Benutzer:CharMld/Ressourcen-Etikettierungs-Dilemma

Dieser Artikel befasst sich mit dem Begriff „Ressourcen-Etikettierungs-Dilemma“, welcher 1993 durch die Autoren Füssel und Kretschmann geprägt wurde. Die Thematik ist in den Bereich der Feststellung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs zu verordnen. Genauer geht es in diesem Artikel um die notwendigen Maßnahmen und die damit verbundenen Probleme, um Unterstützung für Menschen mit Behinderungen zu erhalten, damit diese an der allgemeinen Bildung teilhaben können[1]. Im Folgenden wird zunächst die Argumentation der beiden Autoren kurz dargestellt. Anschließend werden die Maßnahmen zur Feststellung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs, sowie das Nutzen und problematischen Folgen dieser Kategorisierung erläutert. Schließlich werden ausgewählteLösungsansätze aus der Literatur vorgestellt.

Die Autoren Füssel und Kretschmann berufen sich den Art. 3 des GG, den Gleichbehandlungsgrundsatz. Dieser besagt, dass alle Menschen gleichberechtigt sind und niemand benachteiligt werden darf. Bezogen auf die schulische Bildung müsse also gewährleistet sein, dass jede Schülerin und jeder Schüler die gleichen Lernmöglichkeiten geboten bekomme, unabhängig von den individuellen Voraussetzungen der Kinder. Individuelle Fördermaßnahmen seien aber nur passend wählbar, wenn der Bedarf an Unterstützung genau ermittelt wurde. Besonders bei inklusiv beschulten SchülerInnen bestünde bei einer fehlenden Diagnose die Gefahr, dass sie die nötige sonderpädagogische Unterstützung nicht erhalten und somit nicht mit den gleichen Möglichkeiten an dem Schulalltag teilhaben können. Das Dilemma, von dem die Autoren sprechen, entstehe durch die einerseits positiv anzusehende Unterstützung (Ressourcen) und die negativen Folgen der Kategorisierungen (Etikettierung)[1].

Diagnose eines Förderbedarfs

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Wenn der Verdacht besteht, dass ein Kind die Bildungs-, Entwicklungs- und Lernaufgaben in der Schule dauerhaft nicht ohne Unterstützung bewältigen kann, wird ein Verfahren zur Feststellung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs eingeleitet. In diesem Verfahren wird der Förderschwerpunkt, die Art und der Umfang der notwendigen Unterstützung und einzelne individuelle Maßnahmen festgestellt[2] . Wenn ein Förderbedarf ermittelt wurde, werden zusätzliche (personelle) Ressourcen zur Verfügung gestellt oder ein Schulwechsel vollzogen. Ohne diese Diagnose erfahren die SchülerInnen keine gesonderten unterstützenden Maßnahmen[3]. In dem Bundesland Niedersachsen sind die Lehrkräfte, SchulleiterInnen und Erziehungsberechtigte, sowie die Landesschulbehörde in dem Verfahren involviert[2]. Die Diagnostik ist ein aufwändiger Prozess. Einerseits sollen die Bedarfe der Person so möglichst genau ermittelt werden, andererseits könnte dies ein Kind sehr verunsichern.

In anderen Bundesländern wird bei bestimmten Förderschwerpunkten (z.B. sozial-emotionale Entwicklung) auf eine offizielle Diagnose durch das eben genannte (oder ähnliche) Verfahren verzichtet. Beispielsweise werden in Hamburg zusätzliche Fördermaßnahmen innerhalb der Schule verteilt. Diese Verteilung findet jedoch auch nach einer schulinternen Bestandsaufnahme der SchülerInnen statt, sodass die Kinder mit einem sonderpädagogischen Förderplan diese zusätzlichen Ressourcen zur Verfügung gestellt bekommen. Das heißt, dass diese Kinder keine offizielle Diagnose bekommen, aber durch die schulinternen Prüfungen trotzdem in die Kategorie „Förderbedarfe“ fallen[1]. Auch in dem 2. Artikel Abs. 2 der UN-Behindertenrechtskonvention wird von diagnostizierten Förderbedarfen gesprochen. Gefordert werden „angemessene Vorkehrungen für die Bedürfnisse des Einzelnen“[4] und für „Menschen mit Behinderungen innerhalb des allgemeinen Bildungssystems die notwendige Unterstützung (…), um ihre erfolgreiche Bildung zu erleichtern“[4]. Betont wird hier, dass es sich um Menschen mit Behinderungen handelt. Die Förderbedarfe sollen also diagnostiziert werden, um die individuell notwendige Unterstützung ermitteln zu können, sodass alle dieselbe Schulbildung erfahren können. Insbesondere bei inklusiv beschulten Kindern würde sonst die Gefahr bestehen, dass die individuelle Förderung vernachlässigt wird[1].

Förderschwerpunkte sind im Bereich Lernen, Sehen, Hören, Sprache, körperliche Entwicklung, sozial-emotionale Entwicklung und geistige Entwicklung festzustellen[1].

Notwendigkeit von Etikettierungen

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Wie bereits erwähnt, steht dem Kind keine sonderpädagogische Unterstützung zu, wenn keine offizielle Diagnose gestellt und der genaue Förderbedarf ermittelt wurde[5]. Außerdem dient die Diagnostik im schulischen Kontext der optimalen Förderung der Kinder. Die Lehrkräfte und sonderpädagogischen Fachkräfte nutzen die Untersuchungsergebnisse, um Entscheidungen passend treffen zu können und Lernprozesse möglichst genau zu strukturieren[6]. Ohne, dass der genaue Bedarf festgestellt wird, sind passende und individualisierte Fördermaßnahmen schwierig zu erteilen. Auch in Fällen des Nachteilsausgleichs muss dieser durch einen ärztlichen Befund genau begründet werden. Rechtlich steht es SchülerInnen zu, den Nachteil, welchen sie durch ihre Behinderung erfahren, durch Berücksichtigungen bei Notengebungen und Prüfungen ausgleichen zu können. Um die Art und das Ausmaß des Ausgleichs festlegen zu können, werden die ärztlichen Diagnosen verwendet.

Aus der Perspektive der UN-Behindertenrechtskonvention werden niedrigere Leistungserwartungen als negativ und hinderlich für die Entwicklung der Kinder angesehen. Alle SchülerInnen sollen, ob mit oder ohne Behinderung, soweit unterstützt werden, dass sie am allgemeinbildenden Schulsystem erfolgreich teilnehmen und Abschlüsse erhalten können. Da manche Behinderungen jedoch so einschränkend sind, dass die Kinder auch mit Unterstützung die erwarteten Leistungen nicht erreichen können, gibt es die Möglichkeit der Zieldifferenzierung. Auch hierfür ist eine Diagnostik Voraussetzung, um angemessene Lernziele festlegen zu können[1].

Risiken der Etikettierungen

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Durch Kategorisierungen besteht die Gefahr der Homogenisierung. Individuen werden Merkmale der Kategorie zugeschrieben, welche wohlmöglich nicht auf sie zutreffen. Durch diese Übercodierung geht der Blick für die einzelne Person verloren. Außerdem werden Eigenschaften passend zu der Klassifizierung interpretiert und die Wahrnehmung durch Erwartungen und Stereotype gelenkt. Im Fall der sonderpädagogischen Förderbedarfe können die Diagnosen einschränkend wirken, sodass die individuellen Potenziale und Fähigkeiten alleine durch die klassifizierte Behinderung anders eingeschätzt werden. Diese Zuschreibungen können sich dann im Sinne der selbsterfüllenden Prophezeiung auf die Umgangsweisen der BetreuerInnen und das Selbstkonzept der Betroffenen auswirken[7].

Außerdem besteht das Risiko, dass der Bildungsanspruch allein auf Grund einer vorhandenen Behinderung sinkt, sodass eine gleiche Teilhabe am Unterricht nicht mehr Ziel der Lehr- und Fachkräfte ist. Pfahl argumentiert, dass sich die Einstellung der Lehrenden auch auf die SchülerInnen übertragen würden, sodass die Kinder Sonderbehandlungen und Rücksichtnahme erwarten und geringere Selbstansprüche hätten. Auch nach dem Ende der Schulzeit würde sich diese Haltung nicht verändern[5].

Nachdem ein Förderbedarf diagnostiziert wurde, wird das Kind entweder auf einer Förderschule unterrichtet oder in inklusiv in einer Regelschule. Die Studie von Pfahl zeigt, dass ein Schulwechsel auf eine Förderschule häufig mit einer Verschlechterung der Leistung im Vergleich zu der Zeit vor der Diagnose einhergeht und von den Betroffenen als „einschneidendes Erlebnis“[5] beschrieben wurde. Die Gründe für die Leistungsunterschiede wurden nicht genannt, da aber trotz sonderpädagogischer Förderung die Leistungen sinken, scheint die Diagnose eine große Bedeutung für die Betroffenen zu haben. Ein weiteres Problem der Sonderbeschulung sind die Abschlüsse. Die SchülerInnen einer Sonderschule erreichen häufig keinen offiziell anerkannten Abschluss und verlassen die Schule mit einem Zertifikat. Ohne Schulabschluss sind die Chancen einen Arbeits- oder Ausbildungsplatz zu finden sehr gering. Das Risiko, dass die Exklusion aus dem allgemeinbildenden Schulsystem im Berufsleben fortgeführt wird ist folglich hoch[5].

Ein weiterer Konflikt, der durch die Ressourcenverteilung nach diagnostizierten Förderbedarfen entsteht ist eine Überdiagnostizierung. Damit gemeint ist, dass die Schulen schneller Verfahren zur Feststellung eines Förderbedarfs einleiten, um zusätzliche (personelle) Ressourcen zu erhalten[1].

Für die Betroffenen geben die diagnostizierten Förderbedarfe Auskunft über ihre negativen Unterschiede im Vergleich zu den Durchschnittswerten der Gesellschaft. Die genaue Ausprägung ihrer Behinderung bleibt dabei aber selten greifbar, weil die Diagnosen oberflächlich definiert sind. Im Fall des Förderbereichs Lernen wissen die SchülerInnen oft nicht, wie sie ihren Status überwinden können. Pfahl hat in ihrer Diskusanalyse unterschiedliche AbsolventInnen der Sonderschule mit dem Förderbedarf Lernen befragt. Ihre Untersuchungen ergaben, dass häufig auch nach dem Schulabschluss die eigenen Fähigkeiten lebenslang angezweifelt werden und dies mit der diagnostizierten Lernbehinderung begründet wird. Berufliche und schulische Erfolge würden durch die Diagnose relativiert werden[5].

Laut Pfahl nehmen die Klassifizierungen einen so starken Einfluss auf die betroffenen Personen, sodass die Entfaltung der eigenen Person durch diese eingeschränkt werden. Anhaltspunkte dafür waren die Selbstbeschreibungen ihrer ProbandInnen[5]. Außerdem hätten die Befragten die Diagnosen angenommen und sich somit selber dauerhaft als „hilfsbedürftig“ eingeschätzt. Die Ansprüche an die eigene Person würden sinken und sie würden in einer Art „Schonraum“ leben[5].

Soziale Vergleiche stellen ein weiteres Problem für die SchülerInnen mit einem diagnostizierten Förderbedarf da. In Pfahls Untersuchungen grenzten sich die Befragten von den MitschülerInnen auf der Förderschule ab. Sie bedienten sich den unterschiedlichen Kategorien von Behinderungen, um sich gegenseitig zu entwerten. Aussagen wie „die auf der Schule waren, waren auch ein bisschen doof“[5] zeigen, dass auch Kinder untereinander zu Pauschalisierungen neigen und die sonderpädagogischen Kategorien als negativ empfinden.

Lösungsansätze

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Fussel und Kretschmann argumentieren, dass sich die pädagogische Situation in Inklusionsklassen insgesamt verändere und nicht nur Unterstützungsbedarf für die SchülerInnen mit sonderpädagogischem Förderbedarf bestehe. Daher halten es die Autoren für angebracht, dass zusätzlich zu den Lehrkräften eine sonderpädagogische Fachkraft die gesamte Klasse betreut, somit kann die Unterstützung flexibel eingesetzt werden. Inwieweit das Kind mit sonderpädagogischem Förderbedarf individuell unterstützt wird, müsse für jeden Einzelfall entschieden werden, sodass das Kind je nach Bedarf passend gefördert werde[1]. Dadurch, dass bei diesem Konzept alle Kinder sonderpädagogisch unterstützt werden, ist die dauerhaft nötige Unterstützung der Kinder mit diagnostiziertem Förderbedarf nicht hervorstechend. Probleme hierbei können sein, dass die SchülerInnen mit zusätzlichem Förderbedarf nicht ausreichend Unterstützung erfahren, um gleichwertig am Unterricht teilnehmen zu können. Außerdem hat sich herausgestellt, dass einige Schulen dazu neigen besonders bei vielen SchülerInnen einen Förderbedarf zu diagnostizieren, um mehr Unterstützung zu erhalten. Durch strengere Diagnostik und generelle Mittelzuweisungen soll dies jedoch verhindert werden[1].

Unterschiedliche Autoren fordern, dass Stigmatisierungen und Diskrimination so weit möglich auszuschließen sind, eine Diagnose zur Bedarfsermittlung aber notwendig sei[1]. Da die Betroffenen unter Diskriminierungen und Stigmatisierungen leiden, sowie Ansichten der Lehrkräfte und BetreuerInnen die freie Entfaltung einschränken können, gibt es verschiedene Techniken zur Reflexion des eigenen Verhaltens. MitschülerInnen können durch gezielte Lerneinheiten interkulturelle Kompetenzen erwerben. Dieses Konzept wurde ursprünglich nicht für den Bereich der sonderpädagogischen Förderbedarfe entwickelt, lässt sich aber darauf übertragen. In diesen Lerneinheiten werden beispielsweise durch einen Rollentausch die Perspektive einer anderen Position eingenommen, um eine bestimmte Situation von einem anderen Standpunkt zu betrachten. So können Empathie und Kompromissbereitschaft geschult werden. Die Lehrkräfte können durch Kooperationen mit KollegInnen ihre und die Verhaltensweisen der anderen reflektieren und hinterfragen, indem sie beispielsweise gegenseitig im Unterricht hospitieren[7].

Verschiedene AutorInnen betonen, dass die Bedarfsermittlung und Zuteilung ohne offizielle Diagnosen nicht möglich sei. Laut ihnen kann die Etikettierung also nicht vermieden werden. Sie betonen, dass bewusst mit diesen Kategorisierungen umgegangen werden soll, damit Stigmatisierungen, Diskriminierung und andere negative Effekte vermieden werden. Lösungsansätze wären hierfür eine angeleitete Reflexion mit MitschülerInnen, sowie die eigenen Verhaltensweisen als Lehrkraft und Betreuungsperson zu überdenken. Die Mittelzuweisung ist ein Ansatz, bei dem die gesamte Klasse sonderpädagogische Unterstützung erfährt und somit Einzelförderungen nicht unbedingt evident sind.  

  1. a b c d e f g h i j Kuhl, P., Stanat, P., Lütje-Klose, B., Gresch, C., Pant, H. A., & Prenzel, M.: Inklusion von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf in Schulleistungserhebungen. Wiesbaden 2015, ISBN 978-3-658-06603-1.
  2. a b Niedersächsisches Kultusministerium: Verordnung zum Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung. Nr. 2. Niedersachsen 2013.
  3. Spinath, B., & Brünken, R.: Pädagogische Psychologie- Diagnostik, Evaluation und Beratung. Hogrefe Verlag, Göttingen 2016, ISBN 978-3-8017-2222-7.
  4. a b UN-Behindertenrechtskonvention: Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderung. 2007, abgerufen am 9. September 2018.
  5. a b c d e f g h Pfahl, L.: Techniken der Behinderung: der deutsche Lernbehinderungsdiskurs, die Sonderschule und ihre Auswirkungen auf Bildungsbiographien. Transcript- Verl., Bielefeld 2011, ISBN 3-8376-1532-4.
  6. Becker, G., Horstkemper, M., Risse, E., Stäudel, L., Werning, R., & Winter, F.: Diagnostizieren und Fördern. Stärken Entdecken- Können Entwickeln. Friedrich Jahresheft, Nr. 2006, 2006.
  7. a b Hagedorn, J.: Ethnizität, Geschlecht, Familie und Schule. Heterogenität als Erziehungswissenschaftliche Herausforderung. Hrsg.: Hagedorn, J., Schurt, V., Steber, C., & Waburg, W. Springer VS, Wiesbaden 2010, ISBN 978-3-531-16856-2.