Adselt
Theoretische Erörterung LITERATURMUSIKVIDEO, als Projekt liegt vor:
EPITAPH, DVD mit einem deutsch-englischen Textbuch, Aachen 2008
L I T E R A T U M U S I K V I D E O
Die Anzahl der literarischen Publikationen steigt, dennoch wird vor allem von den Jüngeren, der Generation, die mit dem Computer groß geworden ist, immer weniger gelesen. Man kann das beklagen, doch das ändert nichts daran, dass die digitale Revolution nicht nur ganz allgemein neue Kommunikationsstrukturen herstellt, sie bedingt auch grundlegende Veränderungen der Situation der Literatur im 21. Jahrhundert. Zum einen bietet die digitale Präsentation neue Möglichkeiten, elektronisch gespeicherte, akustische und musikalisch Elemente einem auf Datenträger eingesprochenen Text hinzuzufügen - das Hörbuch hat inzwischen bereits Karriere gemacht - und dies durch Bildelemente wie z.B Videos zu ergänzen. Die gesprochenen Texte assoziieren sich so mit Musik, Bildern und Filmen und finden ihren Platz in einem Gesamtkunstwerk, dem der Tondesigner dann noch eine wesentliche, ästhetische Dimension hinzufügen kann, indem er elektronisch virtuelle, akustische Räume kreiert. Zum anderen erhalten Texte, die für eine solche Präsentation konzipiert wurden, eine Struktur, die mit der vorwiegend erzählenden Ästhetik der Literatur der Gutenberg Ära wenig mehr zu tun hat, denn die im digitalen Zusammenhang konzipierten Texte können auf Handlungsverläufe und Beschreibungen verzichten, sie verlassen das Terrain des üblichen, fiktiven Erzählens: hier geht es darum, knapp und genau die Worte zu finden, die geeigent sind, Vorgaben zu machen und Assoziationen zu ermöglichen, die sich dann durch Bilder und Musik im Gesamtkontext einer Multimediaoper realisieren lassen. Allerdings: während für die klassische Oper Sprache etwas ist, was hinzukommt, ein Sinnträger, der sich dem Musiktheater wesentlich unterordnet, mischt der Text im digitalen Literaturmusikvideos nicht nur mit. Es geht vor allem um ihn, darum, dem literarischen Werk neue und erweiterte Dimensionen zu eröffnen. Nun ist die Verbindung von Text, Musik und Bild nicht neu, im Gegenteil. Literatur in Buchform, wie sie üblich ist, seitdem der Buchdruck sich durchsetzte, Literatur, die der Leser still für sich, über den Text gebeugt, aufnimmt, ist nur ein paar Jahrhunderte alt. Vor dem Buchdruck brauchte der poetische Text den Buchstaben nicht unbedingt. Er wurde in der Regel in einem Zusammenhang von Szene, Musik und Tanz dargestellt. Das LITERATURMUSIKVIDEO greift somit Vor - Gutenbergsche Traditionen auf, was aber nicht eine Wendung zurück bedeutet und ebensowenig den gedruckten Text überflüssig macht, da es ganz sicher sinnvoll ist, dem elektronischen Datenträger eine gedruckte Version beizugeben. Es stellt sich aber als ein Format dar, das frühere Formen der Literaturpräsentation aufnimmt und diese mit den heutigen technischen Möglichkeiten der Produktion und Reproduktion neu prägt. Dabei unterscheidet sich das LITERATURVIDEO vom bekannten musikalisch ausgestalteten Literaturfilm grundsätzlich: es kann nicht darum gehen, eine Literatur- oder Textverfilmung zu präsentieren, in der ein poetischer Text bebildert und seine Wirkung akustisch unterstützt wird. Vielmehr sollten die Text-, die Musik- und die Bildebene gegeneinander und miteinander selbstständig bleiben, um dann ein Drittes an Wirkung und ästhetischer Präsenz zu erzeugen, das in den einzelnen Ebenen vorher so nicht vorhanden war. Das setzt selbstverständlich voraus, dass es vom Konzept her Kongruenzen zwischen den Ebenen gibt, auch wenn davon auszugehen ist und es sich in der Praxis als sinnvoll erweist, dass Text, Musik und Bild, bevor sie zu einem LITERATURMUSIKVIDEO sich zusammengefügen, unabhängig voneinander produziert werden. Doch erst so wird eine Komplexität erreicht, die es möglich macht, dass das multimediale Geschehen ersetzt, was die Qualität der literarischen Fiktion, der bloß gedruckt rezipierten Literatur ausmacht. Sie beflügelt die Phantasie des Hörens und führt in visuelle Welten ein, die den Text aufblühen lassen und seine Bedeutungsebenen wahrnehmbar machen, so dass erwartet werden darf, dass das LITERATURMUSIKVIDEO in nichts hinter der fiktiven, bloß gedruckt rezipierbaren Literatur zurückstehen muss, sondern im Gegenteil die Chance hat, die Aufmerksamkeit des Rezipienten in Bann zu ziehen. Zudem bleibt die große Errungenschaft des Buchdrucks erhalten: die freie Selbstbestimmtheit der Lesers, Hörers und Zuschauers. Denn anders als vor dem Buchdruck, steht es jetzt dem Rezipienten frei, selber zu bestimmen, ob er den Text entweder nur lesen oder ihn in Form eines Hörbuchs oder eines Films wahrnehmen will. Er kann die Zeit und den Ort zu wählen, an dem er sich auf die Bilder, die Musik und den Tanz einlässt. Der Computer, die CD, die DVD, der Bildschirm und die Videotechnik erlauben ihm eine freie Auswahl und Selbstbestimmtheit, wie es sie nie zuvor gegeben hat.
ADELHEID SELTMANN Berlin, August 2008