Regelkunde: Wikipedia ist keine Datenbank
In Streitfällen wird sie gern und oft zitiert: bei Ergebnisangaben zu Sportereignissen etwa, im Zusammenhang mit penibel dokumentierten Fernsehserien, nicht selten auch im Zuge des täglichen Wahnsinns der Löschdiskussionen. Meist geschieht es mit der Maßgabe, Tabellen oder Listen, die „zu viel des Guten“ seien, aus den Artikeln zu entfernen. Gegner dieses Vorgehens wenden ein, die Regel würde falsch oder zumindest zu streng ausgelegt und habe aus gutem Grund keine Parallele in der englischen Wikipedia. Welche Seite Recht hat, sei dahingestellt. Doch wie kam es zu dieser Richtlinie? Wer hat proklamiert, dass Wikipedia keine Datenbank sein will? Was war ursprünglich darunter zu verstehen, und wie hat sich die Auffassung gewandelt? – Der Versuch einer Rekonstruktion der Ereignisse.
Die Geschichte nimmt ihren Anfang Mitte 2003. Die deutsche Wikipedia war den Kinderschuhen entwachsen, die Zahl der Artikel stieg von Tag zu Tag schneller. Einige der damaligen Granden begann die Sorge umzutreiben, die herannahende Artikelflut könnte den mühsam erarbeiteten Bestand verwässern. Wichtiges wäre nicht mehr von Unwichtigem trennbar, Beiträge müssten sich daher schärferen Relevanzkriterien unterwerfen. Ein Teil der Mitarbeiter gab sich jedoch anderen Träumen hin: Sie wollten dokumentieren, was ein Nachschlagewerk nur so dokumentieren konnte – je mehr desto besser. Eine ausgewogene Einführung zu jedem erdenklichen Thema, verfügbar an zentraler Stelle im Internet: auf de.wikipedia.org.
Schauplatz der Auseinandersetzung war, wie so oft, die Seite Was Wikipedia nicht ist. Am 30. August 2003 stellte Ulrich Fuchs dort vier neue Regeln ein, die ausführten, dass Wikipedia weder eine Film- noch Buch- oder Musikdatenbank sei, geschweige denn ein Fanlexikon. Gut 24 Stunden später wurde die Änderung revidiert und um ein klärendes Gespräch gebeten, das sich noch heute im Archiv nachlesen lässt. Ulrich Fuchs erläuterte sowohl in der Diskussion als auch im nachgereichten Traktat Wikipedia ist keine Datenbank seine Motivation: Er wolle nicht, dass Wikipedia zu jedem x-beliebigen Werk einen Artikel biete. Bei fehlender kultureller Bedeutung würde sich ein solcher im Allgemeinen darauf beschränken, die an der Entstehung Beteiligten aufzuzählen oder unbedeutende Handlungsschnipsel zu paraphrasieren, so wie es die Internet Movie Database für Filme praktiziert. Man solle sich stattdessen auf die Stärken einer Enzyklopädie besinnen und Texte verfassen, die über die simple Namens- und Datennennung hinausgehen, beispielsweise die Rezeption des Werkes beschreiben und selbiges in den historischen Kontext einordnen. Fans könnten, wenn sie schon über Heerscharen fiktiver Charaktere schreiben mussten, dies geordnet in einem Übersichtsartikel tun, statt den Artikelnamensraum unnötig zu beanspruchen.
In der Tat hat eine spezialisierte Datenbank der MediaWiki-Software einiges voraus. Beispielsweise muss man dort nur die Besetzung der Filme hinterlegen – die umgekehrte Zusammenstellung, bei welchen Filmen ein gegebener Schauspieler mitwirkte, erzeugt das System dann automatisch. Die Pflege der Daten erleichtert sich somit, denn etwaige Inkonsistenzen werden von vornherein ausgeschlossen.
Doch Ulrichs Einschränkungen der Themenvielfalt blieben nicht unbeanstandet. Lautstärkster Gegner war der spätere Steward mit dem träumerischen Namen Fantasy: Er gestehe der Wikipedia das Potential zu, maßgeschneiderte Datenbanken mit ihren rigiden Strukturen obsolet werden zu lassen. Die technischen Nachteile beim Blick auf Details seien unstrittig, aber zu verschmerzen. Auch die Verkürzung der Regeln auf den Slogan „Wikipedia ist keine Datenbank“ wurde kritisiert. Elian, ebenfalls eine Mitarbeiterin der ersten Stunde, wandte angesichts dessen ein: „Wikipedia ist – in Essenz – eine Datenbank.“
In der ausufernden Diskussion bewegten sich die zwei Streitparteien nur zentimeterweise aufeinander zu. Den kleinsten gemeinsamen Nenner trug Benutzer Nerd jedoch schon frühzeitig, am 4. September, ins Regelwerk ein: „Die Wikipedia ist keine Datenbank zu einem bestimmten Thema.“ hieß es darin. Gemeint war, dass solche Artikelserien außen vor bleiben sollten, die im Grunde nur stichpunktartig vorgegebene Eigenschaftsfelder ausfüllen, dabei gänzlich auf Fließtext verzichten und Strukturierung lediglich durch Verlinkung untereinander herstellen.
Knapp zwei Monate hielt sich diese Formulierung. Dann, am 1. November, fasste sich Elian ein Herz und überarbeitete das Regelwerk grundlegend. Das Datenbank-Verbot fiel dabei unter den Tisch, wahrscheinlich, weil es sich sinngemäß aus den anderen Punkten ergeben sollte.
Viele Nutzer hatten den griffigen Spruch in der kurzen Zeitspanne seines Bestehens bereits liebgewonnen. Zuweilen erkundigte man sich gar nach seinem Verbleib. So beispielsweise Matthäus Wander im März 2004, der gerne in bewährter Weise darauf verwiesen hätte und um Wiederaufnahme bat. Ausnahmsweise waren sich Elian, Ulrich und Nerd einig: dass sie sich uneinig waren. Die Regelung blieb da, wo sie war, nämlich draußen.
Man mag es als Ironie des Schicksals bezeichnen, dass sie ihre bis heute andauernde Hoch-Zeit erst erlebte, nachdem Ulrich Fuchs, der das Schlagwort „Datenbank“ anfangs ins Spiel gebracht hatte, im Juli 2004 sein Administratoramt niederlegte und in der Folge das Projekt in Richtung Wikiweise verließ. Als Grund für seine Frustration gab er an, was er durch die Richtlinie ursprünglich zu verhindern suchte: Die Wikipedia sei zu einem Tummelplatz für Weltverbesserer und Trivialitätensammler verkommen, den er nicht mehr bereit sei zu verwalten. Am 2. September fügte Jakob Voß dann folgende Erweiterung in Was Wikipedia nicht ist ein:
- Wikipedia ist keine Datenbank. Für große Mengen strukturierte Daten wie Telefonbücher, Bibliographien, Linkverzeichnisse, Adressverzeichnisse... ist eine Datenbank mit einzeln recherchierbaren Feldern und Datentypen eindeutig die bessere Wahl.
Die Formulierung hat seit nunmehr über einem Jahr fast unverändert Bestand. Von einer Diskussion der Änderung findet sich in den Archiven keine Spur, wahrscheinlich hat es sie nie gegeben. Dies wundert insofern nicht, als dass die Neuerung hauptsächlich darin bestand, fünf bewährte Punkte des Regelwerks thematisch zusammenzufassen und durch den oben zitierten Text einzuleiten. Allein die Breite des Interpretationsspielraumes ist es, an der sich bis heute die Geister scheiden. (Jo, 12.10.05)