Falk M.
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Wer schreibt die Wikipedia?
Aaron Swartz
Übersetzung von Who Writes Wikipedia?, einem Artikel von Aaron Swartz, Wikimedia-Kuratorium-Kandidat.
Quelle: Avatar (Typographische Überarbeitung von mir — Falk Palaver … 17:02, 30. Jun. 2009 (CEST))
Ich habe Jimbo Wales – das Gesicht der Wikipedia – zum ersten Mal getroffen, als er eine Rede in Stanford hielt. Wales erzählte über die Geschichte der Wikipedia, die Technologie und Kultur - aber eine Sache stach aus seiner Rede heraus: »Viele Menschen gehen davon aus,« berichtete er, »dass die Wikipedia ein emergentes Phänomen darstellt – die Weisheit des Mobs, Schwarmintelligenz, diese Art von Dingen – tausende und abertausende individueller Benutzer fügen jeweils ein wenig Inhalt hinzu und auf diese Weise entsteht ein zusammenhängender erarbeiteter Text.«[Ref.] Aber dann behauptete er nachdrücklich, dass die Wahrheit im Gegenteil anders aussieht: Die Wikipedia wurde eigentlich von einer »Gemeinschaft […] einer engagierten Gruppe von einigen hundert Freiwilligen« geschrieben, von denen »ich alle kenne und sich alle untereinander kennen«. Tatsächlich: »Es ist ziemlich ähnlich zu traditionellen Institutionen.«
Der Unterschied ist natürlich entscheidend. Nicht nur für die Öffentlichkeit, die wissen möchte, auf welche Weise so ein gewaltiges Projekt wie die Wikipedia tatsächlich geschrieben wird, sondern auch für Wales, der wissen möchte, wie das Projekt geführt werden soll. »Für mich ist dies wirklich wichtig, da ich eine Menge Zeit aufwende um diesen vier- oder fünfhundert Menschen zuzuhören und wenn […] diese Personen nur ein Haufen Leute sind, die vor sich hinreden […] vielleicht kann ich sie dann einfach ignorieren, wenn Regeln festgelegt werden« und sich stattdessen um »die Millionen Menschen, die jeder einen Satz schreiben« kümmern.
Hat also diese Gruppe von 500 Personen tatsächlich die Wikipedia geschrieben? Wales entschied sich, eine einfache Studie durchzuführen um dies herauszufinden: Er zählte, wer die meisten Bearbeitungen durchgeführt hat. »Ich erwartete soetwas wie eine 80/20-Regel zu finden: 80% der Arbeit wird von 20% der Benutzer durchgeführt, eben weil dies oftmals vermutet wurde. Aber es ist in Wirklichkeit viel viel knapper: Es stellte sich heraus, dass über 50% aller Bearbeitungen von nur 0,7% der Benutzer durchgeführt werden […] 524 Personen. […] Und tatsächlich haben die 2% der aktivsten Benutzer, das sind 1400 Personen, 73,4% aller Bearbeitungen durchgeführt.« Die übrigen 25% der Bearbeitungen, berichtete er, waren von »Personen, die […] eine kleine Änderung eines Faktes oder eine kleine Rechtschreibkorrektur […] oder etwas ähnliches […] beigetragen haben.«
Stanford war nicht der einzige Ort, wo er dies behauptet hat; die Aussage ist Teil seiner Standard-Rede, die er auf der ganzen Welt hält. »Dies ist die Gruppe um tausend Leute herum, die wirklich wichtig sind«, erzählte er uns in Stanford. »Da ist diese enge Gemeinschaft die tatsächlich den Großteil von allen Bearbeitungen durchführt«, erklärte er am Oxford Internet Institute. »Es ist eine Gruppe von etwa tausend bis zweitausend Personen,« informierte er das Publikum auf der GEL 2005. Das sind nur drei Reden, die ich gesehen habe, aber Wales hat noch hunderte vergleichbare gehalten.
In Stanford waren die Studenten skeptisch. Wales zählte nur die Anzahl der Bearbeitungen – die Anzahl der Änderungen, die ein Nutzer durchgeführt und dann abgespeichert hat. Würde es nicht einen Unterschied machen, wenn er die Textmenge gezählt hätte, die jeder Benutzer beigetragen hat? Wales sagte, dass er dies für »die nächste Neubearbeitung« geplant hätte, aber er war sicher, dass »meine Ergebnisse sogar noch stärker werden«, da er nicht länger Vandalismus und andere Änderungen, die später wieder entfernt wurden berücksichtigen müsse.
Wales präsentierte diese Behauptungen beruhigend. Macht euch keine Sorgen, erzählt er der Welt, Wikipedia ist nicht so schockierend, wie ihr denkt. Tatsächlich ist es wie bei jedem anderen Projekt: Eine kleine Gruppe von Kollegen arbeitet zusammen auf ein gemeinsames Ziel hin. Aber wenn man ein wenig darüber nachdenkt, ist eigentlich Wales' Sicht der Dinge viel schockierender: Ungefähr tausend Menschen haben die weltgrößte Enzyklopädie in vier Jahren kostenlos erstellt? Kann das wirklich wahr sein?
Neugierig und skeptisch geworden, beschloss ich selbst nachzuforschen. Ich wählte einen zufälligen Artikel (Alan Alda), um zu sehen, wie er geschrieben wurde. Heute ist der Eintrag Alan Alda ein ziemlich typischer Wikipedia-Artikel: Er enthält einige Fotos, einige Seiten Fakten und Hintergründe, und eine Handvoll Links. Aber als er angelegt wurde, bestand er nur aus zwei Sätzen: “Alan Alda is a male actor most famous for his role of Hawkeye Pierce in the television series MASH. Or recent work, he plays sensitive male characters in drama movies.” (»Alan Alda ist ein Schauspieler, der vor allem für seine Rolle als Hawkeye Pierce in der Fernsehserie MASH berühmt ist. In neueren Werken spielt er sensible männliche Charaktere in Spielfilmen.«) Wie hat er sich davon ausgehend zum jetzigen Stand entwickelt?
Bearbeitung für Bearbeitung sah ich mir an, wie die Seite sich entwickelte. Die Änderungen, die ich sah, fielen hauptsächlich in drei Gruppen. Eine kleine Handvoll - vielleicht etwas 5 aus fast 400 - waren „Vandalismus“: Änderungen von verwirrten oder böswilligen Menschen, die etwas unpassend hinzufügten, gefolgt von jemand anderen, der ihre Bearbeitungen wieder rückgängig machte. Die bei weitem große Mehrheit waren kleine Änderungen: Menschen die Rechtschreibfehler korrigieren, formatieren, Links und Kategorien bearbeiten und so etwas. Diese machen den Artikel ein wenig schöner, aber fügen nicht viel Substanz bei. Und schließlich ein viel kleinerer Teil wirklich neuer Hinzufügungen: Einige Sätze oder sogar Absätze aus neuen Informationen wurden zur Seite hinzugefügt.
Wales scheint anzunehmen, dass die große Mehrheit der Benutzer nur die beiden erstgenannten Bearbeitungen (Vandalismus oder Hinzufügen kleiner Verbesserungen) durchführt, während die Kerngruppe der Wikipedia den eigentlichen Hauptteil der Artikel schreibt. Aber das ist keinesfalls das, was ich herausgefunden habe. Nahezu jedes Mal, wenn ich eine substanzielle Bearbeitung sah, stellte ich fest, dass der Benutzer, der sie beigetragen hatte, kein aktiver Wikipedia-Benutzer war. In der Regel hatten sie weniger als 50 Bearbeitungen (typischerweise um die 10) durchgeführt, üblicherweise auf verwandten Seiten. Die meisten machten sich nicht mal die Mühe einen Account zu erstellen.
Um die Untersuchung etwas formaler durchzuführen, kaufte ich ein wenig Rechenzeit auf einem Computer-Cluster und lud mir eine Kopie des Wikipedia-Archivs herunter. Ich schrieb ein kleines Programm, welches jede Bearbeitung betrachtet und zählt, wieviel von ihr in der aktuellsten Version des Artikels übrig blieb.[Ref.] Anstatt Bearbeitungen zu zählen, wie Wales es tat, zählte ich die Anzahl der Buchstaben, die ein Nutzer tatsächlich zum derzeitigen Artikel beigetragen hat.
Wenn man nur Bearbeitungen zählt, scheinen die größten Beitragenden zum Alan-Alda-Artikel (7 aus den Top 10) angemeldete Benutzer zu sein, die (alle bis auf 2) mehr als tausend Bearbeitungen zur Wikipedia beigetragen haben. Tatsächlich hat Nr.4 über 7000 Bearbeitungen, während Nr.7 über 25000 Bearbeitungen hat. In anderen Worten, mit der Methode von Wales erhält man die Ergebnisse von Wales: der meiste Inhalt scheint von hochaktiven Bearbeitern zu kommen.
Aber wenn man Buchstaben zählt, ändert sich das Bild dramatisch: wenige der Beitragenden (2 aus den Top 10) sind überhaupt registriert und die meisten (6 aus den Top 10) haben weniger als 25 Bearbeitungen zur Wikipedia beigesteuert. Vielmehr hat Nr.9 genau eine Bearbeitung durchgeführt – diese! Mit der sinnvolleren Untersuchungsmethode – genau derjenigen, vor der Wales selbst gesagt hat, dass er sie in der nächsten Bearbeitung seiner Studie durchführen will – ändert sich das Ergebnis komplett in sein Gegenteil.
Ich habe nicht die Ressourcen, um diese Berechnung über die gesamte Wikipedia laufen zu lassen (es existieren mehr als 60 Milliarden [sic] Bearbeitungen!), aber ich habe sie an verschiedenen anderen zufällig ausgewählten Artikeln durchgeführt und die Ergebnisse waren ziemlich die gleichen. Zum Beispiel wurde der größte Teil des Anaconda-Artikels von einem Benutzer geschrieben, der nur zwei Bearbeitungen an ihm durchgeführt hat (und nur 100 in der gesamten Wikipedia). Im Gegensatz dazu wurden die größte Anzahl Bearbeitungen durch einen Benutzer durchgeführt, der anscheinend keinen Text zum endgültigen Artikel beigetragen hat (die Bearbeitungen bestanden alle aus Löschungen und Verschiebungen).
Fügt man alles zusammen, wird der Ablauf klar: Ein Außenseiter führt eine Bearbeitung durch, um einen Informations-Brocken hinzuzufügen, dann führen Insider mehrere Bearbeitungen durch um ihn aufzubereiten und zu reformatieren. Zusätzlich häufen Insider tausende Bearbeitungen an, indem sie Sachen wie eine Kategorie-Namensänderung über die ganze Wikipedia durchführen – die Art von Dingen, die nur Insider wirklich kümmert. Als Ergebnis verbuchen die Insider die große Mehrheit der Bearbeitungen. Aber es sind die Außenseiter, die nahezu sämtliche Inhalte liefern.
Und wenn man darüber nachdenkt, ergibt das vollkommen Sinn. Eine Enzyklopädie zu schreiben ist schwer. Um irgendwie wenigstens eine anständige Arbeit abzuliefern, ist es nötig, eine große Menge Informationen über eine unglaublich breite Auswahl von Themen zu wissen. Das Schreiben von soviel Text ist schwierig, aber das Durchführen der ganzen Hintergrund-Recherche scheint unmöglich.
Auf der anderen Seite hat jeder aus dem einen oder anderen Grund einen Haufen obskurer Dinge, die er gut kennt. Also teilt man diese, indem man auf den Bearbeiten-Link klickt und einen Absatz oder zwei zur Wikipedia hinzufügt. Gleichzeitig involviert sich eine kleine Anzahl von Personen besonders in der Wikipedia selber, indem sie ihre Regeln und spezielle Syntax lernt und ihre Zeit damit verbringt, die Beiträge aller anderen aufzubereiten.
Andere Enzyklopädien funktionieren ähnlich, nur in einem viel kleineren Maßstab: Eine große Gruppe von Personen schreibt Artikel über Themen, die sie gut kennen, während eine kleine Belegschaft diese in ein einzelnes Werk formatiert. Diese zweite Gruppe ist eindeutig sehr wichtig – ihnen ist es zu danken, dass Enzyklopädien in Aussehen und Diktion konsistent sind – aber es ist eine heftige Übertreibung zu behaupten, dass diese die Enzyklopädie geschrieben hätten. Es ist anzunehmen, dass die Menschen hinter der Britannica ihre Artikelschreiber wichtiger nehmen als ihre Formatierer.
Und Wikipedia sollte das ebenfalls tun. Selbst wenn alle Formatierer morgen das Projekt verlassen würden, wäre die Wikipedia immer noch immens nützlich. Zum größten Teil lesen Menschen die Wikipedia, da diese die Informationen enthält, die sie benötigen und nicht weil sie einen konsistenten Look hat. Sicherlich wäre sie ohne diesen nicht so schön, aber Menschen denen das wichtig ist (wie mir) würden vermutlich dazu übergehen diejenigen zu ersetzen, die das Projekt verlassen haben. Die Formatierer helfen den Beitragenden, nicht anders herum.
Dennoch hat Wales in einer Hinsicht Recht. Dieser Punkt hat enorme Auswirkungen auf die Regeln. Wenn Wikipedia von gelegentlichen Beitragenden geschrieben wird, dann ist es für das weitere Wachstum nötig, ein gelegentliches Beitragen einfacher und lohnenswerter zu gestalten. Anstatt zu versuchen, mehr Arbeit aus denen herauszuquetschen, die ihr Leben in der Wikipedia verbringen, müssen wir die Basis um diejenigen erweitern, die nur ein klein wenig beitragen.
Unglücklicherweise werden deren Meinungen, gerade weil solche Personen nur gelegentliche Beitragende sind, nicht im derzeitigen Wikipedia-Prozess berücksichtigt. Sie werden nicht in Regel-Debatten einbezogen, sie gehen nicht zu Treffen und sie hängen nicht mit Jimbo Wales rum. Und so werden Dinge, die hilfreich für sie sein könnten auf Eis gelegt, wenn sie denn überhaupt vorgeschlagen werden.
Aus den Augen ist aus dem Sinn – so ist es ein kurzer Sprung zu denken, dass diese unsichtbaren Personen nicht sonderlich wichtig sind. Aus diesem Grund glaubt Wales, dass 500 Personen eine halbe Enzyklopädie geschrieben haben. Aus diesem Grund ist seine Annahme, dass Außenseiter vor allem Vandalismus und Nonsens beitragen. Und aus diesem Grund die Kommentare die man manchmal hört, es sei vielleicht ein gute Idee, die Bearbeitung der Wikipedia zu erschweren.
»Ich bin kein Wiki-Mensch, der zufällig dazu kam, sich mit Enzyklopädien zu beschäftigen,« sagte Wales zum Publikum in Oxford. »Ich bin ein Enzyklopädie-Mensch, der zufällig dazu kam, ein Wiki zu nutzen.« So ist seine Annahme, dass die Wikipedia auf herkömmliche Weise geschrieben wurde, vielleicht nicht überraschend. Unglücklicherweise ist sie gefährlich. Wenn die Wikipedia diesen Weg, sich auf Kosten des Wikis auf die Enzyklopädie zu fokussieren, weiter verfolgt, wird sie vielleicht am Ende wenig von Beidem sein.