Artemidor von Ephesos

griechischer Geograph

Artemidor von Ephesos (griechisch Ἀρτεμίδωρος Artemídōros, lateinisch Artemidorus; * in Ephesos) war ein griechischer Politiker und Geograph des späten Hellenismus, der um die Wende vom 2. zum 1. Jahrhundert v. Chr. wirkte. Er gilt noch vor dem in augusteischer Zeit schreibenden Isidoros von Charax als der bedeutendste Fachgeograph der Antike.[1]

Papyrus des Artemidor von Ephesos aus dem Museo Egizio in Turin (ca. 25 vor Chr. bis ca. 50 nach Chr., als mögliche moderne Fälschung in der Diskussion)

Artemidor entstammte der Oberschicht der kleinasiatischen Polis Ephesos; sein beruflicher Lebensweg führte ihn in die Politik. In der Eigenschaft eines Gesandten seiner Heimatstadt besuchte er unter anderem Rom. Das römische Reich wurde zu dieser Zeit im östlichen Mittelmeerraum immer einflussreicher, und so war nach 133 v. Chr. auch Ephesos zusammen mit dem Pergamenischen Reich durch das Testament des letzten Königs, Attalos III., an die Römer gefallen und gehörte fortan zur Provinz Asia. In Rom war es Artemidors Aufgabe, für die Stadtkasse von Ephesos den nahegelegenen Selenusischen See mit einem Nebensee zurückzugewinnen. Bereits unter den Attaliden von Pergamon waren der Stadt durch den Entzug dieser Gewässer große Geldsummen entgangen; im Zuge der römischen Machtübernahme fielen die Seen zwar an die Stadt zurück, doch mächtige römische Steuerpächter hatten das Gebiet anschließend gewaltsam unter ihre Kontrolle gebracht. Die Verhandlungen in Rom gestalteten sich erfolgreich, und Ephesos erhielt die Gewässer zurück. Während einer anderen Gesandtschaft konnte Artemidor in einem Prozess den Standpunkt von Ephesos gegenüber dem sich selbständig machenden Gebiet von Herakleia durchsetzen,[2] wofür er in seiner Heimatpolis gebührend geehrt wurde.[3]

In Form von ausgedehnten Reisen lernte Artemidor viele Anrainerländer des Mittelmeers kennen. Auf Grundlage dieses Periplus verfasste er möglicherweise um 100 v. Chr.[4] eine Darstellung Ioniens (Ionika hypomnemata) sowie sein Hauptwerk, die Geographoumena, eine Beschreibung der damals bekannten Welt in elf Büchern. Die Geographoumena beruhten nicht ausschließlich auf der Verarbeitung älterer Literatur und der Autorität kanonisierter Autoren, sondern zu einem beträchtlichen Teil auf Autopsie, lassen sich demnach methodologisch dem antiken Empirismus in der Tradition des Aristoteles zuordnen. Sie standen aber nicht in der Tradition der wissenschaftlichen Länderkunde des Eratosthenes (276/273 – um 194 v. Chr.), sondern orientierten sich an der von Polybios (um 200 – um 120 v. Chr.) begründeten pragmatischen Tradition, die dieser im zweiten Teil seines Hauptwerks Historíai darlegt.[1] Wissenschaft sollte danach kein Selbstzweck sein, sondern – möglichst ausgehend von eigenem Erleben und Augenschein des Verfassers – als Handlungsorientierung praktischen Zwecken dienen. Wahrscheinlich war auch das vollständig verlorene historische Werk des Artemidor in dieser Tradition verfasst.

Überlieferung

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Artemidors Schrifttum ist vor allem durch Zitate in den Werken anderer antiker Autoren bekannt. Ansonsten hätte die Forschung kaum Fassbares zu diesem Gelehrten besessen. Denn bis zur Entdeckung eines sekundär verwendeten Papyrus im ausgehenden 20. Jahrhundert, der heute im Museo Egizio von Turin liegt,[5] dessen Echtheit allerdings auch zwölf Jahre nach der Editio princeps (Erstedition) durch die beiden Papyrologen Claudio Gallazzi und Bärbel Kramer sowie den Archäologen Salvatore Settis noch immer Gegenstand intensiv geführter Diskussion ist, war keine Abschrift eines seiner Werke erhalten geblieben. So stützte sich die neuzeitliche Geschichtsschreibung bei der Analyse der Arbeiten Artemidors hauptsächlich auf den in augusteischer Zeit schreibenden Strabon (* um 63 v. Chr. – nach 23 n. Chr.), dessen geographisches Werk weitgehend erhalten blieb. In diesem finden sich unter allen Schriften, die den Bücherverlust in der Spätantike überdauerten, die meisten Zitate seines älteren Kollegen. Auch spätere Autoren hatten eine Vorliebe für Artemidor. Unter anderem bringen die geographischen Schriften des älteren Plinius (um 23 – 79 n. Chr.) 17 Auszüge in lateinischer Sprache. Dem spätantiken Epitomator Markian von Herakleia lagen Artemidors Schriften vor. Er nennt dessen Periplus noch nach 500 Jahren als den klarsten und genauesten des Mittelmeers.[1] In der Einleitung zu seinen Epitomen erwähnt Markian, dass Artemidor neben den geographischen Beschreibungen auch ausführliche ethnographische Exkurse einlegte. Da er diese Ausführungen als überflüssiges Beiwerk ansah, ließ sie Markian in seiner Zusammenfassung weg. Damit gingen auch diese Abschnitte der Geographoumena verloren.[3] Eine weitere wichtige Quelle sind die fragmentarisch erhalten gebliebenen Auszüge des durch Stephanos von Byzanz wohl im frühen 6. Jahrhundert n. Chr. verfassten Lexikons Ethnika.[6]

Beschreibung

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Artemidor begann seine Darstellungen bei den Landesgrenzen, den räumlichen Ausdehnungen und der topographischen Situation. Dazu nannte er die Namen der Flüsse, Seen und Berge. Besonderen Wert legte er auf eine sehr genaue Beschreibung der Küstenverläufe, mit den Häfen, Kaps, Meeresbusen, Halbinseln und Inseln, die er bei seinen Reisen persönlich in Augenschein nehmen konnte. Er lokalisierte die Städte und nannte die Distanzen zu anderen wichtigen Orten. Zu den Beschreibungen der Städte mit ihren bedeutenden Gebäuden gehörte auch ein Abriss aus der jeweiligen Ortsgeschichte, die manchmal auf einen mythischen Gründer zurückgeführt wurde. Neben ethnographischen Angaben hatte Artemidor seinem Werk auch klimatologische Informationen beigefügt.

Artemidors Quellen

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Zwar konnte Artemidor auf seinen Forschungsreisen viele Örtlichkeiten aus eigener Anschauung kennenlernen, doch musste auch er sich ergänzend auch auf andere Autoren stützen, die jene Bereiche abdeckten, zu denen er persönlich keinen näheren Zugang hatte. Daher finden sich bei ihm geographische Zitate von Eratosthenes, Aristagoras von Milet (zu Ägypten), Agatharchides von Knidos (über Asien und das Rote Meer) und von Pytheas von Massilia. Letzteren bezeichnen Artemidor wie später Strabon jedoch als unglaubwürdig. Von den Geschichtsschreibern werden offenbar die Autoren Ephoros von Kyme, Timaios von Tauromenion, Polybios, Ktesias von Knidos und Silenos von Kaleakte bevorzugt, während unter den Dichterzitaten häufig Homer zu lesen ist.[3] Seine besondere Wertschätzung durch spätere Autoren hat Artemidor aufgrund seiner quellenkritischen Aufarbeitung der verarbeiteten Zitate erfahren.[6]

Gliederung der Geographoumena

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Die Geographoumena lassen sich wie folgt rekonstruieren:[6]

Der Artemidor-Papyrus

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Beschreibung

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Nach Ansicht der Herausgeber, die den bereits erwähnten Papyrus für echt hielten, tragen die Fragmente deutliche Spuren aus drei verschiedenen Nutzungsphasen, die wahrscheinlich auf verschiedene Bearbeiter zurückgingen. Möglicherweise hätten diese drei Nutzungsperioden zeitlich nicht weit auseinandergelegen, da der Papyrus mit anderen Rollen spätestens um 100 n. Chr. als Makulatur von Alexandria aus nilaufwärts in ein Bestattungsinstitut verschifft worden sei. Dort seien die nicht mehr benötigten Schriftstücke zu Mumienkartonage für die Herstellung von Mumiensärgen verarbeitet worden. Die Datierung eines Teils der auf das Verso gezeichneten Tiere aus der letzten Nutzungsphase lasse einen terminus post quem für 20 v. Chr. möglich erscheinen. Die Buchstabenformen auf dem Recto entsprachen nach einer Analyse durch den Papyrologen Fabian Reiter von der Papyrussammlung im Neuen Museum Berlin einem Vergleichsstück aus der Kanzlei der Königin Kleopatra VII. (69–30 v. Chr.), das sich in das Jahr 33 v. Chr. datieren lässt.[7]

Während der ersten Nutzungsphase sei ein Schreiber in Alexandrien damit beschäftigt gewesen, auf dem Recto der Papyrusrolle das zweite Buch der Geographoumena von einer Vorlage zu kopieren. Zeitgleich sei von Hand eines anderen Schreibers eine Landkarte entstanden, die das Werk illustrieren sollte. Beide Arbeiten seien aus einem unbekannten Grund abgebrochen worden. Zu einem etwas späteren Zeitpunkt habe ein Zeichner oder eine Zeichenwerkstatt die unbenutzte Rückseite für Studien benutzt.

Insgesamt konnten 41 Zeichnungen festgestellt werden, die reale und mythische Tiere darstellen. Einige wurden durch eine knappe Beischrift benannt. Die Darstellungen stammen aus der Hand einer einzigen Person. Ebenfalls nur wenig später seien gleichfalls auf dem Recto Nachzeichnungen oder Zeichenstudien von Köpfen, Händen und Füßen zu Werken der Bildhauerei entstanden.[8]

Sollte es sich als Ergebnis der wissenschaftlichen Diskussion am Ende herausstellen, dass es sich, wie einige der Beteiligten annehmen, bei dem Papyrus um eine Fälschung aus dem 19. Jahrhundert handelt, wären all diese Rekonstruktionen hinfällig.

Geschichte des Papyrus

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Das ursprüngliche Konvolut wurde erstmals Anfang des 20. Jahrhunderts in einem ägyptischen Museum entdeckt. Eine genaue Herkunftsangabe ließ sich nicht mehr feststellen.[9] Das zu einem Papyrusklumpen verklebte Bündel gelangte in die umfangreiche Privatsammlung des Sayed Bey Khashaba aus Assiut und wurde in der Folge nach Europa verkauft. 1971 erwarb sie der in Hamburg lebende Antiquitätenhändler Serop Simonian. Simonian veranlasste 1980, das Konvolut in Stuttgart öffnen zu lassen und die freigelegten Papyri zu restaurieren. Es zeigte sich, dass die Rolle des Artemidor-Papyrus 32,5 Zentimeter hoch und noch 2,50 Meter lang war, wobei in der Mitte des Fragments eine Lücke auftrat.[8] Vor der Öffnung des Konvoluts entstand das einzige bekannte Foto, das den damaligen, ursprünglichen Zustand zeigte. 1998 identifizierten die späteren Bearbeiter der Monographie den Text. Neben den Resten eines Artemidor-Textes enthielt das Bündel Dokumente, die aus den Regierungszeiten der römischen Kaiser Vespasian (69–79 n. Chr.) und Domitian (81–96 n. Chr.) stammten. Der Artemidor-Papyrus selbst bestand aus einem geographischen griechischen Text mit einer in diesen Text eingeschobenen, unvollendeten Landkartenskizze sowie Tier- und Menschenzeichnungen. Für 2,75 Millionen Euro wurden die Fragmente 2004 von der italienischen „Fondazione per l’Arte della Compagnia di San Paolo“ in Turin erworben.[10] Die Kartenskizze galt als die bisher einzige bekannte authentisch überlieferte Kartendarstellung der Antike und stellte offenbar einen Teil der iberischen Halbinsel dar. Text und Karte wurden von den Herausgebern als Fragment der Einleitung zum zweiten Buch der Geographoumena, die Spanien beinhaltet, identifiziert.[7] 1998 legten die Papyrologen Claudio Gallazzi (Universität Mailand) und Bärbel Kramer (Universität Trier) eine erste, provisorische Publikation vor.[11]

Die Debatte um Echtheitsfragen

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Im Frühjahr 2006 fand in Turin eine erste Ausstellung des Fundes statt,[12] doch ließ eine erstmals vollständige Veröffentlichung noch bis 2008 auf sich warten. Hier wurden unter anderem auch die naturwissenschaftlichen Datierungsmethoden und chemischen Analysen der Tinten dargelegt.[9] Für diese Veröffentlichung zeichneten der Archäologe und Kunsthistoriker Salvatore Settis sowie der Klassische Philologe Claudio Gallazzi und die Papyrologin Bärbel Kramer verantwortlich. Kurz darauf erlangte der Papyrus eine sonst nicht übliche internationale Bekanntheit, da der Klassische Philologe Luciano Canfora in ihm ein Produkt des notorischen griechischen Fälschers Konstantinos Simonides (ca. 1820–1890) erblickte. Canfora hatte den Papyrus allerdings nicht selbst in Augenschein genommen, sondern argumentierte lediglich anhand des Textes, der seines Erachtens Auffälligkeiten aufwies, die dagegen sprächen, dass er tatsächlich in der Antike verfasst worden sein könne. Seine Hypothese stieß zunächst ebenso auf Zustimmung wie auf Ablehnung. Zu unterscheiden von der Fälschungsthese sind die Zweifel an der Autorschaft Artemidors. Die Position, dass der Papyrus des Artemidor keineswegs als Stück des echten artemidoreischen Werkes gelten könne, wurde seit 2008 von mehreren Gelehrten vertreten, darunter ausgewiesene Papyrologen wie Dominic Rathbone und Peter van Minnen, die zumindest erhebliche Zweifel hinsichtlich der Frage der Autorschaft äußerten, aber nicht den antiken Ursprung des Papyrus infrage stellten.

Zweifel an der Zuschreibung an Artemidor

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Zweifel an der Zuschreibung – wenigstens von Teilen – der Texte an Artemidor äußerten beispielsweise:

  1. Germaine Aujac: «Que ce papyrus ne soit pas un authentique fragment de la Géographie d’Artémidore ne semble pas pouvoir être véritablement contesté.»[13]
  2. Peter Van Minnen: «Is the weird text of cols. 1–3 really Artemidorus’? I have my doubts.»[14]
  3. Didier Marcotte: «...; si les col. IV-V, à leur tour, ne peuvent être qu’un résumé du livre II d’Artémidore, on est moins fondé à vouloir prêter à cet auteur le contenu des col. I-III...»[15]
  4. Dominic Rathbone: «There is now wide agreement that the content of coll. I-II (apparently continued by col. III), a disquisition on the importance and difficulty of geographical studies, is so bizarre that it cannot be Artemidorus.»[16]
  5. Zweifel hinsichtlich der Autorschaft Artemidors machen sich auch an der angeblich unklaren und anachronistischen Karte fest.[17]

Zweifel an der Echtheit des Papyrus

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Im Rahmen einer Schriftanalyse hat Nigel Wilson den Papyrus 2009 als „fake“ (gefälscht) bezeichnet.[18] In demselben Jahre hat Richard Janko Argumente für Simonidis als Verfasser gesammelt.[19] Er gelangte zu dem Schluss, dass die drei vermeintlich von verschiedenen Autoren verfassten Abschnitte des Werkes in Wahrheit von ein und demselben Schreiber stammten. Ziel von Simonides sei es gewesen, durch die Fälschung die Überlegenheit antiken griechischen Wissens über neuzeitliche westeuropäische Gelehrte zu erweisen. Janko argumentierte, der Text des Papyrus entspreche im Wesentlichen der Einleitung zu Carl Ritters Erdkunde von 1818 und sei kompetent, aber eben doch unvollkommen vom Deutschen ins Altgriechische übertragen worden.

Auch James Keith Elliott hält eine Fälschung für möglich: «Forgery it may well be».[20]

Zur angeblichen Manipulation des Fotos des sogenannten «Konvoluts» vgl. Fotografia e falsificazione. Scuola Superiore di Studi Storici, Aiep editore, San Marino 2011; und auch Alberto Cottignoli: Il Papiro di Artemidoro: un clamoroso falso.

Bestätigung als Fälschung durch Gerichtsbeschluss (Dezember 2018)

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Am 10. Dezember 2018 wurde in der italienischen Tagespresse ein Gerichtsurteil publik gemacht, das zu dem Ergebnis gelangte, dass es sich bei dem Papyrus in der Tat um eine Fälschung handle, was aber für die weiterhin anhaltende wissenschaftliche Diskussion ohne jeden Belang ist.[21]

Pro Echtheit

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Die Vielzahl der im Zuge der Veröffentlichung erkannten Einzelheiten zeigten nach Ansicht der Vertreter einer Echtheit des Papyrus, dass hier ein Wissen vorausgesetzt werden müsse, das einem Fälscher bis 2008 unmöglich zur Verfügung stehen konnte.[22] Zur vollständigen Veröffentlichung fand 2008 eine Ausstellung des Ägyptischen Museums und der Papyrussammlung im Alten Museum in Berlin statt, die unter dem Titel „Anatomie der Welt – Wissenschaft und Kunst auf dem Artemidor-Papyrus“ stand.[23] Anschließend war der Papyrus im Staatlichen Museum Ägyptischer Kunst in München zu sehen.

Man argumentierte, an der Zeitstellung des Papyrus selbst lasse sich unter anderem anhand der Radiokarbondatierung nicht mehr rütteln. Auch stelle sich die Frage, wozu der von Canfora angeführte Fälscher des 19. Jahrhunderts echte römische Dokumente, die Kaisertitulatur aufweisen, mit seinem Falsifikat zu einem Gemenge hätte verkleben sollen. Da eine solche Fälschung wenig Sinn zu ergeben schien, richteten nun einige Anhänger Canforas ihre Argumente auf das bisher weniger beachtete ursprüngliche Konvolut. So trat im April 2009 auf einem von Canfora mitorganisierten Kolloquium der italienische Polizeibeamte Silio Bozzi auf und behauptete, das Foto des Konvoluts sei eine digitale Fälschung und der dort ansatzweise sichtbare Artemidor-Text sei digital hineinprojiziert worden.[24] Diesem Vorwurf trat Hans D. Baumann, ein Experte für digitale Bildbearbeitung, während einer Präsentation 2010 an der Universität zu Köln entgegen. Zu diesem Vortrag hielt der Klassische Philologe und Papyrologe Jürgen Hammerstaedt die einleitende Rede.[25] Auch er nahm an, er habe bei seiner Überprüfung des Papyrus alle Behauptungen Canforas entkräften können.

2009 veröffentlichte Giambattista D’Alessio, ein am King’s College London tätiger Gräzist, einen Aufsatz. Auch er hielt Canforas Fälschungsvorwurf für unhaltbar, da Simonides niemals das entsprechende Wissen besessen haben könne, das erst seit der Öffnung des Konvoluts erarbeitet worden sei. Neben der seines Erachtens wissenschaftlich nachweisbaren Authentizität des Papyrus reichten die nachgewiesenen Simonides-Fälschungen im Unterschied zu diesem im Licht der modernen Forschung auch nicht an die Originale heran. Die Kritik D’Alessios richtete sich hauptsächlich auf die innere textliche Rekonstruktion, die 2008 vorgelegt worden war.[26] So sieht er in den erhaltenen Texten auf der Rolle Auszüge aus verschiedenen Werken unterschiedlicher Autoren, wobei nur der Beginn von Artemidor stammen soll. Eine klare Antwort, welche Intention der ursprüngliche Redaktor dieses Papyrus verfolgt habe, konnte er jedoch nicht geben.[27] Wenn auch manche Einzelfragen hinsichtlich der Verfasserschaft und der Text-Bild-Relation noch keine allseits befriedigende Beantwortung gefunden haben, so sind sich die papyrologischen Fachleute jedenfalls darin einig, dass der Papyrus als materiales Artefakt einschließlich seiner Beschriftung und Bildausstattung keinesfalls eine Fälschung sein kann, sondern es sich um eine aus der Antike stammende Originalhandschrift handelt, die in Zweitverwendung mit Studien menschlicher Köpfe und Gliedmaßen auf dem Recto und Tierzeichnungen auf dem Verso mit jeweils möglichem, jedoch nicht eindeutig zu bestimmendem Textbezug versehen wurde. Eine auf dem Recto befindliche Landkarte geht nach der Rekonstruktion von Gian Battista D’Alessio den Texten auf dem Recto voraus, steht jedoch in keinem Bezug zu einem von ihnen.[28]

Einzelnachweise

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  1. a b c Klaus Günther Sallmann: Die Geographie des älteren Plinius in ihrem Verhältnis zu Varro (= Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte. Band 11). Verlag Walter de Gruyter, Berlin/New York 1971, S. 60.
  2. Stefan Radt (Hrsg.): Strabons Geographika. Band 4, Buch XIV–XVII: Text und Übersetzung. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2005, ISBN 3-525-25953-0, S. 27.
  3. a b c Johannes Engels: Augusteische Oikumenegeographie und Universalhistorie im Werk Strabons von Amaseia (= Geographica Historica. Band 12). Franz Steiner Verlag, Stuttgart 1999, ISBN 3-515-07459-7, S. 221.
  4. Gerhard DobeschHelvetiereinöde. In: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde (RGA). 2. Auflage. Band 14, Walter de Gruyter, Berlin/New York 1999, ISBN 3-11-016423-X, S. 359.
  5. Vgl. Eintrag in der Datenbank Trismegistos.
  6. a b c Johannes Engels: Augusteische Oikumenegeographie und Universalhistorie im Werk Strabons von Amaseia (= Geographica Historica. Band 12). Franz Steiner Verlag, Stuttgart 1999, ISBN 3-515-07459-7, S. 222.
  7. a b Ragnar K. Kinzelbach: Der Artemidor-Papyrus. Tierbilder aus dem ersten Jahrhundert. Ein zoologischer Kommentar zum Artemidor-Papyrus (= Archiv für Papyrusforschung und verwandte Gebiete. Beiheft 28). Verlag Walter de Gruyter, Berlin/New York 2009, ISBN 978-3-11-022580-8, S. 3.
  8. a b Ragnar K. Kinzelbach: Der Artemidor-Papyrus. Tierbilder aus dem ersten Jahrhundert. Ein zoologischer Kommentar zum Artemidor-Papyrus. (= Archiv für Papyrusforschung und verwandte Gebiete. Beiheft 28). Verlag Walter de Gruyter, Berlin/New York 2009, ISBN 978-3-11-022580-8, S. 4.
  9. a b Alfred Stückelberger: Buchbesprechung: Il Papiro di Artemidoro, Mailand 2008. In: Anzeiger für die Altertumswissenschaft. Band 61/2008, Heft 3–4. S, S. 149–152; hier S. 150.
  10. Michael Rathmann: Der Artemidorpapyrus (P.Artemid.) im Spiegel der Forschung. In: Klio. Beiträge zur Alten Geschichte. Bd. 93/2, S. 350–368; hier S. 350.
  11. Claudio Gallazzi, Bärbel Kramer: Artemidor im Zeichensaal. Eine Papyrusrolle mit Text, Landkarte und Skizzenbüchern aus späthellenistischer Zeit. In: Archiv für Papyrusforschung und verwandte Gebiete. Band 44 (1998), S. 189–208.
  12. Harald Froschauer: Zeichnungen und Malereien aus den Papyrussammlungen in Berlin und Wien. Verlag Walter De Gruyter, Berlin, New York 2008, ISBN 978-3-11-020739-2, S. 1; Claudio Gallazzi (Hrsg.): Le tre vite del papiro di Artemidoro. Voci e sguardi dall’Egitto greco-romano. Torino, Palazzo Bricherasio, 7 febbraio – 7 maggio 2006. Electa, Mailand 2006, ISBN 88-370-4130-6.
  13. Germaine Aujac: Polémique autour d’un papyrus. In: Anabases. Band 8, 2008, S. 225–229, hier S. 229 (online).
  14. Peter van Minnen: Rezension zu Il papiro di Artemidoro (P.Artemid.) by Claudio Gallazzi, Bärbel Kramer, Salvatore Settis, Gianfranco Adornato, Albio Cesare Cassio, Agostino Soldati. In: The Bulletin of the American Society of Papyrologists. Band 46, 2009, S. 165–174, hier S. 171.
  15. Didier Marcotte: Le Papyrus d’Artémidore : le livre, le texte, le débat. In: Revue d’Histoire des Textes. N. F., Band 5, 2010, S. 333–371, hier S. 360 (doi:10.1484/J.RHT.5.101261).
  16. Dominic Rathbone: The Artemidorus Papyrus. In: The Classical Review. Neue Serien, Band 62, Nr. 2, 2012, S. 442–448, hier S. 444.
  17. Vgl. Vladimiro Valerio, Sulla rappresentazione cartografica del così detto papiro di Artemidoro. In: Revue d’Histoire des Textes. N.F., Band 7, 2012, S. 371–384.
  18. Nigel Wilson: P. Artemid.: A Palaeographer’s Observations. In: Kai Brodersen, Jas Elsner (Hrsg.): Images and Texts on the Artemidorus Papyrus: Working Papers on P. Artemid. (St John’s College Oxford, 2008) (= Historia – Einzelschriften. Band 214). Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2009, S. 23–26.
  19. Richard Janko: Review: The Artemidorus Papyrus. In: Classical Review. Band 59, 2009, S. 403–410.
  20. James Keith Elliott: Book Notes In: Novum Testamentum: Band 51, 2009, S. 199–204, hier S. 201.
  21. Nachrichtenmeldung
  22. Ragnar K. Kinzelbach: Der Artemidor-Papyrus. Tierbilder aus dem ersten Jahrhundert. Ein zoologischer Kommentar zum Artemidor-Papyrus (= Archiv für Papyrusforschung und verwandte Gebiete. Beiheft 28). Verlag Walter de Gruyter, Berlin/New York 2009, ISBN 978-3-11-022580-8, S. 1.
  23. Anatomie der Welt – Wissenschaft und Kunst auf dem Artemidor-Papyrus (Memento vom 15. Dezember 2012 im Webarchiv archive.today)
  24. Artemidor-Papyrus. Gefälscht? Warum eigentlich? In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung. 27. September 2010, abgerufen am 23. August 2012. Darüber: Fotografia e falsificazione. Aiep editore, San Marino 2011.
  25. Universität zu Köln: Experte widerlegt Fälschungsvorwurf. (Memento vom 12. September 2014 im Internet Archive) abgerufen am 22. August 2012.
  26. Giambattista d’Alessio: On the „Artemidor“-Papyrus. In: Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik. Band 171, 2009, S. 27–43; hier S. 30.
  27. Giambattista d’Alessio: On the „Artemidor“-Papyrus. In: Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik. Band 171, 2009, S. 27–43; hier S. 41.
  28. Vgl. Giambattista d’Alessio: On the „Artemidor“-Papyrus. In: Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik. Band 171, 2009, S. 27–43, hier S. 41–42.

Literatur

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  • Ernst Hugo Berger: Artemidoros 27. In: Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft (RE). Band II,1, Stuttgart 1895, Sp. 1329 f.
  • Kai Brodersen, Jas Elsner (Hrsg.): Images and Texts on the Artemidorus Papyrus: Working Papers on P. Artemid. (St John’s College Oxford, 2008). (= Historia Einzelschriften. Band 214). Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2009, ISBN 978-3-515-09426-9.
  • Kai Brodersen: Die Tabula Peutingeriana: Gehalt und Gestalt einer „alten Karte“ und ihrer antiken Vorlage. In: Dagmar Unverhau (Hrsg.): Geschichtsdeutung auf alten Karten. Archäologie und Geschichte. (= Wolfenbütteler Forschungen. 101). Wiesbaden 2003, S. 289–297.
  • Luciano Canfora: Costantino Simonidis – Opere greche I: Eulyros di Cefalonia. Ethnika Anthropina. Liste di manoscritti greci (1848–1864). Bari, Edizioni di Pagina, 2012, ISBN 978-88-7470-217-6.
  • Luciano Canfora: Pseudo-Artemidoro. Epitome: Spagna; Il geografo come filosofo. Roma-Padova, Antenore, 2012, ISBN 978-88-8455-666-0.
  • Luciano Canfora: Simonidis conosceva direttamente, ricopiava e metteva a frutto le epigrafi di Priene (a proposito del sampi in P.Artemid. col. V). In: Quaderni di storia. 73 (2011), S. 199–216.
  • Luciano Canfora: La meravigliosa storia del falso Artemidoro. Palermo, Sellerio, 2011, ISBN 978-88-389-2561-0.
  • Luciano Canfora: Il viaggio di Artemidoro. Vita e avventure di un grande esploratore dell’antichità. Milano, Rizzoli, 2010.
  • Luciano Canfora (Hrsg.): Artemidorus Ephesius. P. Artemid. sive Artemidorus personatus. Editore di Pagina, Bari 2009, ISBN 978-88-7470-089-9.
  • Luciano Canfora (Hrsg.): Il papiro di Artemidoro. Convegno Internazionale di Studio Rovereto, 29–30 aprile 2009. (Atti della Accademia Roveretana degli Agiati, Reihe 8, Bd. 9, A, Heft 2.2.). Accademia Roveretana degli Agiati, Rovereto 2009.
  • Luciano Canfora, Luciano Bossina (Hrsg.): Wie kann das ein Artemidor-Papyrus sein? Editore di Pagina, Bari 2008.
  • Luciano Canfora: Il papiro di Artemidoro. Laterza, Bari 2008, ISBN 978-88-420-8521-8.
  • Luciano Canfora: The true history of the so-called Artemidorus Papyrus. Editore di Pagina, Bari 2007, ISBN 978-88-7470-044-8.
  • Federico Condello: Artemidoro 2006–2011: l’ultima vita, in breve. In: Quaderni di storia. 74 (2011), S. 161–256. [1]
  • Giambattista D’Alessio: On the “Artemidorus” Papyrus. In: Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik. 171 (2009), S. 27–43.
  • Michael Donderer: Und es gab sie doch! Ein neuer Papyrus und das Zeugnis der Mosaiken belegen die Verwendung antiker „Musterbücher“. In: Antike Welt. 36, 2 (2005), S. 59–68.
  • Claudio Gallazzi, Bärbel Kramer, Salvatore Settis (Hrsg.): Intorno al Papiro di Artemidoro II: Geografia e Cartografia. Atti del Convegno internazionale del 27 novembre 2009 presso la Società Geografica Italiana. Villa Celimontana, Roma. Colloquium. Milano 2012. – Rezension von: Irene Pajón Leyra, in: Bryn Mawr Classical Review 2013.09.15
  • Claudio Gallazzi, Bärbel Kramer, Salvatore Settis (Hrsg.): Il Papiro di Artemidoro. With the collaboration of G. Adornato, A. C. Cassio, A. Soldati. 2 Bände mit DVD. Edizioni Universitarie di Lettere Economia Diritto. Milano 2008, ISBN 978-88-7916-380-4.
  • Claudio Gallazzi, Bärbel Kramer: Iberia, Hispania und das neue Artemidor-Fragment. In: Andreas Haltenhoff, Fritz-Heiner Mutschler (Hrsg.): Hortus litterarum antiquarum. Festschrift für Hans Armin Gärtner zum 70. Geburtstag. Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2000, S. 309–322.
  • Claudio Gallazzi, Bärbel Kramer: Artemidor im Zeichensaal. Eine Papyrusrolle mit Text, Landkarte und Skizzenbüchern aus späthellenistischer Zeit. In: Archiv für Papyrusforschung. 44 (1998), S. 189–208.
  • Ragnar K. Kinzelbach: Der Artemidor-Papyrus: Tierbilder aus dem ersten Jahrhundert. In: Zoologie. Mitteilungen der Deutschen Zoologischen Gesellschaft. 2011, S. 13–26.
  • Ragnar K. Kinzelbach: Der Artemidor-Papyrus. Tierbilder aus dem ersten Jahrhundert. Ein zoologischer Kommentar zum Artemidor-Papyrus. In: Archiv für Papyrusforschung und verwandte Gebiete. Beiheft 28. Verlag Walter de Gruyter, Berlin/New York 2009, ISBN 978-3-11-022580-8.
  • Robert C. Knapp: The new Artemidorus fragment and the cartography of ancient Iberia. In: José Maria Candau Morón u. a. (Hrsg.): Historia y mito. El pasado legendario como fuente de autoridad. Actas del Simposio Internacional celebrado en Servolla, Valverde del Camino y Huelva entre el 22 y el 25 de abril de 2003. Málaga 2004, S. 277–296 (Digitalisat).
  • Bärbel Kramer: El nuevo papiro de Artemidoro. In: Javier de Hoz, Eugenio R. Luján, Patrick Sims-Williams: New approaches to Celtic place-names in Ptolemy’s Geography. Ediciones Clásicas, Madrid 2005, S. 19–31.
  • Bärbel Kramer: The earliest known map of Spain (?) and the geography of Artemidorus of Ephesus on papyrus. In: Imago Mundi. 53 (2001), S. 115–120 (Zusammenfassung des Artikels von 1998).
  • Stephan Lehmann: Skizzen aus einer ägyptischen Malerwerkstatt: Tiere, Fabelwesen und Menschen im Artemidor-Papyrus. In: Hypotheseis. Festschrift für Wolfgang Luppe zum 80. Geburtstag = Archiv für Papyrusforschung. 57 (2011), S. 267–273 (Digitalisat).
  • Dominic Rathbone, Rezension von Brodersen, Elsner 2009; Canfora, Il papiro 2009, Canfora, Artemodoro 2009. In: The Classical Review 62,2 (2012), S. 442–448.
  • Fabian Reiter (unter Mitarbeit von Harald Froschauer, Annemarie Stauffer, Olivia Zorn): Anatomie der Welt. Wissenschaft und Kunst auf dem Artemidor-Papyrus. Begleitheft zur Ausstellung (Ägyptisches Museum und Papyrussammlung, Staatliche Museen zu Berlin, 13. März – 30. Juni 2008, Staatliches Museum Ägyptischer Kunst München, 18. Juli – 28. September 2008), Berlin 2008, ISBN 978-3-88609-618-3.
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