Bemühungen, den Wortlaut bestimmter Texte von Abschrift zu Abschrift möglichst genau zu bewahren, sind für viele Texte seit der Antike belegt; insbesondere religiöse Texte (hebräische Bibel, Koran) und Gesetzestexte wurden sehr sorgfältig abgeschrieben. Klagen über voneinander abweichende Abschriften und Versuche zur Verbesserung des Wortlautes sind ebenfalls bereits aus der Antike überliefert. Als erste Ansätze einer Textkritik kann man alle Versuche bezeichnen, die solche Varianten nicht nur feststellen, sondern unter Berücksichtigung verschiedener Fassungen eine Verbesserung des überlieferten Textes versuchen. Für literarische Texte gilt die Bibliothek von Alexandria als Zentrum entsprechender Bemühungen (Gerke, 18-22; Delz, 53). Im Bereich der biblischen Texte waren es zunächst vor allem divergierende Übersetzungen, aber auch Schreiberfehler, die Anlass zum Vergleich verschiedener Übrelieferungen boten. Die Hexapla des Origines ist auch eine Reaktion auf die divergierenden griechischen Übersetzungen des Alten Testaments, und Hieronymus beklate sich ausführlich über die abweichungen hebräischer, griechischer und lateinischer Übersetzungen sowie die Viefalt der Abschriften, von denen keine zwei den gleichen Text böten. Seine Ausführungen im Prologus Galeatus wurde bis in die Neuzeit zusammen mit der auf ihn zurückgehenden Vulgata überliefert und war demensprechend gut bekannt. Aus dem frühen und hohen Mittelalter sind textkritische Bemühungen deutlich seltener überliefert. Immerhin erwähnt die Admonitio generalis (c. 70), dass grundlegende religiöse Texte korrigiert werden sollten (MGH Fontes iuris 15.224), und die von Karl dem Großen geförderte Verbreitung der Alkuin-Bibeln, der Dionysio-Hadriana und anderer Werke der Karolingischen Renaissance dürfte mit im weiteren Sinne textkritischen Bemühungen verbunden gewesen sein.

Mittelalterliche Handschriften der Bibel und (seltener) literarischer Quellen bieten gelegentlich marginal oder interlinear verschiedene Lesarten einer bestimmten Stelle (z.B. https://digi.vatlib.it/view/MSS_Vat.lat.3466/0068). Eine intensivere Bemühung um die Verbesserung profaner wie religiöser Texte der Antike setzte dann im Spätmittelalter ein. Ab dem 14. Jahrhundert sammelten und verglichen italienischen Humanisten mittelalterliche Handschriften antiker Texte, um deren Wortlauf zu rekonstruieren.[1] Die Ergebnisse in Form von neuen Abschriften und, ab dem späten 15. Jahrhundert, gedruckten Ausgaben enthalten oft viele Konjekturen, d.h. veränderten den Wortlaut in einer Weise, die durch keine bekannte Handschrift belegt war. Als Maßstab dienten den Humanisten ihre grammatischen Kenntnisse und das eigene ästhetische Urteil. Polizoni. Erasmus.

In bezug auf Bibel und andere religiöse Texte (Kirchenväter, Corpus Iuris Canonici, teilweise Quellen der Kirchengeschichte) gab es eine deutliche konfessionelle Teilung der Forschung ab der Gegenreformation. Einerseits beanspruchten Gelehrte aller Konfessionen eine Deutungshoheit über den Wortlaut dieser Werk und entwickelten erhebliche Polemiken rund um Überlieferung, Übersetzung und Interpretation zentraler Stellen. Zum anderen mussten insbesondere katholische Gelehrte die innerkirchlichen Begrenzungen textkritischer Forschung beachten; die editiones Romanae (öffiziöse Ausgaben, die für den kirchlichen Gebrauch verpflichtend waren) machten textkritische Verbesserungen der Septuaginta, der Vulgata, des Corpus Iuris Canonici und der Kirchenväter für katholische Gelehrten vom späten 16. Jahrhundert bis ins 20. Jahrhundert zu einem riskanten Unterfangen. Von den römischen abweichende Ausgaben und Vorrbeiten zu diesen wurden von der Index-Kongregation in der Regel purgiert (ähnlich wie Ausgaben ad usum Delphini) oder häufiger ganz verboten; ihre Erstellung konnte kirchliche Strafen bis zur Exkommunikation nach sich ziehen. Im frühen 20. Jahrhundert legten Antimodernisten-Eid und die Bibelkommission relativ enge Grenzen für die erlaubten Ergebnisse textkritischer Forschungen fest, bevor ab den 1940er Jahren Textkritik in deutlich weiteren Grenzen erlaubt wurde.

Die römische Septuaginta gehört zusammen mit der 1582 veröffentlichten editio Romana des Corpus Iuris Canonici und der 1590 erschienen römischen Ausgabe der Vulgata zu den vom Konzil von Trient geforderten und unter Gregor XIII., Paul V. und Sixtus V. forcierten Neuausgaben zentraler Werke der kirchlichen Lehre. Mit Ausnahme der Vulgata (deren Fehlerhaftigkeit zu einer raschen Neubearbeitung unter Clemens VIII. führte) waren diese Ausgaben das Ergebnis intensiver Gelehrsamkeit und blieben über lange Zeit innerhalb der römisch-katholische Kirchne im Gebrauch.

Eine der Folgen dieser Entwicklung war, dass die Weiterentwicklung textkritischer Methoden, soweit sie sich auf die Bibel, Kirchenväter, die ökumenischen Konzilien, päpstliche Dekretalen und kanonische Sammlungen bezogen, weitgehend von nicht-katholischen Gelehrten geleistet wurden, oder gar nicht erfolgten. Die Textkritik der Bibel wurde im 18., 19. und 20. Jahrhundert überwiegend von nicht-katholischen Theologen und Philologen entwickelt (John Mill, Konstantin von Tischendorf, Hermann von Soden, Eberhard Nestle). Die maßgeblichen Ausgaben der Septuaginta und des griechischen Neuen Testaments erschienen alle in überwiegend protestantischen Ländern, erstellt von anglikanischen, lutherischen und calvinistischen Bibelwissenschaftlern (Cambridger Septuaginta, Göttinger Septuaginta, das Novum Testamentum Graece von Nestle/Aland). Schriften der Kirchenväter wurden überwiegend von nicht-kirchlichen Institutionen kritisch ediert (z.B. im Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum). Für die Konzilien war Cuthbert Turner 1899 der erste, der eine kritische Edition von Beschlüssen eines ökumenischen Konzils vorlegte. Das Corpus Iuris Canonici (CIC) wurde erstmals 1879 (durch Emil Friedberg) in einer teilweise kritischen Edition vorgelegt; erst nachdem das CIC außer Kraft gesetzt war, kam in den 1940er Jahren auch innerhalb der katholischen Kirche (Stephan Kuttner, Gabriel Le Bras) die Forderung nach einer historisch-kritischen Edition des Decretum Gratiani auf, die dann aber trotz beachtlicher Vorarbeiten nicht erstellt wurde.

Für nicht-religiöse Texte (griechische und lateinische Literatur, römische Rechtstexte) war die Anwendung textkritischer Methoden weniger riskant; hier wurden Verbesserungen der Ausgaben früh als zentrale Aufgabe der Forschung gesehen (von Hartel: kritisch gereinigter Text sei "Anfang und Ende" der Philologie). Im gesamten 18. und 19. Jh. kontinuierlicher Strom besserer Ausgaben und Methoden. Lachmanns Lukrez-Ausgabe wurde im weiteren 19. Jh. als methodisch bahnbrechend bewertet (Gerke etc etc). Viele Ausgaben, auch durch Lachmann selbst, wurden aber nicht nach dem Schema von Heuristik, Kollation und Rezension gleichsam von Null an erstellt, sondern legten meist eine vorhandene Ausgabe zugrunde und versuchten vor allem diese auf Basis einer Auswahl von Handschriften zu verbessern. Nur bei Werken mit einer geringen Zahl von Textzeugen war eine Einbeziehung aller erhaltenen Textzeugen arbeitsökonomisch möglich, und auch dann verfuhren viele Editoren (einschließlich Lachmann) eher nach dem Leithandschrift-Prinzip als nach der stemmatologischen Methode (PL Schmidt)

Die stemmatologische Methode der Textkritk wurde erst im 20. Jahrhundert eng mit Lachmanns Namen verbunden und auch erst in dieser Zeit in Form von Handbüchern ausführlicher dargestellt.

Anwendung einerseits auf Bibel, andererseits auf mittelalterliche Literatur. Im Laufe des 19. Jahrhunderts Anwendung auf griechische und lateinische Literatur der Antike, auf die Lachmanns Methode oft sehr gut angewendet werden konnte. Früh auch auf römische Rechtstexte (Niebuhrs Institutiones 1816, Mommsen, Mommsen, Mommsen), hingegen weniger auf kanonisches Recht (selbst Friedberg reproduziert noch editio Romana; nach 1945 Kuttner). Allmählich auch auf nichtliterarische historische Quellen, vor allem später mittelalterliche Quellen (MGH, "Philologisierung" erst im letzten Viertel des 19. Jh.; siehe Hoffmann). Erst spät Fixierung z.B. Regulativ des CSEL 1901 für Kirchenväter-Azusgaben, Lehrbücher (Maas).


Henderson. vgl Siehe allerdings J W Busch: auch im MA Methoden. Fallbeispiel hier Konstantinische Schenkung, seit dem 14. Jh. wiederholt als Fälschung vermutet (184ff), Valla eher untypisch, "doch mit seiner philologischen Textkritik führt er eine ganz andere Methodik in die Behandlung der Echtheitsfrage ein" (187)

Tatsächlich entstand die Methode nur, weil Vertreter sehr unterschiedlicher Disziplinen sich auf gemeinsame Standards einigten. Mommsen, Dankschreiben, Rom 1893[2], „Die Epoche, wo der Geschichtsforscher von der Rechtswissenschaft nichts wollte und der Rechtsgelehrte von die geschichtliche Forschung nur innerhalb seines Zaunes betrieb, die Epoche, wo es dem Philologen wie ein Allotrium erschien, die Digesten aufzuschlagen, und der Romanist von der alten Literatur nichts kannte als das Corpus Iuris, wo zwischen den beiden Hälften des römischen Rechts, dem öffentlichen und dem privaten, die Facultätslinie duchging, wo der wunderliche zufall die numismatik und sogar die Epigraphik zu einer Art von Sonderwissenschaft gemacht hatte und ein Münz- oder Inschriftenzitat außerhalb dieser Kreise eine Merkwürdigkeit war - diese Epoche gehört der Vergangenheit an.“

Literatur

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  • J. Delz, Textkritik und Editionstechnik, in: F.Graf (Hrsg.), Einleitungin die lateinische Philologie, Stuttgart/Leipzig 1997, 52–73.
  • Alfred Gercke "Formale philologie" in A. Gercke/E. Norden, Einleitung in die Altertumswissenschaft,Bd.I,Leipzig/Berlin 1912, 36–80. https://archive.org/details/einleitungindiea01gerc_0/page/36/mode/2up
  • Henderson
  • Maas
  • Schmidt

Einzelnachweise

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  1. Henderson "Das Aufkommen einer historischen Textkritik gehört zu den Phänomenen, die gewöhnlich in Zusammenhang mit dem Humanismus und der Wende vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit gebracht werden. Das ''discrimen veri ac falsi'' ist der früheren Forschung daher als ein geradezu paradigmatischer Aspekt der mentalitätsgeschichtlichen Wende zwischen unkritisch gläubigem Mittelalter und kritisch-rationaler, frühmoderner Denkweise der Hmanisten erschienen." (180)
  2. O. Gradenwitz: I. Theodor Mommsen. In: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Romanistische Abteilung. Band 25, Nr. 1, 1904, ISSN 2304-4934, S. 1–32, hier S. 6, doi:10.7767/zrgra.1904.25.1.1.