Der erste Artikel über Wikipedia, mit dem ich in Allem übereinstimme:
Friedhelm Greis: „Die Wahrheit über Wikipedia“, Freitag, 3. April 2009
Dazu muß ich ergänzen, daß ich in den ersten vier Jahren ein regelmäßiger Leser der Presse-Ergüsse über Wikipedia war.
Redaktion?
BearbeitenAnfänglich wurde ja von den Journalisten, speziell bei der Süddeutschen Zeitung und der FAZ über Wikipedia hergezogen, dass kein Auge trocken blieb. Arbeitsplatzbesorgte, frisch eingestellte Redakteure versuchten in der traditionellen Art von deutschen Radfahrern ihren Vorgesetzten ihre Unersetzlichkeit dergestalt zu beweisen, dass vor allem die fehlende Hierarchie einer Redaktion bei WP als Katastrophe ohnegleichen beschworen wurde. Dieser hinterhältige Genieblitz wurmte mich eine Weile, bis mir klar wurde, dass die Redaktion bei WP schon längst automatisiert worden war: nämlich in Gestalt der «Beobachtungsseiten». Sobald ein angemeldeter Mitarbeiter diese Funktion anklickt [„Diese Seite beobachten“], um einen Artikel und dessen Änderungen zu beobachten, korrigiert er nötigenfalls auch meist alle neuen Bearbeitungen. Als außenstehender Mäkler weiß man natürlich nichts von diesem Fortschritt durch Technik. Und als dummer Mitmacher ist man erst einmal betriebsblind. Doch damit erfüllt sich zugleich ein zweites Wunder: der Mensch ist unter Umständen wirklich lernfähig. Das führt uns nahtlos zur nächsten Frage.
Gut oder Böse?
BearbeitenWikipedia macht Fehler.
Das sagt mehr über die Kritiker als über WP aus: es ist eine frühkindliche Projektion von Grandiosität, die Erwartung von Vollkommenheit und Perfektion in einer unvollkommenen Welt. Dann gibt es noch Kritiker, die ein bißchen dünne und hämische Theorie hinzufügen (Lanier, Sanger). Das ändert nichts an der Grundeinstellung: WP ist schlecht, weil es nicht fehlerfrei ist. Implizit und oft unausgesprochen enthält dieser Vorwurf eine weitere Annahme: das Projekt WP ist von vornherein unfähig, sich selbst zu verbessern. Die lernen halt einfach nix dazu, diese verdammten @%~*! Oder akademisch-vornehmer: der Lernprozess reicht nicht aus, um die systemischen Schwächen zu korrigieren. Intern beliebt ist hier der Vergleich mit der Würgefeige (WP-Sprech für Trittbrettfahrer). Zwischen den Befürwortern und den Kritikern der WP geht es dabei immer auch um zwei verschiedene Menschenbildannahmen:
- WP - ja: der Mensch ist im Prinzip gut, darum nur so wenig Kontrolle wie nötig.
WP - nein: der Mensch ist im Prinzip schlecht, darum so viel Kontrolle wie nötig.
- WP - ja: der Mensch ist im Prinzip gut, darum nur so wenig Kontrolle wie nötig.
Ein Vorläufermodell von WP hiess Nupedia und gründete auf einer negativen Menschenbildannahme: der Mensch ist im Grunde genommen dumm und schlecht, nur gute und schlaue Menschen dürfen eine Enzyklopädie schreiben. Nupedia scheiterte an mangelnder Teilnahme.
Im Prinzip wiederholt sich hier wieder nur der alte Konflikt zwischen Liberalität und Konservatismus.
Transparenz
BearbeitenDer Prozess der Auseinandersetzung spielt sich in WP vor aller Öffentlichkeit ab. Das ist nicht immer lustig und schön, was dort passiert und wird gerne als Beweis für die Verkommenheit des Menschen an sich und der WP sowieso genommen. Den Unsinn, den andere Organisationen, Firmen etc. tagtäglich anrichten, bekommt dagegen kaum einer mit, er fällt in das Schweigegebot der Loyalität. WP-Gegner wie die Wikiweise-Mitarbeiter halten sich bessere Umgangsformen zugute, doch die konträren Sichtweisen über ein Thema werden dort gar nicht erst angesprochen. So wird von ihnen die Offenheit von WP noch als Beweis für deren Minderwertigkeit ausgelegt.
Peer Review
BearbeitenEntgegen den meisten Wissenschaftlern halte ich es für kein Unglück, dass in WP nicht das Verfahren des sogenannten Peer Review zur stillschweigenden Vollstreckung kommt. Im Gegenteil. Es gibt kaum ein besseres Verfahren als Peer Review, um Konformismus und Stagnation in der Forschung herbeizuführen. Es ist eine Schande, wieviel Energie an langweiliger Anbiederung an den jeweils herrschenden Kanon verschwendet wird, um sich seine Karriere als Nachwuchswissenschaftler zu sichern. Belohnt und honoriert wird nur die Abweichung (= Innovation) innerhalb des jeweils gültigen Kanons an Grundsätzen, die eine Mehrheit von Lehrstuhlinhabern unter sich verabredet hat (= „Stand der Forschung“). Jede Abweichung darüber hinaus wird entsprechend sanktioniert. Das beginnt mit der Ablehnung kanon- oder standardkritischer Ansätze durch das anonyme Peer-Review-Verfahren. Eine offene Auseinandersetzung neuer Fragestellungen wird damit im Keim erstickt.
In Wikipedia wird zwar nicht geforscht, doch können hier akademische Minderheitsansätze ebenfalls dargestellt werden. WP-Kritiker sehen darin ein weiteres Indiz für Verfall und Verderbtheit. Minderheitsmeinungen können für sie apriori nichts anderes als falsch sein und wenn das noch nicht zum Rückzug der Gegenseite führen sollte, auch als pathologisch. Dieses Mobbing wird im anonymen peer-review-Verfahren mechanisch vollzogen und hat den Vorteil des maximalen Stillschweigens für die Mehrheitsmeinung. Es ist ein Wunder, wie unter diesen restriktiven Umständen überhaupt noch Innovationen zustande kommen, doch sollte man diese besser als Unfall und Ausnahme von der Regel der Konformität verstehen. Ich halte es daher mit Thomas Gold, der einen scientific court für die Beurteilung von wissenschaftlichen Innovationen bzw. Artikeln vorschlug, also kein Tribunal von Fach-Spezialisten, sondern eine Runde von Generalisten, d.h. von Fakultätsmitgliedern, die mehr Abstand und zugleich mehr Überblick über eine jeweilige Fragestellung haben. WP könnte dies werden, in den Kandidaturen für lesenswerte Artikel kommt dies noch am Besten zur Anwendung.
Verschlimmbesserungen
BearbeitenAlles, was über eine Verbesserung von Tippfehlern hinausgeht, ist in der Regel eine Verschlimmbesserung in WP. Hit and Run, irgendwas reinknallen und sich dann verdrücken. Am Anfang war ich regelmäßig über diese Sorte von Einträgen genervt. Wer räumt schon gerne Anderen hinterher. Mittlerweile habe ich mich damit abgefunden, anders scheint WP nicht zu funktionieren. Glücklicherweise gibt es dafür die oben angesprochene Beobachtungsfunktion.
Demokratie versus Autokratie
BearbeitenIn der Kunst gibt es keine Demokratie und in der Wikipedia zu wenig Demokratie. In der Kunst ist das notwendig, weil ihr wichtigstes und höchstes Ziel eine höchstmögliche Qualität ist. Hohe Qualität duldet keine Abstimmung, sondern funktioniert nur über die Leistung und Kreativität. Anders sieht das dagegen in WP aus. Hier sollte zumindest teilweise Demokratie angewandt werden, nämlich bei der Wahrheitssuche oder Wahrheitsannäherung von komplexen Themen. Das funktioniert nicht über eine Abstimmung der jeweiligen Mehrheitsfraktion, die ihre Version mit Gewalt und im Dissens durchsetzt, sondern am besten durch eine argumentative Einigung. Genau daran fehlt es aber und an diesem Fundamentalgegensatz von Demokratie im Verfahren zur Beurteilung von Artikeln und Autokratie im Erstellen von guten Artikeln krankt Wikipedia chronisch und, wie mir scheint, auch zunehmend. Immer mehr gute Mitarbeiter verlassen das Projekt (Wikipedia:Vermisste_Wikipedianer, [1]), weil sie auf eingespielte Seilschaften treffen oder Einzelkämpfer, die ihnen das Schreiben schwer machen. Solange hier keine praktikable Lösung gefunden wird, wird die Frustration weiter ansteigen. Wer gute, ernstgemeinte Ideen dazu hat, ist gerne eingeladen, sie hier mitzuteilen.
Meritokratie oder Klickokratie?
BearbeitenOft liest man, dass in WP eine Meritokratie existieren würde, das Ansehen von Mitarbeitern rangiere nach Leistung. Es gibt in WP bislang nur zwei konkrete Parameter, um die Leistung festzustellen, nämlich die Anzahl der Einträge und die Anzahl der ausgezeichneten Artikel, von denen es gerade mal ein paar Tausend im einstelligen Bereich gibt. Letzteres ist weitaus anstrengender als einfach nur kleine Änderungen an Texten zu machen, daher halte ich die Bezeichnung Klickokratie für passender. Der schlimmste Feind aller Klickokraten oder Punktesammler ist die Vorschaufunktion, denn die klaut nur unnötig wertvolle Pünktchen. Ein gewisser Minimalismus der schonenden Dateneingabe pro Eintrag ist daher mittlerweile weit verbreitet. Solange kein Bot entwickelt wird, der die Bits pro edit zählt, wird sich an der Klickeritis auch nichts ändern.