Anpassung an diesen Lebensraum erreichten, während die nicht näher verwandte andere Annelidengruppe der Protodriliformia sich durch Verzwergung in immer feineren Sedimenten zu den heute bekannten winzigen Formen entwickelten. Das Taxon der Archiannelida wird heute nicht mehr als natürliche Verwandtschaftsgruppe angesehen.
Auf Grundlage der Arbeit von Struck, Golombek und anderen 2015 lässt sich folgendes Kladogramm zeichnen:
Annelida s. lato |
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Literatur
Bearbeiten- Anton Schneider (1868): Ueber Bau und Entwicklung von Polygordius. Archiv für Anatomie, Physiologie und wissenschaftliche Medicin, 1868, S. 51–60, Tafel II–III.
- Berthold Hatschek (1878): Studien über die Entwicklungsgeschichte der Anneliden. Ein Beitrag zur Morphologie der Bilaterien. Arbeiten aus dem Zoologischen Instituten der Universität Wien und der Zoologischen Station in Triest 1, S. 277–404.
- Berthold Hatschek (1881): Protodrilus leuckartii. Eine neue Gattung Archianneliden. Arbeiten aus den Zoologischen Instituten der Universität Wien und der Zoologischen Station in Triest 3 (1), S. 79–92.
- Berthold Hatschek: (1888–1891). Lehrbuch der Zoologie, eine morphologische Übersicht des Thierreiches zur Einführung in das Studium dieser Wissenschaft. Band 3. Gustav Fischer, Jena 1891. vol. 1 [1888], pp. i-iv, 1–144, vol. 2 [1889], pp. 145–304; vol. 3 [1891], pp. 305–432, hier 1. Unterclasse der Anneliden. Archiannelides. S. 411–415, hier S. 415.
- Colin O. Hermans (1969): The systematic position of the archiannelida. Systematic Zoology 18, S. 85–102.
- Kristian Fauchald (1977): The polychaete worms, definitions and keys to the orders, families and genera. Natural History Museum of Los Angeles County: Los Angeles, CA (USA), Science Series. 28, S. 1 – 188, hier Order Orbiniida, S. 14.
- Günter Purschke, Claude Jouin (1988): Anatomy and ultrastructure of the ventral pharyngeal organs of Saccocirrus (Saccocirridae) and Protodriloides (Protodriloidae fam. n.) with remarks on the phylogenetic relationships within Protodrilida (Annelida: Polychaeta). Journal of Zoology, London 215 (3), S. 405–432.
- Gregory W. Rouse, Kristian Fauchald (1998): Recent views on the status, delineation, and classification of the Annelida. (PDF; 959 kB). American Zoologist. 38 (6), S. 953–964. doi:10.1093/icb/38.6.953
- Torsten Hugo Struck, Anja Golombek, Anne Weigert, Franziska Anni Franke, Wilfried Westheide, Günter Purschke, Christoph Bleidorn, Kenneth Michael Halanych (2015): The Evolution of Annelids Reveals Two Adaptive Routes to the Interstitial Realm Current Biology. Current Biology 25 (15), S. 1993–1999. doi:10.1016/j.cub.2015.06.007
- Anne Weigert, Christoph Bleidorn (2016), Current status of annelid phylogeny. Organisms Diversity and Evolution 16 (2), S. 345–362. doi:10.1007/s13127-016-0265-7