Genrich Sapgir 1992

Genrich Weniaminowitsch Sapgir (russisch Генрих Вениаминович Сапгир; wiss. Transliteration Genrich Veniaminovič Sapgir; * 20. November 1928 in Bijsk; † 7. Oktober 1999 in Moskau) war ein russischer Dichter, Romanautor und Übersetzer.

Genrich Sapgir wurde in Bijsk in der Region Altai, geboren. Mitte der 1920er Jahre befand sich die ganze Familie in Altai. Vater, Mutter, zwei ältere Brüder, Igor und Michail, kehrten bald nach der Geburt von Genrich nach Moskau zurück.

Genrich fing zwischen seinem siebten und achten Lebensjahr an zu dichten. Mit 12 Jahren trat er in das literarische Studio des Hauses der Künstlerischen Erziehung ein. Dessen Leiter, Arsenij Aleksandrovič Al'ving, machte ihn mit der Dichtungslehre bekannt.

Nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs ging Sapgirs Vater mit den zwei älteren Söhnen an die Front. Der 13-jährige Genrich wurde zusammen mit seiner schwangeren Mutter nach Alexandrow in der Oblast Wladimir evakuiert. 1944 kehrte Sapgir allein nach Moskau zurück. Zu diesem Zeitpunkt starb sein Lehrer Al'ving. Dessen Nachfolger wurde der Dichter und Künstler Evgenij Kropivinskij, der für die künstlerische und persönliche Entwicklung Sapgirs eine bedeutende Rolle spielen sollte. Sapgir besuchte einige Zeit das Polygraphische Technikum. Von 1948 bis 1952 diente er als Soldat in einem Baubataillon in einer geheimen Atomstadt in der Nähe von Swerdlowsk. Um das Bataillon herum befanden sich Lager mit Häftlingen, die in den Bergwerken arbeiteten. Dort schrieb Sapgir Gedichte über die Häftlinge aus dem Gulag. Diese Gedichte musste er allerdings vernichten, nachdem ihm ein Soldat beichtete, dass dieser Sapgir beobachten und ihn der Obrigkeit denunzieren müsse.

Nach der Demobilisierung und Rückkehr Sapgirs nach Moskau im Jahre 1952, wurde Genrich ein Normsetter in dem Skulptur-Betrieb eines Künstler Fonds (1953–1960), wo er die Avantgarde-Bildhauer traf. Unter diesen Künstler war einer, der den besonderen Platz im Leben des jungen Dichters einnahm: Oskar Rabin. Seit Ende der 1950er Jahre formierte sich um Kropivinskij und seinen Schüler Oskar Rabin ein enger Kreis von gleichgesinnten Literaten und Künstler, die später den Namen „Leonozover Schule“ trug. (Der Künstler Rabin und seine Frau Valentina Kropivinskaja - Tochter von Evgenij Kropivinskij - lebten in der Nähe der Station Lianozovo). Dort trafen sich Literaten, Künstler, teils künstlerischer und teils existenzieller Untergrund. Die Hauptakteure der „Lianozovcer“ waren Genrich Sapgir, Osjar Rabin, I. Holin - die Schüler von Kropivinskij - sowie Olga Potapova, Valentina Kropivinskaja, L. Kropivinskij, Vsevolod Nekrasov und Jan Satunovskij.

Die Interessen von Genrich Sapgir begnügten sich nie mit dem Bekanntenkreis aus Lianozovo. Er traf sich mit den Dichtern, die in den literarischen Vereinen (offiziellen, halboffiziellen und Untergrundvereine) in Moskau, Leningrad und anderen russischen Städten literarisch tätig waren.

In den Sowjetzeiten publizierte er viel als Kinderschriftsteller: ihm gehören die Szenarien von den klassischen Cartoons „ Loscharik“, „Paravozik iz Romaschkovo“, u v.a. 1979 nahm er an dem Almanach „Metropol“ teil.

Genrich Sapgir war auch als Übersetzer der jüdischen Dichter Ovsey Drize, konkreter deutscher Poesie, und des amerikanischen Dichters Jim Cates tätig. Er verfasste den poetischen Teil der Anthologie „Samizdat des Jahrhunderts“ (1998), auf dem das Internet-Projekt „Inoffizielle Poesie“ basierte.

Sapgir war der Gewinner des Puschkin-Preises der Russischen Föderation, der Auszeichnungen der Magazine „Znamja“ („Die Fahne“ 1993) und „Strelec“ („Der Schütze“ 1995, 1996), die Auszeichnung „Za osobye uslugi“ („Für besondere Leistungen“) Turgenjews Festival der Kurzprosa (1998).

Während der Perestroika wurde er Mitglied des Schriftstellerverbandes Moskau (1988), obwohl er die Idee der Union der Schriftsteller als negativ ansah. Er war Mitglied des P.E.N. von 1995, kurz vor seinem Tod schloss er sich der Gruppe von DEP (in 1999) an.

Er starb am 7. Oktober 1999 an einem Herzinfarkt in einer Moskauer Straßenbahn auf dem Weg zu der Präsentation der Anthologie „Die Poesie der Stille“, wo er vortragen sollte.

Literarisches Werk

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Sapgir war während seiner gesamten Karriere auf der Suche nach neuen Ausdrucksformen. In den frühen Texten (1950–60) neigte er oft zur sozialen Satire, die jedoch häufig spielerische Formen annahm.

Später kann in der Poesie Sapgirs die Landschaftslyrik und die bürgerliche Poesie gefunden werden.

Er schuf mehrere Zyklen von Sonetten und gleichzeitig entwickelte er neue, experimentellen Formen, die die Tradition der russischen Futuristen und deutschen Konkreten fortführten.

Kritiker sprachen von ihm als von einem Klassiker der zeitgenössischen russischen Avantgarde.

In den späteren Werken Sapgirs kombinieren sich organisch Lakonismus und die unglaubliche Vielfalt an Ausdrucksmöglichkeiten, rücksichtsloses Experiment, die Vorliebe zu feinen Details, dem Spiel, der Groteske, der Ironie und dem überraschenden Pathos, die Sehnsucht nach ekstatischen Zustände des Geistes.

Sapgir hatte verschiedene literarische Masken: er war ein offizieller Kinder-Dichter und Dramatiker, Dichter der Untergrund-Avantgarde, als erster wandte er sich an die neue Moskauer Redepraxis; er war ein Surrealist, der beim Schreiben seiner poetischen Texte die Erfahrung in der zeitgenössischen Kunst und Filmschnitt benutzte; er war Neoklassiker, der es gewagt hat, Puschkins Rohentwürfe neu zu interpretieren; auch ein Visionär-Metaphysiker war Sapgir, der sich mit der erhabenen Suche nach Gott durch die Poesie beschäftigte; Autor von spottischen Abzählreimen, Slogans, die in die Folklore übergingen.

Die Poesie von Sapgir definierte mehr oder weniger die literarische Grundströmung in den letzten vierzig Jahren. Es war eine Bewegung von frühen Wladimir Majakowski bis zu Welimir Chlebnikow, zu den Oberiuten, zur postavangardistischen Poetik.

Sapgir änderte sich, indem er immer auf die Prioritäten der Intelligenz reagierte, blieb dabei aber immer erkennbar. Er war offen für das Neue, und manchmal auch für die exotischsten Trends und Einflüsse bis zu dem Moment des Todes. Eine ähnliche Fähigkeit zur Selbstausbildung, eine solche Toleranz zur Geschichte und Literatur und solche Vernunft hatte, wahrscheinlich, keiner der großen russischen Dichter des 20. Jahrhunderts.

Lange vor dem Erscheinen des Begriffs „Polystilistik“ verkörperte Genrich Sapgir durch sein kreatives Verhalten die polystilistischen Prinzipien der Beziehung zum Text. Offenbar war die „praktische Polystilistik“ die wichtigste Lehre, die er in seiner Jugend gelernt hat. Seine Lehrer und Erzieher waren zwei völlig unterschiedliche Menschen- der raffinerte Postdekadent Al'ving und der futuristisch grobe E. A. Kropivinskij. Sie waren Freunde, obwohl hinter ihren Rücken, in der Vergangenheit, sich gegenseitig feindliche kulturelle Schichten fanden.

Ohne die Erfahrung der Wortwahrnehmung als einen darstellenden, biegsamen Faktor, die Übertragung von modernen Maltechniken auf das Gebiet der Wortkunst, die spielerische Instrumentalisierung der Semantik und Phonetik- ohne sie gibt es keine „Erwachsenen- „ oder Kinder-Gedichte von Sapgir.

Sapgir übertrug in seine eigene Poesie die Elemente der Literatur des Absurden (Ende der 1960er Jahre), dann erlag er der allgemeinen neoklassischen und passeistischer Welle (Anfang der 1970er Jahre), oder gab seinen Texten den Schein der konzeptuellen Opus (Ende 1970er Jahre). Seine späteren Gedichte wurden plötzlich wieder wie die früheren- er schien zu seinem ersten dichterischen Impuls zurückgekehrt zu sein.

Die Texte Sapgirs der Periode der „Stimmen“ (1958) sind voll von den Menschenmassen; sie sind beängstigend, aber spaßig von Schreien; in diesen Texten ist es zu ersticken von den Halb- und Unmenschen (Nedoljudi); diese Verse sprechen mit verschiedenen Stimmen, sie schreien, schneiden Grimassen, pfeifen und johlen. In St. Petersburg, der nicht ohne seine Uniform leben konnte, wurden diese Gedichte als beinahe feindlicher Lärm von der Straße, der durch das zerschlagene Fenster wahrgenommen.

Es scheint als ob Sapgir absichtlich eine poetische Darstellung des lustigen Karnevalstodes der Welt erzeugte, wo die Ober- und Unterschicht sich während des Festes die Plätze wechselten. Karnevalstod ist eine endlose Wiederholung, Tautologie, die sich in ein Instrument des kollektiven Handelns verwandelt. Die Bedingung für die Teilnahme an dieser Aktion ist der Verlust der Stimmen von einzelnen Teilnehmern. Jeder von ihnen spricht mit der „Stimme“ und sagt dasselbe. So ergibt sich also das „Echo“, es beginnt die Magie des produktiven Wiederholens zu funktionieren, die sowohl die Struktur der traditionellen sakralen Texten reproduziert, als auch die kindische Anforderung („Mama kauf mir Eis!“ Mama kauf mir Eis! Mama kauf mir Eis!“)

In solchen Texten gibt es keine „lyrische Helden“ (in dem traditionellen „Sowjetischen“ Sinn des Wortes). Für das Nichterscheinen der Stimme vom Autor gibt es immer ein Zeichen, in diesem Fall- die letzte Zeile. Es ist die „Zone des Autors“, die Zone der Stille, das stockende Licht der blinkenden Glühbirne. Leben und Tod, Pause und das Wort sind strukturell austauschbar, sie ersetzen sich gegenseitig. Das Tote schreit, das Lebende ist stumm. Oder umgekehrt- je nach Betrachtungswinkel. Dies ist ein Spiel, aber das Spiel ohne Unterbrechung in dem Maße, dass sein Stoppen äquivalent einer universellen Tragödie wäre. Rund um die Person von Genrich Sapgir schwärmten Witze.

Im Mittelpunkt der meisten Texte von ihm steht wirklich eine Anekdote, eine lustige Rede oder ein Bild. Seine Gedichte sind „unterhaltsam“ inhaltlich, wie Sketche der unterhaltenden Humoristen. Sie verursachen aber kein Lachen sondern die Trauer. Die hohe romantische Ironie verstellt sich in den Gedichten als der tägliche Humor.

Genrich lebte und schrieb spielerisch, atemlos, fröhlich und sehr natürlich. Seine Beziehungen zur sowjetischen Wirklichkeit waren natürlich nicht strahlend, aber er schien selbst das Licht zu strahlen, dabei widerlegte er noch die gängige Meinung über den „Untergrund“-Schriftsteller, er sei düster, gallig, verarmt und in die Enge getrieben.

Genrich Sapgir konnte bis 1988 keine seiner „erwachsenen“ Texte in den sowjetischen literarisch-künstlerischen Zeitschriften veröffentlichen. Es blieb nur ein Weg: die Veröffentlichung in den sowjetischen nichtzensierten Verlagen oder aber in den ausländischen Zeitschriften, Almanachen und Anthologien. Es fing 1965 an. Überhaupt die Jahre 1975–79 waren die Zeit der aktivsten Teilnahme Sapgirs in den nichtzensierten und Tamizdataktionen.

Von großer Bedeutung ist auch die Freundschaft Sapgirs mit den Künstlern und seine Gedichte über die literarisch-künstlerischen Avantgarde: „Edinoborstvo“ („Zweikampf“), „Blošinnyj rynok“ („Flohmarkt“), „Luvr“ („Die Louvre“). „Sonety na rubaškach“ („ Die Sonetten auf den Hemden“ 1975–89) ist ein der berühmtesten und am meisten zitierten Bücher von Genrich Sapgir. Dieses Buch entstand auch aus der Freundschaft Sapgirs mit den Künstlern-Avantgardisten und aus den Teilnahmen in ihren Aktionen. Die ersten Sonette: „Telo“ („Das Körper“) und „Duch“ („Der Geist“)– gleichzeitig literarische Texte und künstlerische Objekte- zeichnete Genrich mit einem Filzstift auf den Hemden. Insgesamt wurden 80 Sonette geschrieben.

Die drei Bücher: „Černoviki Puškina“ („Rohentwürfe Puschkins“ 1985), „Tercichi Genricha Bufareva“ (1984, 1987) und „Ètjudy v manere Ogareva i Polonskogo“ (1987) sind die Spitze des literarischen Werks von Genrich Sapgir. In allen drei Büchern ist der starke dialogische Impuls spürbar, welcher sich wünschte den Klassiker und mit der Klassik zu spielen.

In dem Perestrojka-Periode wurde die Veröffentlichungssperre in den „dicken“ Zeitschriften abgeschafft und 1988 fand die erste heimatliche Veröffentlichung in der Zeitschrift „Novyj mir“ statt. Über Sapgir, nicht nur Kinder- sondern auch „Erwachsenendichter“, sprach das lesende Publikum zum ersten Mal. Mitte der 1990er Jahre besaß Genrich Sapgir die Stelle des Moskauer Patriarchen der literarischen Avantgarde. Er wurde breit veröffentlicht und publiziert und trat sehr viel auf. Die letzten Bücher von Sapgir kühlen mit der Vorahnung des Todes und erwärmen mit dem Begreifen der höchsten Harmonie des literarischen Schaffens.

„Taktile Gedichte“

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Für viele Kritiker gelten „Stichi s predmetami“ („Gedichte mit den Gegenständen“) aus dem Buch „Taktil'nye instrumenty“ („Taktile Instrumente“) als das wichtigste Werk von Genrich Sapgir.

Dies sind sozusagen Text-Aktionen (jedoch in den meisten Fällen im Wesentlichen unerfüllbare). Das Buch besteht aus zwei Teilen: „Predšestvie slovam“– die Atemstenogramme und auf sie gerichtetes Gehör; „Stihi s predmetami“- die Gedichte zum Anfassen, technische Dokumentation der nicht existierenden Objekte, wie „Lebed'- litatel'nyj pribor, privodimyj v dviženie vdohnovenim“ („Ein Schwann- das fliegendes Gerät, das durch Inspiration zu Fliegen getrieben wird), „Bol'šaja mašina tišiny“ („Eine große Maschine der Stille“) oder „Šuršal'nik iz staryh gazet“ („Das Rauschengerät aus alten Zeitungen“).

Diese performativ-meditative Gedichte von Genrich Sapgir erinnern an die psychologischen meditativen Übungen, welche mit dem Ziel der Relaxation und des Stressabbaus verbunden sind. Solche Übungen kamen nach Westen aus den östlichen Kulturen (Joga). Sie werden meistens mit Hilfe der lebendigen Stimme oder der Audioaufnahme wahrgenommen, sie schlagen dem Hörer vor, Augen zu schließen und sich den Geruch einer halbierten Zitrone, das Rauschen der Brandung, den Duft von dem frisch gemähten Rasen, die Empfindung, die man beim tauchen ins Bad der beim Berühren der Rückseite seiner Hand an den Kord, Samt, Brokat, etc. vorzustellen.

Viele Gedichte dieses Zyklus sind zum Übergang vom Wörtlich-Gegenständlichem zum abstrakt Vorstellbaren in Form von visuellen, akustischen und wahrnehmbaren Bildern gerichtet.

Außerdem wird in den meditativen Übungen vorgeschlagen, sich auf einem Gegenstand, Körperteil oder einem Gedanke zu konzentrieren und so seine Spannung durch das bewusste Atmen und Konzentration der Aufmerksamkeit zu lösen.

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