Anzahl der Euthanasie-Opfer (Aktion T4)
Durch die Hartheimer Statistik ist die Opferzahl von rund 70.000 in der ersten Phase der Aktion T4 bekannt und unstrittig. In dieser Zahl enthalten sind wahrscheinlich auch Mordaktionen von Patienten aus psychiatrischen Anstalten in eingegliederten Ostgebieten enthalten (siehe Götz Aly: Endlösung, 3. Aufl. Frankfurt/M 2005, ISBN 3-596-14067-6, S. 288/298), nicht jedoch die des SS-Wachsturmbanns von Kurt Eimann und vom Sonderkommando Herbert Lange.
Übereinstimmend wird dargestellt, dass nach dem 24. August 1941 ("Euthanasiestopp") verdeckt Tötungen weiterliefen: Die "Kindereuthanasie" wurde fortgesetzt und ein "Hungersterben" von Erwachsenen in einzelnen Heil- und Pflegeanstalten setzte ein.
- Klee gibt hohe Sterberaten und Indizien dafür an, dass im Jahr 1942 schätzungsweise noch 10.000 verbliebene "Euthanasiefälle" getötet wurden.(= Ernst Klee: ‚Euthanasie‘ im Dritten Reich, vollst. überarb. Neuausgabe Frankfurt/M. 2010, S. 419f)
- Klee referiert, dass auch für die weiteren Jahre - im Vergleich zu den Nachkriegsjahren - sehr hohe Sterberaten nachzuweisen sind; für manche Anstalten sind einige Daten bekannt.
- Eine Gesamtzahl - sei es der Versuch einer Berechnung oder ein grober Schätzwert - findet sich aber nicht in den von mir gesichteten Büchern von Aly, Klee und Friedlander ( Henry Friedlander: Der Weg zum NS-Genozid. von der Euthanasie zur Endlösung, Berlin 1997, ISBN 3-8270-0265-6).
Fraglich bleibt bei der Ermittlung von einer Gesamtzahl, wieweit man die Opfer der Aktion 14f13 einbeziehen kann: Die Kriterien der Selektion waren unklar und trafen nicht nur psychisch Kranke, sondern invalide/arbeitsunfähige KZ-Häftlinge und solche mit "kriminellem und asozialen Hintergrund" (Friedlander, S. 240). Zumindest in der "2. Phase" ab April 1944 war T4 daran weder mit der Selektion, noch bei der Tötung beteiligt. Klee berichtet ferner, dass im "Russlandfeldzug" für den Bedarf der Wehrmacht Anstalten freigemacht wurden, wobei Kommandos der Sicherheitspolizei und des SD alle Geisteskranken erschossen oder in Gaswagen ermordeten. Hierbei war eine Mitwirkung durch die T4-Organisation nicht gegeben. (Klee S. 444-449 / auch Friedlander S. 235-237)
125.000
Bearbeiten105.000 in Deutschland, 20.000 im Osten:
"Nach vorsichtigen Schätzungen sind durch sie insgesamt 125000 Menschen ermordet worden, darunter 5000 behinderte Kinder, 100000 Bewohner von Heil- und Pflegeanstalten und 20000 Anstaltsinsassen in den besetzten Gebieten Polens und der Sowjetunion." Susanne Benzler, Joachim Perels: Justiz und Staatsverbrechen - Über den juristischen Umgang mit der NS-'Euthanasie'. In: Hanno Loewy, Bettina Winter (Hrsg.): NS-'Euthanasie' vor Gericht. Frankfurt/New York 1996, ISBN 3-593-35442-X, S. 15
170.000
BearbeitenZahl bezieht sich allein auf Deutsche/Deutsches Reich:
"Genau das war eine der Ursachen für den sehr verhaltenen Widerstand gegen die sogenannte Euthanasie. Unter diesem beschönigenden Begriff ließ die Reichsregierung vom Januar 1940 an bis zum Sommer 1941 mehr als 70 000 körperlich und geistig behinderte arische Deutsche in Gaskammern ermordet. [...] In der zweiten Kriegshälfte ermordeten Ärzte und Krankenschwestern noch einmal mehr als 100 000 Deutsche in den psychatrischen Anstalten selbst, zumeist mittels überdosierter Beruhigungsmedikamente." Zitat aus Götz Aly: Warum die Deutschen? Warum die Juden?, 2011, Seite 273 [mitgeteilt von Benutzer Haimweh 11:42, 1. Aug. 2013 / nicht überprüft]
200.000
BearbeitenEine Zahl von 200.000 Opfern wird erstmals in einem Flugblatt der Royal Air Force vom 23. Juni 1941 (sic!) aufgeführt, das die Überschrift 200.000 'Unbrauchbare' trägt und mit der Information endet, die Zahl der Opfer sei inzwischen "auf mindestens 200.000 gestiegen." (Flugblatt abgedruckt in ISBN 3-926175-66-4)
Im Kontext des folgenden Weblinks bezieht sich die genannte Zahl 200.000 nicht ausschließlich auf das Euthanasie-Programm selbst, sondern umfasst zahlenmäßig ungenannte von SS/SD vorgenommene Erschießungen von Behinderten in Polen und der Sowjetunion sowie andere genannte Gruppen. Es fehlen nachvollziehbare Belege bzw. die Namen der Historiker, die diese Schätzung (wann/auf welcher Grundlage) vorgelegt haben.
- The "Euthanasia" Program continued until the last days of World War II, expanding to include an ever wider range of victims, including geriatric patients, bombing victims, and foreign forced laborers. Historians estimate that the "Euthanasia" Program, in all its phases, claimed the lives of 200,000 individuals. Persons with disabilities also fell victim to German violence in the German-occupied East. Although the Germans confined the "Euthanasia" Program, which began as a racial hygiene measure, to the Reich proper--that is, to Germany and to the annexed territories of Austria, Alsace-Lorraine, the Protectorate of Bohemia and Moravia, and the Warthegau in former Poland, the Nazi ideological conviction which designated these persons "life unworthy of life" made institutionalized patients targets of shooting actions in Poland and the Soviet Union. Here the killings of disabled patients were the work of SS and police forces, not of physicians, caretakers, and T4 administrators who implemented the "Euthanasia" Program itself.Holocaust Enzyklopädie des US Holocaust Museums / Artikel "Euthanasia Program" (Zugriff 26.Juli 2013)
Eine 1989 errichtete Gedenktafel in Berlin (T4 Gedenktafel Berlin.jpg / abgebildet im Lemma Aktion T4) enthält den Text: "Von 1939 bis 1945 wurden fast 200.000 wehrlose Menschen umgebracht. Ihr Leben wurde als "lebensunwert" bezeichnet, ihre Ermordung hieß "Euthanasie". Sie starben in den Gaskammern von Grafeneck, Brandenburg, Hartheim, Pirna, Bernburg und Hadamar, sie starben durch Exekutionskommandos, durch geplanten Hunger und Gift." - Auch bei der Nennung dieser Opferzahl werden Erschießungen erwähnt, deren Anzahl jedenfalls nicht unmittelbar der Aktion T4 zugeordnet werden können und deren Größenordnung unklar ist. Die Definition ist nicht eindeutig: Als "lebensunwert" wurden auch andernorts Zwangsarbeiter umgebracht, die mehrere Wochen "arbeitsunfähig" blieben. Psychisch erkrankte unter den mehr als vier Millionen Ostarbeitern wurden ermordet oder zurückgeschickt. In Hadamar wurden 1944 auch tuberkulosekranke Zwangsarbeiter ermordet, die vom Gauarbeitsamt eingewiesen worden waren. (Klee, S. 304) Laut Götz Aly (Die Belasteten, ISBN 978-3-10-000429-1, S. 298) sah der ursprüngliche, von ihm mitformulierte Text die Angabe „mehr als 200 000“ vor. Nach einer Initiative von Reinhard Rürup sei von Senator Volker Hassemer entschieden worden, den Text auf „fast 200 000“ zu ändern.
Christian Gerlach schreibt einen Abschnitt über Morde an psychisch und physisch Kranken in Weißrussland; daraus geht eine zahlenmäßig belegbare Dimension nicht hervor. (= Christian Gerlach: Kalkulierte Morde – Die deutsche Wirtschafts- und Vernichtungspolitik in Weißrußland 1941 bis 1944. Studienausgabe Hamburg 2000, ISBN 3-930908-63-8, Seite 1067-1074)
275.000
BearbeitenNürnberger Prozess, Urteil gegen Frick im Oktober 1946, Band XXII, Seite 622:
- "Während des Krieges unterstanden Frick Privatkliniken, Krankenhäuser und Irrenhäuser, in welchen der Gnadentod zur Anwendung kam, der an anderer Stelle dieses Urteil beschrieben ist. Es war ihm bekannt, daß geistig Defekte, Kranke und altersschwache Personen , "nutzlose Esser", systematisch umgebracht wurden. [...] In einem Bericht der tschechoslowakischen Kommission für Kriegsverbrechen wird geschätzt, daß 275000 geistes- und altersschwache Personen, für deren Wohl er verantwortlich war, den Morden zum Opfer fielen."
300.000
Bearbeitenaus: Deutscher Bundestag Drucksache 17/5493 vom 13. April 2011: Gedenkort für die Opfer der NS-"Euthanasie"-Morde. Zitat daraus:
- "...Mit Beginn des deutschen Angriffs auf die Sowjetunion im Juni 1941 wurden dort, wie in Polen 1939, Patienten systematisch ermordet. Schätzungen zufolge ergibt sich eine Gesamtzahl von bis zu 300 000 getöteten Menschen in ganz Europa, jedoch sind Forschung und daher Wissen insbesondere für den Osten lückenhaft."
Bei diesen Beiträgen und Links (sofern noch erreichbar) von Runder Tisch habe ich keinen Hinweis auf wissenschaftliche Literatur gefunden, die diese Schätzzahl weiter erläutert oder deren Rezeption darstellt.
Offenbar geht die Zahlenangabe von 300.000 auf Veröffentlichungen von Heinz Faulstich zurück.<ref> Zusammenfassend: Heinz Faulstich: ''Die Zahl der «Euthanasie»-Opfer.'' In: Andreas Frewer, Clemens Eickhoff (Hrsg.): ''„Euthanasie“ und die aktuelle Sterbehilfe-Debatte - Die historischen Hintergründe medizinischer Ethik.'' Frankfurt/Main 2000, ISBN 3-593-36639-8, S. 218-236 </ref>
- Faulstich addiert in einer Zusammenstellung die Opferzahlen von Sonderaktionen wie weiterlaufende "Kinder-Euthanasie" (5000 Opfer) Aktion 14f13 (20.000) Kommandos von Lange und Eimann (2800), nicht weiter erläuterte "Konfessionelle, private und andere Pflegeheime" (20.000) und "Österreich" (6000) sowie andere, zahlenmäßig eher unbedeutende Opfergruppen mit den 70.271 bekannten Opfern der Aktion T4 und kommt auf 129.000 Personen.
- Hinzu rechnet er mit weiteren 87.400 NS-Opfer durch Unterernährung, Mangelversorgung und Medikamentenmord im Reich, von denen er die Zahl 66.900 als "weitgehend gesichert" hält. Damit kommt Faulstich auf eine Zahl von 216.400.
- In Frankreich seien "die Bewohner psychiatrischer Einrichtungen vom Hunger hart betroffen" gewesen; Faulstich gibt (mit Verweis auf Lafont, 1987) eine Zahl von 40.000 Opfern an. Für Polen nennt er 20.000 (Polnische Ges. für Psychiatrie, 1993) und für UdSSR ebenfalls 20.000 (Ebbinghaus/Preissler 1985).
- Damit gelangt Faulstich beim derzeitigen Stand auf 296.000 Opfer; die endgültige Zahl würde zweifellos die Grenze von 300.000 überschreiten. (S. 228) An anderer Stelle räumt Faulstich ein, durch seine Untersuchungen zum "Hungersterben" sei es möglich geworden, "eine wahrscheinliche Zahl der Opfer zu nennen. Auch hierbei war ohne Schätzungen nicht auszukommen, so wie es überhaupt eine Utopie bleiben muß, jemals eine definitive Zahl der "Euthanasie"-Opfer benennen zu können." (Seite 219)
Faulstich geht bei der Ermittlung von NS-Opfern von den gegenüber Friedenszeiten höheren Sterblichkeitsraten der Anstalten aus, die er als Folge von "Unterernährung, Mangelversorgung und Medikamentenmord" deutet und - soweit Daten verfügbar sind - größtenteils berechnet, teils auch nur schätzen kann. Für das Jahr 1945 rechnet er dabei die Anstalts-Hunger-Toten des gesamten Jahres ein, da "die katastrophalen Zustände in der ersten Nachkriegszeit noch unmittelbar als Folge der nationalsozialistischen Vernichtungskrieges aufzufassen" seien. (S. 228) Unklar bleibt, ob der für Frankreich genannte Schätzwert sich nur auf den von Deutschen besetzten Teil bezieht.
Zur Historiografie
BearbeitenOffenbar hatte Gerhard Baader auf dem Berliner Gesundheitstag 1980 von einer Opferzahl zwischen 200.000 bis 300.000 gesprochen.<ref>Gerhard Baader; Ulrich Schultz (Hrsg.): ''Medizin und Nationalsozialismus - Tabuisierte Vergangenheit, ungebrochene Tradition?'' - Dokumentation des Gesundheitstages, Berlin 1980 ; Bd. 1, ISBN 3-922866-00-X <ref> Hans-Walter Schmuhl äußerte sich demgegenüber vorsichtiger und sprach 1987 von "mit Sicherheit über 100000".<ref>Hans-Walter Schmuhl: ''Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie. Von der Verhütung zur Vernichtung 'lebensunwerten Lebens' 1890-1945.'' Göttingen 1987</ref> Volker Roelcke sprach 1999 auf dem Weltkongress für Psychiatrie in Hamburg von 300.000 Opfern und löste damit eine Kontroverse aus. ...
Literatur
Bearbeiten- Frank Schneider (Hrsg): Psychiatrie im Nationalsozialismus - Erinnerung und Verantwortung, Berlin 2011, ISBN: 978-3-642-20468-5 Dort auf Seite 13 die Zahlenangabe "250000 bis 300000" unter Verweis auf Faulstich - ansonsten unergiebig
- Heinz Faulstich: Die Zahl der «Euthanasie»-Opfer. In: Andreas Frewer, Clemens Eickhoff (Hrsg.): „Euthanasie“ und die aktuelle Sterbehilfe-Debatte - Die historischen Hintergründe medizinischer Ethik. Frankfurt/Main 2000, ISBN 3-593-36639-8, S. 218-236
- Heinz Faulstich: Hungersterben in der Psychiatrie 1914-1949. Freiburg 1998, ISBN 3-7841-0987-X Rezension
- Medizin im Nationalsozialismus - Wege der Aufarbeitung ; überarbeitete Vorträge der internationalen Tagung im Psychiatrischen Krankenhaus der Stadt Wien Baumgartner Höhe, 5. bis 7. November 1998 / Wiener Gespräche zur Sozialgeschichte der Medizin. Hrsg. von Sonia Horn und Peter Malina (nicht eingesehen)
- Gerhard Baader, Ulrich Schultz (Hrsg.): Medizin und Nationalsozialismus. Tabuisierte Vergangenheit - Ungebrochene Tradition? Berlin 1987.
- Klaus Dörner: Tödliches Mitleid. Zur Frage der Unerträglichkeit des Lebens oder: Die Soziale Frage: Entstehung - Medizinisierung - NS-Endlösung - heute - morgen, 3. Aufl., Gütersloh 1993.
- Hans Walter Schmuhl: Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie: Von der Verhütung zur Vernichtung "lebensunwerten Lebens". Göttingen 1992.