Grummelshausen
Vorwort
Die Aufsätze dieses Bandes verdanken ihre Entstehung meinem Versuch, das Jesusbild, wie es in Wikipedia gepflegt wird, in einigen entscheidenden Punkten zu korrigieren. Da waren jedoch einige Gralshüter vor, eine verschworene Clique von Klerikern und christlichen Apologeten, die es sich in der – sagen wir einmal – „Jesus-Ecke“ von Wikipedia zur Aufgabe gemacht haben, unter allen Umständen zu verhindern, dass irgendwelche Beiträge ihr kirchliches Jesus-Bild ernstlich beschädigen könnten. Nahezu alle meine vorgeschlagenen Beiträge wurden mit dem Argument abgeschmettert, sie seien von der „einschlägigen Fachwissenschaft“ nicht bestätigt, nur „allgemeines, breit anerkanntes Wissen“ finde Eingang bei Wikipedia. Welcher Art die „einschlägigen“ Fachwissenschaftler sind und aus welchen Quellen die Jesus-Wikipedianer ihr „allgemeines, breit anerkanntes Wissen“ beziehen, wird aus einem Diskussionsbeitrag eines Jesus-Wikipedianers deutlich: „Die Auffassung [Hartmut] Stegemanns [Jesus sei Mitglied in der Jüngergruppe um Johannes den Täufer gewesen] ist wohl nicht abwegig, aber auch nicht die einzig gültige. Mit der Umformulierung scheint mir das okay, ich habe es gesichtet. Der aktuelle Mainstream ist bei Jörg Frey: Nazaräer. In: Religion in Geschichte und Gegenwart Bd. 6. 2003, Sp. 160, und Rainer Riesner: Nazareth. In: Evangelisches Lexikon für Theologie und Gemeinde, Bd. 3, 2024, Sp. 889 f, zu finden.“[1] – Jörg Frey ist Theologieprofessor für Neues Testament an der Universität Zürich, Rainer Riesner ist ein deutscher Theologe und emeritierter Hochschullehrer, der Neues Testament am Institut für Evangelische Theologie der Technischen Universität Dortmund lehrte. D. h. das „allgemeine, breit anerkannte Wissen“ über den historischen Jesus stammt ausschließlich von bestallten Theologen und damit aus der kirchlichen Ecke. Die Aufgabe der vom Staat bezahlten Theologen an den Universitäten ist schon lange nicht mehr, nach der Wahrheit zu forschen, wie das Albert Schweitzer noch anfangs des 20. Jahrhunderts als selbstverständlich vorausgesetzt hat. Ihr Auftraggeber ist nicht der Staat, auch wenn dieser sie bezahlt, sondern ihre Kirche und diese gilt es zu schützen, so abzuschirmen, dass sie auch noch weitere 2000 Jahre und länger Bestand hat. Die Mehrzahl der Theologen an den Universitäten betrachtet es doch eher als ihre Aufgabe, dort, wo Forschungsergebnisse ihren Kirchen vermeintlich „gefährlich“ werden könnten oder werden, solche Forschungsergebnisse schlicht und einfach zu ignorieren bzw. totzuschweigen oder – wo das nicht geht – in Zweifel zu ziehen, in Misskredit zu bringen oder ihre Urheber zu diskreditieren. Der Standpunkt eines Theologie-Professors wurde schon 1964 präzise auf den Punkt gebracht: „Die Wahrheit der Schrift ist […] nicht die Richtigkeit ihrer Angaben über historische Fakten und Daten. Sie besteht nicht darin, dass alles so passiert ist, wie es dasteht. Das setzte ja voraus, dass sie geschrieben wäre, dem Menschen […] den vorgestellten Faktenverlauf zu garantieren und ihn dadurch selig zu machen, dass er über ein Bild der Vorgänge verfügt, das mit der Geschichte als Passiertem übereinstimmt (Heinrich Schlier, Rudolf Bultmann, dem Achtzigjährigen, in: Besinnung auf das Neue Testament, 1964, S. 53).“[2]
Da die Jesus-Wikipedianer ausschließlich solche Gewährsleute gelten lassen, ist klar, dass Ergebnisse der Jesus-Forschung, die außerhalb der Universitäten erzielt werden, von den Jesus-Wikipedianern konsequent ausgesperrt werden und das Jesusbild, das sie den Nutzerinnen und Nutzern der Wikipedia bieten, stets kirchenkonform ist. So geht es diesen Jesus-Wikipedianern, die ja in ihrer Mehrzahl selbst Kleriker und christliche Apologeten sind, letztlich nicht um Wissenschaft, sondern um Religion.
Welche Tendenzen gibt es heute unter den Theologen? Beliebt und nahezu unbestritten ist bei ihnen die Jesus-war-ein-Wanderprediger-These, welche auf den Evangelisten des Matthäusevangeliums zurückgeht. Danach habe Jesus eine neue Ethik vertreten und diese habe er – in Galiläa und Nordpalästina umherziehend – seinen Mitjuden gepredigt. Diese These ignoriert, dass der Matthäusevangelist der Schöpfer der sogenannten Bergpredigt ist, welche er in seinem Evangelium Jesus in den Mund gelegt hat.
Daneben ist unter einigen Theologen die Ansicht verbreitet, Jesus sei eine Art „Sponti“ gewesen, ein früher Hippie, der predigend mit seiner bunten Schar heiter und unbedarft durchs Judenland tingelte. Aber dann hätten ihn die bösen Dogmatiker in Jerusalem kalt erwischt und diesem naiven, aber gefährlichen Sonnyboy den Garaus gemacht. Diese Sichtweise findet sich – um Beispiele zu nennen – bei Ben-Chorin, Schalom: Bruder Jesus. Der Nazarener in jüdischer Sicht. München: List, 1967 und bei Linder, Leo G.: Das Unternehmen Jesus – Wahrheit und Wirklichkeit des frühen Christentums. Hannover: Fackelträger, 2009.
Besonders unter US-amerikanischen Theologen ist die Ansicht beliebt, Jesus sei eigentlich Zelot gewesen, der die Römer aus dem Heiligen Land vertreiben wollte; das hätten die Römer gemerkt und ihm übelgenommen und ihm deswegen den Prozess gemacht und ihn gekreuzigt (also eigentlich seien gar nicht die Juden schuld an Jesu „Tod“, sondern die bösen Römer). Diese Sichtweise findet sich beispielsweise bei Pagels, Elaine: The Origin of Satan, 1995, Crossan, J. D.: Who Killed Jesus?, 1995 und Aslan, Reza: Zealot, 2013.
Unter deutschen Theologen aber wird folgende Ansicht favorisiert: Da ja die Evangelien keine Biografien über Jesus sein wollten, könnten wir ihnen auch nichts Gesichertes über das Leben Jesu entnehmen. Aber andere Quellen über Jesus haben wir nicht, also kämen wir an den historischen Jesus nicht mehr heran. Er bleibe daher wohl für immer im Dunkel der Geschichte. Deshalb müssten wir uns an den christlichen Jesus Christus halten; weiteres Bemühen um den historischen Jesus sei so zwecklos und gebe jene, die trotzdem weiterforschten, der Lächerlichkeit preis. Diese Ansicht ist im Bereich der deutschen Theologie so beliebt und verbreitet, dass selbst kritische Autorinnen und Autoren wie Uta Ranke-Heinemann und Karlheinz Deschner[3] diesen Standpunkt vertreten haben.
Diese Haltung gilt inzwischen als Modus Vivendi unter der Theologenzunft. Er soll zum einen diese „lästige Nachforscherei“ von unverbesserlichen Querköpfen über das Leben Jesu endlich zum Erlöschen bringen und es zum anderen den linientreuen Theologen Deutschlands ermöglichen, auf dieser Grundlage ein warmes und sicheres theologisches Nest auszugestalten, in dem man sich dauerhaft und unangreifbar einhausen kann.
Einzelnachweise:
1. Seite: Diskussion:Nazarener (Religion), Abschnitt „Einfügung: Bedeutung ‚Nazoräer’“, Beitrag von Zweioeltanks (Diskussion) 17:47, 25. Feb. 2025 (CET)
2. Aus: Ranke-Heinemann, Uta: Nein und Amen. Anleitung zum Glaubenszweifel. Gütersloh: Bertelsmann Club GmbH, [1992], S. 122 f.
3. S. beispielsweise Deschner, Karlheinz: Der gefälschte Glaube. Eine kritische Betrachtung kirchlicher Lehren und ihrer historischen Hintergründe. München: Knesebeck & Schuler, 1988