Benutzer:Kairoprax/Artikelwerkstatt
Der Begriff der Neuroplastizität ist ebenso neu wie die Erkenntnis, dass das menschliche Gehirn auch nach der abgeschlossenen Embryonalphase noch in der Lage ist, sich grundlegend verändern zu können. Die neuronale Plastizität ist die Fähigkeit des Gehirns, seine eigene Struktur und Organisation den veränderten biologischen Grundlagen (z.B. nach Läsionen) und Anforderungen (z.B. beim Lernen) anzupassen. Eigentlich ist diese Erkenntnis nicht neu, denn ohne Neuroplastizität wäre eine Rehabilitation nach Schlaganfall ebenso erfolglos wie jede Form des Lernens unmöglich wäre. In unserer inneren Bilderwelt beginnen die Magnetresonanzbilder ganz allmählich die Zeichnungen vom Homunculus zu verdrängen. In unserer analytisch-anatomisch geprägten medizinischen Vorstellungswelt ist dies noch nicht der Fall. Was aber ist wahr? Gibt es in unserer Hirnrinde Areale, die sich 1:1 einem Muskel oder einem Organ zuordnen lassen, so als sei unser Körper eine Marionette, die quasi über die Nerven an dem Gehirn angeknüpft ist, oder gibt es viele Areale, die miteinander in einer Art Funkkontakt stehen, während sich der Körper bewegt?
Die neuronale Struktur und was wir darüber wissen
BearbeitenUnser Gehirn und das periphere Nervensystem sind, was die Anzahl der Nervenzellen und die Struktur betrifft, zum Zeitpunkt der Geburt vollständig angelegt. Ein Nachwachsen von Hirnzellen, die im späteren Verlauf zerstört werden ist unmöglich, die Reparatur durchtrennter peripherer Nerven kennen wir. Es ist aber auch bekannt, dass wieder reparierte periphere Nerven den Muskel, den sie versorgen sollen, nicht ohne Weiteres sofort wieder bedienen können. Einerseits kann das Erfolgsorgan in der Zeit der Nervenschädigung einen Schaden genommen haben, etwa weil Atrophien oder Kontrakturen aufgetreten sind, andererseits kann die Bewegung verlernt worden sein. Im neuronalen Netz unseres Nervensystems sind die Informationen abgelegt, welche die normale Funktion ermöglichen, das heißt sowohl der Bewegungsumfang als auch die erlernte Bewegung. Zwei Bedingungen müssen für die Funktion erfüllt sein, die erhaltene Struktur und die erhaltene neuronale Verknüpfung. Wie diese Verknüpfung stattfindet ist noch weitgehend unbekannt.
Über die Struktur wissen wir zwar einiges mehr, aber längst nicht alles. So sind die Nervenbahnen und Hirnzentren durchaus mikro- und makroskopisch bekannt, den tatsächlichen Bedeutungsumfang der Kerne und Bahnen kennen wir aber höchstens bruchstückweise. Es ist historisch interessant, dass die Gehirnforschung sich sehr gerne der Anatomie im direkten Vergleich mit der Pathoneurologie bedient hat. Im Tierversuch werden Hirnareale stimuliert um zu sehen, welche Ergebnisse das im neurologischen Bild zur Folge hat. Pathologen haben die Autopsieergebnisse Hirngeschädigter verglichen mit der prämortalen neurologischen Klinik. Auf diesem Weg entstand der uns bekannte Homunculus der prä- und postcentralen Gyri ebenso wie die Erkenntnisse über die Kerne und ihre Funktion. Die Magnetresonanztechnik, die das was im Gehirn an elektronischer Aktivität passiert in Echtzeit vergleichen kann mit dem, was die Untersuchungsperson gerade denkt, liest, sieht oder tut, hat das bisherige statische Bild noch einmal entscheidend verändert. Wir wissen heute, dass Bewegungsabläufe in der Phase des Erlernens auf anderen Hirnarealen abgebildet werden als zu dem Zeitpunkt, wo sie bereits Routine sind. Wir wissen auch, dass sich die Gehirne von Links- und Rechtshändern in ihren neuronalen Aktivitätsbereichen voneinander unterscheiden, ebenso wie wir wissen, dass ein Apopletikergehirn andere Zentren für dieselbe Tätigkeit benutzt als das Gehirn eines Gesunden.
Lernen ist ein anderes Wort für Neuroplastizität – eine kleine Lernübung
BearbeitenDas Lernen ist der Schlüssel zur Neuroplastizität. Die vorherrschende Vorstellung darüber, wie der Lernprozess stattfindet, ist ein multizentrisches Ereignis bezogen auf die Hirnareale und ein Prozess vieler einzelner Aufgaben. Diese lassen sich mindestens in die Einzelaufgaben Verstehen, Planen, Umsetzen und Kontrollieren aufteilen. Zu Beginn des Lernvorgangs steht die Auseinandersetzung mit der Lernaufgabe, wenn der Lernprozess abgeschlossen ist, ist eine Beherschung der Lernaufgabe eingetreten.
Die einzelnen Schritte lassen sich beispielhaft am Schreiben eines bekannten Wortes darstellen. Die Aufforderung an einen nichtlegasthenischen Erwachsenen, das Wort „Alles“ zu schreiben, wird normalerweise keine Probleme aufwerfen. Wir haben das Schreiben des Wortes „Alles“ erlernt und unter Kontrolle.
Anders verhält es sich, wenn wir die Aufgabe modifizieren. Es soll das Wort jetzt in griechischen Buchstaben geschrieben werden. Das griechische Alphabet stellt zumindest den Ärzten keine Probleme, eher schon, dass „a l l e s“ nicht wirklich ein griechisches Wort ist. Vor die Aufgabe gestellt, „a l l e s“ statt „Alles“ zu schreiben, muss der Lernprozess neu begonnen werden. Wir Planen zuerst, und setzen danach um.
Für Rechtshänder, die der griechischen Schrift mächtig sind, ist dieser neue Lernschritt klein. Er lässt sich aber deutlich vergrößern, wenn „a l l e s“ zusätzlich mit der linken Hand geschrieben werden soll und in Spiegelschrift. Um die Einzelschritte des Lernenprozesses weiter zu verdeutlichen, nehmen wir statt des griechischen das arabische Alphabet. „Alles“ heißt dann „ ﺲ ﻠ ﻟ ﺁ “. Die Schreibweise erfolgt vom rechten Blattrand nach links. Wir befinden uns jetzt auch als Erwachsene in einer Phase, die der des neu lernenden Kindes in vollem Umfang entspricht, und dass obwohl wir schreiben können und wissen, was „Alles“ heißt. Und obwohl wir auch die Aufgabe verstanden haben, wird es eine geraume Zeit dauern, bis wir „Alles“ flüssig in Arabisch von rechts nach links schreiben können. Zu dem Zeitpunkt ist der Vorgang der Neuroplastizität vorläufig abgeschlossen. Neue Nervenzellen wurden keine geschaffen, aber die vorhandene neuronale Struktur wurde umprogrammiert auf neue Aufgaben. Das ist angewandte Neuroplastizität.
Der Lernprozess im Einzelnen
BearbeitenAn dieser Stelle ist augenfällig, dass der Lernvorgang mnestische, sensorische und motorische Zeiten hat. Die auftretenden Probleme bei der Lernumsetzung sind individuell unterschiedlich, so dass mal größere motorische Probleme auftauchen und mal Probleme, die fremden Buchstaben zu erkennen. Für den Totalausfall bestimmter Anteile haben wir nicht erst seit neuestem Begriffe wie Amnesie, Agnosie, Apraxie oder Ataxie, zu deutsch die Unfähigkeit zu erkennen, zu verstehen, zu handeln oder zu fühlen.
Darüber hinaus benennt die Neurophysiologie noch wesentlich komplexere Ausfallbilder, beispielsweise die Anosognosie, die wir auch als Neglect-Syndrom kennen. Diese tritt auf als Folge von Apoplexen oder Raumfordeungen im Gehirn und beschreibt den Umstand, dass das Gehirn nicht mehr in der Lage ist, ausgefallene Körperglieder als zu uns gehörig zu erkennen. Gut bekannt ist auch das entgegengesetzte Krankheitsbild, bei dem amputierte oder sonst fehlende Gliedmaßen Schmerzen bereiten als Phantomschmerz. All diese Phänomene geben Einblicke in die komplexe Funktionsweise des moto-neuronischen Konstrukts, dass unser Körper ist.
Die Encephalomyelitis disseminata oder die Multiple Sklerose (MS)
BearbeitenZahlreiche Krankheiten sind definiert durch ein Nichtfunktionieren des motoneuronalen Apparates. An vorderster Stelle muss man hier die Multiple Sklerose nennen. Es ist möglicherweise therapeutisch garnicht notwendig darauf einzugehen, ob es sich bei der Encephalomyelitis disseminata um eine Erbkrankheit, einen Virusinfekt, eine Entzündung oder tatsächlich um eine Sklerose handelt.
Der Weg des Kurierens an den Symptomen soll hier vorgestellt werden.
Dieses Vorgehen entspricht durchaus der manualtherapeutischen Denkweise, bei der komplexe Krankheitsbilder immer schon in muskuläre, gelenkige oder funktionale Störungen unterteilt wurden. Behandelt wurde dann durch Deblockieren der Gelenke, Dehnen der Muskeln oder Beüben der gestörten Funktion. Die Funktionsausfälle bei der MS haben sehr unterschiedlichen Charakter. Es sind Irritationen und Entzündungen des Sehnervs, eine Störung der Sprechfunktion, wobei sowohl sensorische wie motorische Aphasien bekannt sind, Schluckstörungen und Störungen des Bewegungsapparats wie Ataxie, Dysdiadochokinese, Athetose und lokale Spastik. Während die bisher genannten Einzelsymptome in der Regel zentral gelegen sind, sind die Hypästhesien, die lokalen Schmerzen und die Blase- und Darmfunktionsstörungen wohl eher peripher einzuordnen.
Die Standardbehandlungsmethoden der MS sind prädominant medikamentös geprägt. Es kommen Muskelrelaxantien wie Carbamazepin und Lioresal ebenso zum Einsatz wie Cortison, Imurek oder ß-Interferon als Immunsuppressionsmittel und Temgesic, Cannabis oder Sirdalud zur Schmerzbekämpfung. Übende und aktive Verfahren wie Krankengymnastik oder Ergotherapie gelten allenfalls als adjuvant. Diese pharmazeutisch ausgerichtete therapeutische Gewichtung führt in zahlreichen Fällen zu Zielkonflikten. So sedieren Diazepine und Morphine bis zur Apathie und Immunsuppressiva führen zu Depressionen ebenso wie zu Übergewicht. Oft genug hat die Physiotherapie sich so nach an den medikamentösen Nebenwirkungen auszurichten oder muss die sogar behandeln, statt sich der „eigentlichen“ MS-Therapie zu widmen.
Lösungsansätze, die Spastik zu behandeln
BearbeitenWas die eigentliche Therapie sein könnte und was die tatsächliche Therapie oft ist, wird am Beispiel der Spastikbehandlung deutlich. Die Spastik, die schmerzhafte Muskelstarre, wird gemeinhin als Symptom der MS beschrieben. Zum Einsatz kommen muskelrelaxierende oder zentral sedierende Medikamente. Durch sie werden aber nicht nur die bildbestimmenden hypertonen Muskeln geschwächt, sondern auch deren Antagonisten. Es gibt keine Medikamente, die selektiv allein die hypertonen Muskeln ansprechen, und es gibt nicht einmal theoretisch denkbare medikamentöse Ansätze, welche gezielt die schwächeren oder gar gelähmten Antagonisten stärken. Im Ergebnis bleibt das kräftemäßige Übergewicht der spastischen Muskeln. Der therapeutische Gewinn liegt ausschließlich in einer Schmerzminderung durch eine allgemeine Mobilitätsminderung. Eine ursächliche Therapie im Sinn einer Spastikbeseitigung ist medikamentös bis heute nicht möglich, und auch die Aussicht, auf dem Weg über die Gentechnik hier voranzukommen ist mehr als fraglich.
Ganz anders ist es, wenn man die Möglichkeiten der manuellen Therapie betrachtet. Es ist nicht nur möglich, sondern erklärte Absicht der Manualtherapie, schwache Muskeln zu trainieren, verkürzte zu verlängern und spastische zu dehnen ). Die manuelle Therapie unterscheidet folgerichtig in der Behandlung von Athetose und Dysdiadochokiesie und sie wendet andere Therapieansätze an bei Verkürzungen und bei Kontrakturen. In jedem Fall wendet sich die Manualtherapie einzelnen Muskeln zu, die man als hyperton oder zu Krämpfen neigend bezeichnen kann. Eine Etikettierung der Muskeln als spastisch ist hingegen kaum zielweisend.
Die Wahl der Begriffe, mit denen die „Spastik“ beschrieben wird, ist entscheidend für die Therapie. Die echte Spastik ist ein muskulärer Krampf mit dem Bild einer hypertonen, harten Muskulatur, die auf schnelle Bewegungen umso massiver reagiert. Ein spastischer Muskel muss langsam und repetitiv gedehnt werden. Er lässt sich auch beeinflussen indem man seine Antagonisten fördert, bzw. indem man bei dem Patienten das Bewusstsein für deren Vorhandensein weckt. Die bei der MS häufiger anzutreffende Athetose ist ein ungeordnetes Zusammenspiel der Agonisten und Antagonisten, bei dem es zu unwillkürlichen, wenig koordinierten Bewegungen kommt. Hier ist nicht das Kräfteverhältnis, sondern der Gehorsam der Muskeln gestört. Bei der Dysdiadochokinese ist das Wechselspiel von Agonisten und Antagonisten gestört. Hier stimmt der Rhythmus nicht, die Fähigkeit zum Umschalten ist eingeschränkt. Nur die genaue Analyse der Bewegungsstörung führt zur optimalen Therapie. In der Therapie werden Bewegungen neu gelernt, vergleichbar mit dem Neulernen des Wortes „Alles“, wie oben geschildert. Am Ziel des Neulernens steht eine neuroplastische Veränderung der Bewegungsmuster, weg von den pathologischen, hin zu koordinierten Bewegungen.
Lösungsansätze, die neurologischen Ausfälle zu behandeln
BearbeitenTypisch bei der MS ist das Verlieren und Verlernen von Bewegungen und der Ausfall von Funktionen und Bewegungsmustern. Ob diese Ausfälle in Schüben oder kontinuierlich geschehen ist therapeutisch unwesentlich. Die Therapie hat ihren Sinn aus manualtherapeutischer Sicht im Ersetzen und Neu-Lernen, nicht in der Versorgung mit mechanischen Hilfsmitteln. Je früher nach dem Ausfall die Therapie einsetzt, desto effektiver ist sie aus zwei Gründen. Zum einen weiß der Patient noch recht genau, welche Tätigkeiten er nicht mehr ausüben kann und welche Empfindungen ihm fehlen, je näher er zeitlich nach einem Ausfall darüber berichtet. Zum andern ist der ausgefallene Muskel oder die ausgefallene sensible Region anatomisch noch eine längere Zeit nicht verkümmert oder zurückgebildet. Auf die Notwendigkeit des frühen Therapiebeginns braucht hier nicht hingewiesen zu werden. Sie ist erwiesen aus der manualtherapeutischen Behandlung Neugeborener ) ebenso wie aus der Behandlung Apoplexgeschädigter.
Im Gegensatz zur klassischen spinalen Lähmung, bei der komplette neurologische Segmente ausfallen, sind die Ausfälle bei der MS wesentlich punktueller. Muskulär können sowohl die Agonisten (als Beispiel sei der m.biceps brachii genommen) wie auch die Antagonisten (in dem Fall der Trizeps bracchii) betroffen sein. Sie können im einen Fall schwach geworden sein, im anderen spastisch. Sehr oft, fast meistens, sind auch die posturalen Muskeln betroffen. Im Fall des Biceps brachii sehen wir Gleichgewichtsverlagerung durch Anspannen der autochthonen Rückenmuskeln und Rotationsbewegungen des Schultergürtels, beides mit dem Ziel, die gestörten Muskeln wieder verstärkt ist Spiel zu bringen, zu “facilitieren”. Ebenfalls typisch ist, dass die betroffenen Muskeln sowohl einen erhöhten wie einen erniedrigten Tonus aufweisen können. Diese Vielfalt in der Symptomatik ist eher ein Vorteil als ein Nachteil. So bieten sich zahlreiche therapeutische Ansätze, etwa den über die Haltungskorrektur, im Sinn einer Beeinflussung der posturalen Muskulatur, die passive Dehnung und die Dehnung gegen Widerstand bei verkürzten und hypertonen Muskeln und den Muskelaufbau bei schwachen Muskeln. Eine weitere Möglichkeit besteht in der Einbeziehung der Synergisten. Das neuroplastische Grundprinzip ist die möglichst genaue Erarbeitung des Ausfallmusters. Für den Therapeuten, um zu wissen wo und mit welcher Technik er arbeiten muss. Für den Patienten, um zu erfahren was geht und was nicht. Der Lernprozess ist eine detaillierte Schwachstellenanalyse und Schwachstellenbeseitigung.
Ebenso differenziert gestalten sich die Ausfälle auf der sensiblen Seite. Es ist keinesfalls so, dass nach einem Schub eine Region “tot” ist. Vielmehr betreffen die neurologischen Ausfälle in aller Regel nur einen Teil der Tastsinnqualitäten. Wir kennen mindestens vier Qualitäten, nämlich das Druckempfinden, das Schmerzempfinden, die Wärmeempfindung und das Vibrationsempfinden. Für diese Tastqualitäten sind unterschiedliche Rezeptoren bekannt. Es ist aber nicht unwahrscheinlich, dass wir über weitere Tastqualitäten verfügen, die entweder eingenständige Sinne oder Kombinationen der genannten sind. So können wir zwischen dem spitzen und dem stumpfen Schmerz unterscheiden, wir kennen einen tiefen und einen oberflächlichen Schmerz. Es ist nicht sicher, ob Kälte- und Wärme über dieselben Rezeptoren wahrgenommen werden. Es lässt sich ein Druck von einer Dehnung unterscheiden und auch die Vibrationen lassen sich nach Schwingungsarten unterteilen. Wir besitzen Möglichkeiten, einen gezielten Zugang zu den Tastsinnen zu bekommen, so etwa lässt sich die Vibration über eine Stimmgabel ansprechen und die Thermorezeption über untereschiedlich warme und kalte Gegenstände. Eine scheinbar ausgefallene Region ist dann nicht ausgefallen, wenn wenigstens über einen Tastsinn ein Gefühl vermittelt werden kann. Der neuroplastische Lerneffekt ist der, die Aufmerksamkeit des Patienten auf die erhaltenen Funktionen zu lenken. In der Folge wird sich zeigen, ob andere Funktionen tatsächlich ausgefallen, oder nur stark abgemindert sind. Durch das Wecken der Sensibilität für die Sensibilität können sich Regionen wieder ganz oder teilweise neu erschließen. Ein wichtiger Aspekt für die Therapie ist auch die Begrenzung der Ausfälle. Diese dient nicht nur der Dokumentation, sondern stellt einen therapeutischen Einstiegsweg dar. Der direkt mögliche Vergleich mit dem Nachbarhautareal, in welchem die Tastsinne erhalten sind, ermöglicht es sowohl dem Therapeuten wie auch dem Patienten, ein Gefühl zu bekommen für das Ausmaß der Schädigung. Aussagen wie “deutlich weniger kälteemfindlich” oder “ein klein wenig schmerzhafter” und “zwar kann ich den Druck spüren, aber keinen Schmerz empfinden” sind im direkten Vergleich zum gesunden Gebiet mehr als hilfreich. Beispielsweise vereinfacht es das Erkennen von Gegenständen, die auf die Haut gelegt werden, mal im gestörten, mal im ungestörten Bereich. Die Wahrnehmung der Tastsinne wird um soviel deutlicher, dass in der Regel bereits nach kurzer Zeit die Rest-Qualitäten so sehr verstärkt werden, dass sie wie vollständige Informationen angenommen werden.
Wir brauchen nur das vorhandene Wissen über Neuroplastizität umsetzen.
Sinnesqualitäten, die fast immer weniger genutzt werden als es möglich wäre, kennen wir aus dem Alltag. Wenn wir die Augen schließen, hören wir besser. Blinde und Sehbehinderte entwickeln rasch einen besseren Tastsinn. Wir härten uns mit Kneipp-Anwendungen gegen Kälte und Wärme ab. Wir lernen palpieren, indem wir der täglichen chritherapeutischen Arbeit nachgehen. Wir werden mit der linken Hand geschickter, wenn ein gebrochener rechter Arm im Gips liegt. In allen Fällen ist es die Konzentration und Hinwendung, welche die höhere Sensitivität ergibt. Dass dies Zeit braucht, ist ein Beleg dafür, dass hier ein Lernprozess stattfindet, Neuroplastizität.
Arbeit mit und an der Neuroplastizität spielt sich im Detail ab.
MS-Patienten leiden unter Sprachstörungen, Schluckstörungen, Sehstörungen, Verlusten der Sensibilität, Wechsel im Tonus der Muskulatur, ataktischem Gang, Störungen der Diadochokinese, Darm- und Blasenstörungen ), Koordinationsstörungen, Gleichgewichtsstörungen und mehr. Aber sie haben nicht immer mit allen Symptomen Probleme. Vielmehr treten die Störungen gewöhnlich so portioniert auf - in “Schüben” – dass wir die Aufgaben einzeln abarbeiten können. Für die Lösung der Aufgaben stehen uns zahlreiche Techniken aus der uns längst bekannten Manualtherapie zur Verfügung. Zweifelsohne sind die Muskeltechniken bekannter und verbreiteter. Die Behandlung der sensiblen Störungen sind denen vertraut, die mit Bobath- und Voijta-Techniken arbeiten oder eine Ausbildung in PNF haben. Darüber hinaus ist Kreativität gefragt. Es geht immer um das Lernen und Neu-Lernen verlorener Funktionen. Oft können wir das Gehirn zum Lernen überlisten, indem wir etwas Neues tun, beispielsweise mit der linken Hand schreiben. Neuomuskuläre Schaltkreise lassen sich entstehen durch neue Bewegungsmuster, etwa durch das Erlernen des Jonglierens oder Balancierens. Was zur Anwendung kommt, hängt mit dem Therapieziel zusammen.
Im Gegensatz zum medikamentösen Therapieansatz, bei dem es um globale Schmerzminderung geht oder um ein generelles Herabsetzen der Tendenz zu Spastiken, greift die Neuroplastizität in ein definiertes, enger begrenztes Gebiet ein. Das kann die Korrektur des Gangbild sein oder die Koordination des Greifens. Es kann sich um die Kopf- oder Körperhaltung drehen oder um die Funktion von Darm und Blase, Sprache oder Schluckakt. In jedem Fall muss der Patient an den Körper und an die Störung herangeführt werden. Dieses Heranführen ist direkt und es ist intim. Die Behandlung von Blasen- und Darmstörungen gelingt am besten, wenn der Patient seinen Darmschließmuskel ertastet, genauso wie den Urinabgang. Er muss den Glutäus spüren, wenn ein Trendelenburg vorliegt. Neu-Lernen heißt in unserer körperfeindlichen Welt mit der ausgeprägten Distanz und Angst vor allem was behindert ist auch, dem Körper und den Behinderungen neu zu begegnen.
Zusammenfassung
BearbeitenDie Therapie bei Erkrankungen, die mit neuro-muskulären Schäden einhergeht, kann sich mehr als in der Vergangenheit der neueren Erkenntnissen aus der Gehirnforschung bedienen. Das Phänomen der Neuroplastizität, der Fähigkeit verlernte Bewegungsmuster neu zu lernen auch dann, wenn Nervenareale zerstört sind und die Möglichkeit, dass erloschene zentrale Funktionen von anderen Zentren übernommen werden, eröffnet vollkommen neue therapeutische Wege. Die manuelle Medizin kann hier eine Vorreiterrolle übernehmen, weil ein Gutteil der notwendigen Techniken hierfür aus der manuellen Medizin stammen. Es ist notwendig, dass die übenden manualtherapeutischen Verfahren zum Standard der Therapie werden und die bisherigen medikamentösen Strategien zu adjuvanten Therapien werden lassen.
Literatur
Bearbeiten- M. Spitzer, „Geist im Netz Modelle für Lernen, Denken und Handeln“ Spektrum-Akademischer Verlag 2000 ISBN 3-8274-0572-6
- K.Gegenfurtner, „Gehirn & Wahrnehmung“ Fischer Taschenbuch 2003 ISBN 3596155649
- H.Henningsen, B.Ende-Heningsen, P.Frommelt, H.Grötzbach, „Neurobiologische Grundlagen der Plastizität des Nervensystems“ neuropsychologie.sapvitam.de/plastizitaet.htm.pdf
- „Neuroplastizität nach Schlaganfall wird sichtbar - Moderne Bildgebungsverfahren stellen Aktivierungsmuster dar / Inaktives Gewebe wird wieder zurückgewonnen“
- K.Lemler, S.Gemmel „Kathrin spricht mit den Augen“ edition zweihorn 2005 ISBN 3-935265-21-2
- S.Smith Roley, E.I. Blanche, R.C. Schaaf, “Sensorische Integration“ Springer 2004 ISBN 3-540-00093-3
- K.Bayer „Leitfaden Manuelle Medizin am Kind“ HippokratesVerlag, Stuttgart 2003 ISBN 3-8304-5270-5
- „Neuroplastizität des ZNS: Kortikale Reorganisation bei Stress-Inkontinenz von Frauen“