Das Gağan-Fest ist eine jahrhundertealte volkstümliche Tradition in der Region Dersim (Türkei), die ihren Auftakt alljährlich am 22. Dezember hat, jenem ersten Tag im Jahr, an dem die Tage wieder länger werden.

Im Armenischen und auch in einigen kaukasischen Sprachen hat das Wort Gağan entsprechend auch die Bedeutung dieses Wandels, der Wiedergeburt des Lichts und der damit beginnenden Erneuerung in der Natur. In der Gağan-Tradition von Dersim weisen verschiedene Bräuche auf den Zusammenhang dieser Erneuerung hin, in den Bräuchen des Gağan-Festes, das sich über etwa vier Wochen, von der dritten Dezemberwoche bis zum Ende des Monats Januar erstreckt, geht es jedoch auch darum, die Beziehungswirklichkeit der Menschen auf ein gutes Miteinander auszurichten.

Das Gağan-Fest gilt den Menschen aus Dersim in diesem Sinne auch als ein Fest der Liebe, der Besinnung und der Versöhnung. Es geht darum, sich im Rahmen des Gağan-Festes einerseits in ein nachdenkliches Verhältnis zu den jeweils eigenen Handlungen zu begeben und sich andererseits durch die überlieferten Bräuche der Bedeutsamkeit guter Taten, der Solidarität, der gegenseitigen Hilfe und des Respekts gegenüber anderen zu besinnen. Das heißt, es geht darum sich durch überlieferte regionale Bräuche auf universale menschliche Werte zu besinnen, denn Respekt vor anderen Menschen, gegenseitige Hilfe und Solidarität sind Werte, die an allen Orten für das soziale Leben von Menschen von grundlegender Bedeutung sind.

Im Rahmes des Gağan-Festes geht es also nicht nur darum sich im Kreislauf des natürlichen Jahreszyklus auf ein neues Jahr vorzubereiten, sondern es geht vor allem auch darum, sich durch die überlieferten Bräuche ein Bewusstsein für den sozialen und kulturellen Beitrag jedes einzelnen Menschen für das friedvolle und gute Zusammenleben miteinander zu eröffnen. Es geht also um ein Miteinander in dem gegenseitiges Verständnis und Vertrauen kultiviert und aufrechterhalten werden kann, aber es geht, wie man sich im Hinblick auf die mit dem Gağan-Fest in Dersim beginnende Jahreszeit, wo in der Natur nichts wächst, wo kein Acker mehr bepflanzt werden kann, vor Augen führen kann, auch darum in dieser schwierigen Zeit des Winters den Geist der Hilfe, „Hızır“, ankommen zu lassen. (Der Name „Hızır“ bezeichnet das Phänomen oder die Erscheinungsform in der etwa durch einen anderen Menschen Hilfe bei jemandem ankommt, der in schwierigen Zeiten oder einer schwierigen Situation Hilfe benötigt, so dass sich durch „Hızır“ das Leben der Menschen verbindend erhält.) Auch diesen Gesichtspunkt der Einheit von Mensch, Natur und spiritueller Gemeinschaft gilt es im Rahmen des alljährlichen Gağan-Festes immer wieder zu erneuern.

Das Gağan-Fest wird jedes Jahr durch dasselbe Ritual eingeleitet, es beginnt mit einem dreitägigen Fasten, das am 22., 23. und 24. Dezember durchgeführt wird. Der Sinn dieses Fastens besteht einerseits darin, sich durch den vorübergehenden Verzicht eine Erfahrung von der Kargheit und der Erschwernis der kommenden Wintermonate, in denen die Natur kaum etwas gibt, zu verschaffen, um sich wiederum von dieser Erfahrung her ein Bewusstsein von der sozialen Abhängigkeit des Menschen und der Notwendigkeit gegenseitiger Hilfe zu bilden. Die in Dersim überlieferten Bräuche des Gağan-Festes zielen auf diese Weise darauf ab, Natur und Mensch durch die solidarische Gemeinschaft auf eine Glückende, eine Schutz und Bewahrung, Zuversicht und Freude stiftende Weise zu vermitteln.

In diesem Sinne beginnt am 25. Dezember nach den Fastentagen der zweite Festabschnitt damit, dass die Kinder bereits sehr früh am Morgen aufstehen und ihre schönste Kleidung anziehen, denn sie werden an diesem Tag in der Nachbarschaft von Tür zu Tür gehen, Lieder singen (wie etwa “Euer Gağan soll gesegnet sein”) und Süßigkeiten erhalten, Mandeln, Walnüsse, Rosinen oder auch getrocknete Früchte. Es können auch Geschenke wie Mehl oder Butter oder etwas anderes, das im Haus vorrätig ist, verteilt werden. In manchen Häusern wird für die Mädchen sogar zuvor Schmuck hergestellt und ihnen an der Tür überreicht.

Der Abend des 25. Dezember ist den Jugendlichen gewidmet. Sie übernehmen nun die Initiative. Es steht ihnen frei, das Haus zu besuchen, das sie gerne besuchen wollen. Dort werden sie an diesem Abend als besondere Gäste empfangen und genießen auch besondere Rechte. Sie können zum Beispiel darüber entscheiden, was gekocht und zubereitet wird. Der Gast wird durch dieses Vorrecht geehrt. Bis in die Nacht hinein wird in diesen Häusern gefeiert. Es werden verschiedene Spiele gespielt und weitere Geschenke gemacht. Ziel dieser Feier ist unter anderem auch, dass die von den Jugendlichen gesammelten Geschenke wiederum an Kinder weitergereicht werden.

Besucht werden in diesen Tagen insbesondere auch Schwestern und Tanten. Je nach Haushaltsbedarf erhalten sie von ihren Familien Geschenke. Diese können in Sach- oder auch Geldform gegeben werden. Es geht dabei darum ihnen Anerkennung für das all zu geben, was sie das gesamte Jahr über für die Familien leisten. Falls es Konflikte in der Nachbarschaft gegeben hat, bietet die Zeit des Gağan-Festes eine gute Gelegenheit, sie friedlich zu lösen. Gağan ist aber auch ein Anlass den Verstorbenen zu gedenken. Mit heiligem Brot besucht man in dieser Zeit beispielsweise Friedhöfe und verteilt dort das mitgebrachte Gebäck unter den Besuchern. Zum einen wird mit diesem Ritual an die eigene Sterblichkeit erinnert, zum anderen geht es darum die Erinnerung an die Ahnen aufrecht zu erhalten. Das Teilen des Gebäcks ist ein Zeichen dafür, dass man das Leben miteinander teilen will.

Ein weiterer Brauch der während der Gağan-Zeit in die Richtung eines miteinander geteilten Lebens weist, ist die Zubereitung der Speise „Hedik”, die aus gekochtem Weizen besteht. Diese Speise wird nicht nur unter den Menschen verteilt, sondern traditioneller Weise auch dem Vieh im Stall zu essen gegeben. Eine Handvoll „Hedik“ wird zudem in symbolischer Weise in die Ställe und auch auf den Acker gestreut. Dieser Brauch soll dem Haus die Fortpflanzung der Tiere sichern, sowie eine gute Ernte bringen.

Zu Gağan werden in diesem Sinne auch Häuser und Ställe mit Wasser geweiht. Diese Weihung, die in Form des Besprenkelns der Räume mit Wasser stattfindet, kann sich von Ort zu Ort jedoch unterscheiden. Es gibt Orte, wo es beispielsweise Brauch ist, dass noch vor dem Sonnenaufgang Frauen einen Brunnen oder eine fließende Quelle aufsuchen, um in dem Ritual Wasser für diese Weihen zu schöpfen. Beim Wasserschöpfen werfen sie mitgebrachte Getreidearten als Symbol für die Reinheit der Natur, deren Heilkraft und Bewahrung in die Quelle. Da die Menschen in Dersim ein starkes Bewusstsein von der lebensspendenden Kraft des aus den Quellen geschöpften Wassers haben, werden damit die zuvor gereinigten Häuser und die Ställe des Viehs rituell geweiht. Es gibt Orte in Dersim, da wird geweihtes Wasser auch durch die Schornsteine in die Häuser gesprenkelt. Die Person, die dieses Ritual durchführt, spricht, während sie das Wasser im Kamin verteilt, ein spezielles Gebet, dass die Wünsche der Bewohner des Hauses erfüllen, ihnen Wohlbefinden und Gesundheit bringen soll.

Ein weiterer sehr wichtiger Brauch während der Gağan-Wochen besteht darin, dass die Bewohner der Dörfer in Dersim an jedem Donnerstag zusammenkommen, um bestimmte Orte aufzusuchen, wo die religiöse oder spirituelle Zeremonie des “Cem” durchgeführt wird. Zu diesem Anlass wird ein geweihtes Brot gebacken, das “Lokma”, das von den einzelnen Häusern zur Cem-Zeremonie mitgebracht wird. Am Ort der Zeremonie werden Kerzen angezündet. Es werden bestimmte Lieder gespielt, gesungen, getanzt, Gebete gesprochen, Missstände beigelegt und schließlich wird das Brot untereinander verteilt und gemeinsam gegessen.

In all diesen Bräuchen und Ritualen kommen die zentralen Grundwerte des Gağan-Festes zum Ausdruck. In ihnen soll der solidarische Umgang geübt und gestärkt werden. Kindern sollen diese Bräuche und Traditionen mit auf ihren Weg gegeben werden, was nur gelingen kann, wenn sie durch diejenigen, die sie bereits empfangen haben, weitergegeben werden, etwa wie ein gelingendes Miteinander und Teilen in Werte fragen zu leben wäre.

Für viele Mitglieder der alevitischen Gemeinde ist es sehr wichtig, dass die Vielfalt ihrer Traditionen auch in der Diaspora erhalten bleiben und an die nachfolgenden Generationen weitergegeben werden. Deshalb sind viele alevitische Feste in den Gemeinden bekannt und werden gelebt. Jedoch kaum bekannt ist das Gağan-Fest, was angesichts der angedeuteten Bedeutung überrascht. Für Familien, die aus der Region Dersim stammen, ist es daher schwierig einen Weg zu finden, diese Traditionen aus ihrem Heimatland zu erhalten, obwohl das Gağan-Fest, wie angedeutet, im Hinblick auf das, was es in seiner regionalen Gestalt in die Beziehungswirklichkeit der Menschen ruft, doch zweifellos universelle soziale Werte kultiviert.