Benutzer:Decius/Wikipedia ist im Bereich der Geistes- und Sozialwissenschaften gescheitert

Nach einigem Nachdenken bin ich zu dem Schluss gekommen, dass die Wikipedia im Bereich der Geistes- und Sozialwissenschaften mehr oder weniger gescheitert ist. Dies betrifft die Fachgebiete Geschichte, Literatur und Soziologie ebenso wie Theologie, Politikwissenschaften, Kunstgeschichte und Jura. Ein hartes Urteil für jemanden, der vor allem in diesen Bereichen mehr als fünf Jahre Beiträge in der WP geleistet hat. Ich will versuchen, meine Einschätzung ausführlich zu begründen:

Was bedeutet gescheitert?

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Es ist überhaupt nicht in Abrede zu stellen, dass die Wikipedia tausende gute Artikel mit geisteswissenschaftlicher Thematik enthält. Es gibt aber kaum ein größeres Teilgebiet der Geisteswissenschaften, über das diese Enzyklopädie zuverlässig informieren würde. Zwischen den einzelnen Artikeln zu einem Themenbereich gibt es häufig Widersprüche, Lemmata überschneiden sich vielfach, ohne dass sie aufeinander abgestimmt wären. Gute Artikel betreffen meist wenig umfangreiche Einzelaspekte, während Überblicksartikel oft verworren und unverständlich sind. Im Bereich Geschichte werden harte Fakten meist angemessen wiedergegeben, während ideengeschichtliche Einordnungsversuche nicht selten haarsträubender Unsinn sind oder ganz fehlen. Vielen Artikeln merkt man trotz allem Neutralitätsformalismus an, mit wie wenig Abstand die jeweiligen Autoren darüber geschrieben haben.

Ich beobachte bei der regelmäßigen Benutzung der WP, dass deren Umfang stetig zunimmt, während viele schon über Jahre existierende Artikel trotz aller Qualitätssicherungsbemühungen in einem schlechten Zustand verbleiben. Nicht wenige Artikel werden mit der Zeit nur länger, verworrener, widersprüchlicher, ja schier unlesbar, ungeachtet ihres Ausbaus vermögen sie den Leser aber auch nach vielem daran Herumbasteln nicht adäquat zu informieren. Als Benutzer habe ich nicht das Gefühl, dass die Zuverlässigkeit geistes- und sozialwissenschaftlicher Informationen in der WP sich in den vergangenen zwei, drei Jahren deutlich verbessert hätte. Und da ich die Arbeitsweise der Wikipedisten als Teilnehmer über Jahre kenne, habe ich auch kaum Hoffnung, dass sich das grundlegend ändern wird.

Beispiele

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1. Nehmen wir die Ägyptologie: Dem mutmaßlichen Hauptartikel Geschichte des Alten Ägypten kann man wenig mehr als ein paar Daten und Herrschernamen entnehmen, nichts jedoch zur ägyptischen Kultur, Gesellschaft und Staatswesen. Daneben gibt es eine Fülle von Unterartikeln, viele gute und ebenso viele schlechte. Der Leser hat große Schwierigkeiten, sich darin zurechtzufinden. Das Hauptaugenmerk der kaum eine Hand voll Wikipedisten, die sich um diesen Bereich kümmern, scheint auf der Anlage von Artikeln zu einzelnen Pyramiden und Herrscherbiographien zu liegen. An zentralen Artikeln wie Altägyptische Religion oder ägyptische Chronologie tut sich nicht viel. Sie sind in der vorliegenden Form kaum benutzbar. Bei den hunderten Artikeln zu diversen Teilaspekten gelingt es den wenigen Bearbeitern nicht, den Bereich der Ägyptologie halbwegs frei von Widersprüchen zu halten.

2. Literatur: Fast täglich werden ein halbes Dutzend neue Artikel zu einzelnen Werken oder Autoren verfasst, gute ebenso wie schlechte. Aber mehr als die Hälfte von Artikeln zu verschiedenen Nationalliteraturen sind lückenhaft, verworren, unlesbar. Auch die Beschreibung von Gattungen und Epochen ist oft nicht viel wert. Selbst zur ersten Orientierung taugt das, was in WP zur Literatur steht, nicht. Das hat sich in den drei Jahren, seit ich das ein bisschen beobachte, nicht verbessert, eher im Gegenteil, denn mit der Masse haben auch die Widersprüche zugenommen. Nach wie vor sollte man lieber ein traditionelles Literaturlexikon zu Rate ziehen. Artikel wie Russische Literatur und Griechische Literatur können stellvertretend für das Elend in diesem Fachbereich stehen.

3. Staatengeschichte: Nur ganz wenige Artikel zur Geschichte einzelner Staaten bieten dem Leser verständliche, strukturierte Information. Die Mängel sind zahlreich und durchaus unterschiedlich: Nicht selten sind die Artikel von Nationalisten beeinflusst. So werden z.B. bei den Landesgeschichten der Balkanstaaten noch immer Schlachten geschlagen, deren Pulverdampf in der realen Welt längst verraucht ist. Manche nationalgeschichtliche Artikel sind riesengroß und ein absurdes Sammelsurium aller möglicher Fakten, die die Wikipedisten hier und dort aufgeschnappt haben und für abschreibenswert hielten. Fast jede Landesgeschichte in der WP ist heute in Artikel zu einzelnen Epochen zergliedert. Die Epochengrenzen sind oft willkürlich gewählt. Um die Überblicksartikel wird sich nach der Teilung oft nicht mehr gekümmert. Sogar wortgleiche Parallelen sind häufig.

Und die Gründe?

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Es fehlt an kompetenten Mitarbeitern.

Mehrere Studien haben erwiesen, dass die WP mehr oder weniger von etwa 500 Freiwilligen, die Text liefern, gemacht wird. Dies sind Leute, die im Idealfall täglich für 2-3 Stunden vorbeischauen. Nicht viel Arbeitskraft für ein Lexikon, das angeblich alles wissen soll. Über die Jahre hat sich nun herausgestellt, dass die Beitragenden vor allem qualitativ höchst unterschiedlich verteilt sind. Platt ausgedrückt: 'ne Menge vernünftiger Botaniker und Physiker, viele Trottel in den Bereichen Geschichte, Politik und Religion. Warum ist das so? - Nun, zum einen Emotionen! Die naturwissenschaftlich interessierten Wikipedisten vermögen es im Großen und Ganzen, nüchtern über ihre Sachen zu schreiben und zweckorientiert über die Inhalte von Artikeln zu diskutieren. Die geisteswissenschaftlich interessierten Wikipedisten engagieren sich oft emotional für ihr spezielles Thema, sie wollen eine Botschaft verbreiten, sehen die WP als manipulierbaren Wahrheitsbestätiger (weil es hier so drin steht, stimmt es, also muss ich Meines hier reinschreiben, damit die Welt erkennt, dass es wahr ist) und anders als in Mathematik oder Chemie fühlt sich beinahe jeder, der auch nur einen PC anschalten kann, in der Lage, historische, theologische oder kunstgeschichtliche Beiträge zu leisten. Für das "Gedöns" braucht man ja keine Ausbildung, denken viele und kübeln frohgemut ihren Mist in die Artikel. Das dürfte viele kompetente Geistes- und Sozialwissenschaftler von der Mitarbeit abschrecken.

Darüber hinaus kann man die Verfasser von eigenen Artikeln mehr oder weniger in zwei Gruppen einteilen: Autoren und Kompilatoren. Letztere überwiegen. Sie generieren neue Lemmata vorzugsweise aus irgendwo im Netz vorgefundenen Inhalten, ohne darüber nachzudenken, ob der bloße Transfer gewisser Daten in die WP notwendig und sinnvoll ist. So entstanden und entstehen z. B. Dutzende Artikel über so genannte Titularbistümer, die nichts weiter als die Daten aus www.catholic-hierarchy.org enthalten. Und es stellt sich die Frage, warum man für dieses spezielle Thema nicht gleich das Original benutzen sollte? (Man wünschte sich, die Kompilatoren würden sich auf das Erstellen von Listen u.ä. beschränken!) Die weit selteneren Autoren mühen sich dagegen, Artikel aus mehreren voneinander unabhängigen seriösen Quellen zu erstellen und die gewonnenen Informationen eigenständig in einer sprachlich adäquaten Form zu präsentieren. Das kostet natürlich ungleich mehr Zeit. Und so wächst die Zahl brauchbarer Artikel vergleichsweise langsam, während der Datenmüll sich rasant vermehrt. Mit den Jahren dürfte das Verhältnis immer ungünstiger geworden sein. Bisher hat keine der zahlreichen Artikelverbesserungsaktionen diesen negativen Trend nachhaltig beeinflussen können, weil auch dafür geeignete und vor allem ausreichend beharrliche Mitarbeiter fehlen.

Nichts muss fertig werden.

Das WP-Prinzp, alles immer wieder verändern und bearbeiten zu können, verhindert, dass Autoren sich mit Blick auf den Abgabetermin mal ordentlich hinsetzen und einen runden Text produzieren. Vielmehr wird immer wieder an den Dingern herumgeschraubt, hier noch ein Absätzchen, da noch ein Schnipsel aus einem zufällig gefundenen Buch. Gerade bei philosophischen, theologischen oder historischen Fragestellungen kommt es darauf an, dass man das Problem durchdenkt, sich die einschlägige Literatur besorgt, das Gelesene einordnet und bewertet, um hernach einen verständlich argumentierenden Text zu verfassen. So etwas muss man in einer überschaubaren Zeit tun, wenn man die wesentlichen Dinge noch im Kopf hat. In der WP dagegen wird öfter abschnittsweise Wortmüll angehäuft.


Es gibt keine Redaktion

Jedes Projekt, an dem viele Autoren beteiligt sind, braucht eine Redaktion, die koordiniert und organisiert, Arbeiten verteilt und ihre korrekte Ausführung kontrolliert. Wichtig ist auch der effiziente Einsatz der Mitarbeiter. Zu den Aufgaben der Redaktion gehört ferner die Gewichtung der Themen und Beiträge, Vermeiden von Wiederholungen und das Aufdecken von Widersprüchen durch Überprüfung der Beiträge. Das Letztgenannte ist vor allem im Bereich Geisteswissenschaften gleichermaßen schwierig wie notwendig. Gleichwohl existiert eine halbwegs funktionierende Organisation der WP nur im technischen Bereich. Was den Inhalt angeht, ist fehlende Struktur von Anfang an ein mehr oder weniger gewolltes Arbeitsprinzip gewesen. Das hat zu Beginn zur schnellen Vermehrung der Artikel beigetragen, verhindert aber nun schon seit Jahren eine vernünftige Organisation des Vorhandenen und ebenso den sinnvollen Einsatz der freiwilligen Mitarbeiter.