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Wikipedia ist hochinteressant, lehrreich, auch in weitaus mehr als der Wissens-Facette. Aber Wikipedianer / Editoren und Leser / Benutzer sollten wissen, wofür die WP (großenteils zu recht) auch kritisiert wird.

Ausschnitt aus einem amerikanischen, kritischen, äußerst gut informierten Zeitschriftenartikel über die Wikipedia (Stacey Schiff). Übersetzung von mir, auch Hervorhebungen.

Disclaimer: ich teile nicht jede Ansicht darin.


Für alle ins Protokoll: die Bürokratie von Wikipedia bevorzugt nicht notwendigerweise die Wahrheit. Im März 2005 war William Connolley, ein Klimamodellierer der britischen Antarktis-Überwachung in Cambridge, für kurze Zeit Opfer eines Editkrieges zum Artikel zur globalen Erwärmung, zu dem er beigetragen hatte. Nach einer besonders bösen Konfrontation mit einem Skeptiker, der wiederholt sprachlich entgleist war, den Gewächshauseffekt betreffend, stieg der Fall in die Schlichtung ein. "Benutzer William M. Connolley drückt stark seinen POV (seine Ansicht) durch, mit systematischem Revert jedes möglichen POV, der nicht seinen eigenen trifft.", so sein Ankläger in einer schriftlichen Erklärung. "Seine Ansichten über Klimawissenschaft sind einzeln stehend und schmalspurig." Eine Entscheidung vom Schlichtungsausschuß war drei Monate in Bearbeitung; hernach wurde Connolley auf eine demütigende Einen-Revert-per-Tag-Bewährung gesetzt. Die Bestrafung wurde später widerrufen, und Connolley ist jetzt ein Admin, mit zweitausend Seiten auf seiner Beobachtungsliste- eine Eigenschaft des Systems, die Benutzern eine Liste der von ihnen beobachteten Artikel zu erstellen ermöglicht, und mitgeteilt zu bekommen, wenn Änderungen an ihnen vorgenommen werden. Er sagt, daß der Wikipedia-Artikel zur globalen Erwärmung die beste Seite zu diesem Thema im Internet sein könnte. Dennoch gesteht Wales (Wikipedia-Gründer) zu, daß in diesem Fall das System versagte. Es kann so scheinen, dass der Benutzer, der die meiste Zeit mit der Wikpedia verbringt, -oder der am lautesten kreischt, gewinnt.

Connolley glaubt, daß Wikipedia "denen kein Privileg gibt, die wissen, über was sie sprechen", eine Ansicht, die von vielen Akademikern geteilt wird und (auch) von ehemalig Mitwirkenden einschließlich Larry Sanger, der argumentiert, daß zu viele Wikipedianer grundsätzlich mißtrauisch gegenüber Experten seien und von ihrer eigenen Meinung ungerechtfertigt überzeugt. Er verließ Wikipedia im März 2002, nachdem Wales beim Platzen der DOT-Com-Blase das Geld ausging. Sanger stellte fest, daß er ein Autoritäts-Symbol in einer anti-autoritären Gemeinschaft geworden war. "Wikipedia ist von einer fast vollkommenen Anarchie gewechselt zu einer Banden-Anarchie," erklärte er mir. (Sanger ist jetzt der Direktor eines Gemeinschaftlichen Arbeits-Projekts bei der Online-Stiftung Digital Universum, in dem er hilft, eine Netz-gegründete Enzyklopädie, eine Mischung zu entwickeln zwischen einem Wiki und einer traditionellen Enzyklopädie. Er verspricht, daß es "die niedrigste Fehlerhäufigkeit in der Geschichte" haben wird.

Auch Eric Raymond, der Open-source-Pionier, dessen Arbeit Wales inspirierte, argumentiert, daß "Unfall" kein zu starkes Wort" für Wikipedia ist. In seiner Ansicht wird die Website "geplagt von moonbats." (Denken Sie an Hobbits mit wenig Verstand, Störabteilung /= Trolle.) Er hatte seine Korrekturen zu den Artikeln über Science-Fiction-Romane abgebaut gefunden, von Benutzern, die offenbar glaubten, daß er auf ihrem (persönlichen) Gelände herumlaufe/wildere. "Je mehr Sie betrachten, was einige der Wikipedia-Mitwirkenden getan haben, umso besser gefällt Ihnen die Encyclopedia Britannica", sagte Raymond. Er glaubt, daß das Open-Source-Modell für eine Enzyklopädie schlicht nicht anwendbar ist.

Für Software gibt es einen objektiven Standard: entweder es funktioniert, oder nicht.

Für die Wahrheit gibt keinen solchen Test.

Eine zunehmende Überwachung der Website durch Admins hat Vandalen nicht abgehalten. Eine Majorität von ihnen scheinen Obszönitäten und Absurditäten in Wikipedia einzutragen, wenn sie eigentlich ihre Hausaufgaben machen sollten. Viele legen ihre Streiche im Klassenzimmer fest: der Mißbrauch ebbt des freitags nachmittags ab und startet dann erneut früh am Montagmorgen. Schulen und Universitäten haben ihre gesamten I.P.-Nummernkreise infolgedessen blockiert gefunden. Die Eintragung auf George W. Bush wurde so häufig vandaliert – manchmal mehr als zweimal in der Minute - daß sie häufig gegen Editieren tagelang geschlossen wird. Zu jeder beliebigen Zeit sind einige hundert Eintragungen halb-geschützt. (Das bedeutet, daß ein Benutzer seine I.P.-Adresse registrieren, sich mit einem Namen anmelden und dann einige Tage warten muß, bevor er Änderungen vornehmen kann.) Diese Gruppe halbgesperrter Einträge schloß vor kurzem nicht nur die Eintragungen auf Gott, Galileo und Al Gore ein, auch die über Pudel, Orangen und Frédéric Chopin. Sogar Wales selbst wurde erwischt, wie er seine Wikipedia-Eintragung achtzehn mal im letzten Jahr aufhübschen wollte. Er ist besonders empfindlich auf Hinweise zum Porno-Verkehr auf seinem Netzportal. "Erwachseninhalt" oder "Zauberfotographie" sind die Bezeichnungen, die er bevorzugt, obwohl, wie ein Benutzer auf dieser Site unterstrich, diese Worte möglicherweise nicht die exaktesten Beschreibungen für lesbischen Strip-Poker zu dritt sind. Im Januar stimmte Wales einem Kompromiß zu: "erotische Fotografie." Er ist über diese Einmischung verärgert. "Leute sollten das nicht tun, einschließlich mir selbst", sagte er; "es zeugt von schlechtem Geschmack."

Wales etablierte vor kurzem eine "Aufsichts"- Funktion, durch die etwa Admins (Essjay unter ihnen) Text vom System bereinigen können, damit sogar die History-Seite keine Aufzeichnung mehr darüber trägt, was in einer Version mal geschrieben wurde (Versionslöschung). Wales sagt, daß diese Maßnahme selten verwendet werde, und nur, um verleumderische oder private Informationen wie eine Telefonnummer zu entfernen. "Es ist eine komplett vernünftige Maßnahme in jeder möglichen anderen Situation, aber vollständig antithetisch zu diesem Projekt,", sagte Jason Scott, ein langjähriger Mitwirkender bei Wikipedia, der einige Essays veröffentlicht hat, die gegenüber der Website kritisch sind.

Ist Wikipedia genau? Letztes Jahr veröffentlichte die Zetischrift „Nature“ eine Übersicht, die 42 Artikel zu wissenschaftlichen Themen auf Wikipedia mit ihren Gegenstücken in Encyclopædia Britannica vergleicht. Entsprechend der Übersicht hatte Wikipedia vier Fehler auf jeweils drei der Britannica, ein Resultat, das ungewöhnlicherweise als Triumph für das Neue hochgelobt wurde. Solche Übungen im Rosinenpicken sind verhältnismäßig bedeutungslos, da keine Vergleichsarbeit unfehlbar ist. Britannica gab eine öffentliche Aussage heraus, welche die Entdeckungen der Übersicht zurückwies, und nahm eine Halbseite Reklameanzeige in der Times heraus, die teilweise besagt, "Britannica habe nie behauptet, fehlerlos zu sein. Wir haben ein Renommee nicht für unerreichbare Vervollkommnung, aber für starke Gelehrsamkeit, ein stichhaltiges Urteil und einen disziplinierten redaktionellen Review." Später erklärte mir Jorge Cauz, Präsident der Britannica, in einer E-mail, daß, wenn Wikipedia fortgesetzt ohne irgendeine Art redaktionelle Aufsicht sei, sie "in einer stinkenden mittelmäßigen Masse von Ungeradem versinken würde, unzuverlässig sei, und, oft, unlesbare Artikel bieten werde." Wales sagte, daß er die Britannica für einen Konkurrenten halte, "außer daß ich denke, daß sie binnen der nächsten fünf Jahre aus dem Geschäft verschwunden sein werden."

Larry Sanger schlägt eine feine Unterscheidung vor, zwischen Wissen, das nützlich ist, und Wissen, das zuverlässig ist. Und es ist keine Frage, daß Wikipedia jede andere Quelle schlägt, wenn es um Breite, um Leistungsfähigkeit und Zugänglichkeit geht. Dennoch sind die Tugenden der Website auch Verlässlichkeit. Cauz schnaufte beim Begriff des genügend guten Wissens. "Ich hasse das", sagte er und unterstrich, daß es keinen Weg gibt, zu wissen, welche Tatsachen in einem Artikel Vertrauen verdienten. Oder Robert McHenry, ein alter Editor der Britannica: "wir können die falsche Antwort auf eine Frage schneller erhalten, als unsere Väter und Mütter einen Bleistift finden könnten."

Teil des Problems ist die Herkunft. Der Hauptteil des Inhalts von Wikipedia entsteht nicht in Papierbergen, sondern im Netz, das alles an hereinbrechenden Nachrichten, an Impulsen und auch den Klatsch zum Beweis anbietet, daß die Mondlandungen nie stattfanden. Offenkundige Irrtümer drängen sich mit stillen Auslassungen. Wales zitiert in seinen öffentlichen Reden den Google-Test: "Wenn es Google nicht kennt, exisitert es nicht." Diese Position wirft eine andere Schwierigkeit auf: in der Wikipedia dominiert das Gegenwärtige über die Vergangenheit. Der (im Allgemeinen gute) Artikel über den Heiligen Augustin ist kürzer als der über Britney Spears. Der Artikel über Nietzsche ist zahllos geändert worden, und die Diskussionen erstrecken sich über fünf archivierte Seiten. Aber die Debatte ist groß über Nietzsches Thesen; als Ganzes genommen, ist der Artikel schlechter als der in der Britannica, als Modell seiner Form minderwertig. (Von Wikipedia: "Nietzsche besaß auch eine Kopie von Philipp Mainländers „Die Philosophie der Erlösung“, eine Arbeit, die, wie die Philosophie Schopenhauers, Pessimismus ausdrückte.“) Wikipedia bleibt eine lausige In-Bewegung-Arbeit. Die Eintragungen können sich lesen lassen, wie wenn sie von einem Siebtklässler geschrieben worden seien: Klarheit und Zusammenhang mangeln; die Tatsachen können stark sein, aber das verbindende Gewebe ist entweder blutarm oder abwesend; und Zitieren wird zum „Treffer“ oder „daneben..“. Wattenberg und Viégas merken an, daß die beträchtliche Mehrheit von Wikipedia-Edits aus Auslassungen und Hinzufügung bestehen, anstatt aus Versuchen, Punkte neuzuordnen oder einen Artikel als Ganzes zu formen. Sie glauben, daß das 25-Zeilen-Editierfenster der Wikipedia einiges hieran schuld ist. Es ist schwierig, einen Artikel in seiner Ganzheit in Handarbeit zu machen, und beim stückweisen Lesen nimmt das Redigieren einfacher Fehler Priorität ein über komplexere Veränderungen. Wattenberg und Viégas haben auch einen "Erstersteller-Vorteil" identifiziert: der Anfangseditor eines Artikels stellt häufig den Ton ein, und diese Person ist selten ein Macaulay oder ein Johnson. Der gesamte Effekt ist zittrig: das Textäquivalent zu einem Film, der mit einer Amateur-Handkamera gedreht wird.

Was kann (positiv) über eine Enzyklopädie, die manchmal richtig ist, manchmal falsch und manchmal analphabetisch, gesagt werden? Als ich dem Harvard-Philosophen Hilary Putnam seine Eintragung zeigte, war er überrascht, sie so gut zu finden wie die in der Stanford-Enzyklopädie der Philosophie. Er war verblüfft, als er lernte, wie Wikipedia arbeitet. "Offensichtlich war dieses die Arbeit von Experten," sagte er. In den 1960ern sagte William F. Buckley Jr., daß er lieber "in einer Gesellschaft leben wolle wurde, die durch die ersten zweitausend Namen im Bostoner Telefonverzeichnis regiert würden, als in einer Gesellschaft, die regiert wird von den zweitausend Lehrkörpermitgliedern der Harvard-Universität." Auf Wikipedia könnte er seinen Wunsch schließlich erfüllt haben. Wie war der Artikel über ihn? Im Wesentlichen zielgenau, sagte er. Insgesamt, fügte Buckley hinzu, würde er aber bevorzugen, daß jene anonymen zweitausend Seelen regierten, jedoch das Enzyklopädie-Schreiben den Experten überließen.

Während eines Frühstücks Anfang Mai bat ich Cauz um eine Analogie, die Britannica und Wikipedia zu vergleichen. "Wikipedia verhält sich zur Britannica wie das „amerikanische Idol“ zur „Juilliard School“, schickte er mir e-Mail am nächsten Tag. Einige Tage später wählte auch Wales eine musikalische Metapher. "Wikipedia verhält sich zur Britannica wie der Rock´n Roll zum einfachen Zuhören," schlug er vor. "Sie kann nicht so glatt sein, aber sie erschreckt die Eltern, und ist schlußendlich viel intelligenter." Er hat Recht, den Schreckensfaktor über die Genauigkeit zu stellen. „Wie die erste Encyclopédie (Diderots), ist Wikipedia eine Kombination von Manifest und Referenz. Der Peer Review/Gruppenrevisionsprozess, die Mainstream-Medien und die Regierungsagenturen haben uns in einen Abwassergraben befördert. Wir sind nicht nur mit den Behörden ungeduldig, wir sind auch in einer Stimmung, zu widersprechen. Wikipedia bietet endlose Gelegenheiten zur Selbstverwirklichung. Es ist das Kind der Liebe von lesenden Gruppen und der Chaträume, es ist ein zweites Zuhause für jedermann, der (schon einmal) eine Amazon-Buchbesprechung geschrieben hat. Dieses ist nicht das erste Mal, daß die Enzyklopädie-Hersteller sich die Kontrolle von einer Elite geschnappt haben, oder ein rauhes Licht auf die Gewißheit werfen. Jimmy Wales mag der neue Henry Ford sein oder auch nicht, jedenfalls hat er uns mit Werkzeugausstattung hinunter auf die Straße geschickt, ohne Rückfahrticket mit der Eisenbahn. Wir sind jetzt auf der offenen Straße, ohne (Lok-) Führer und Fahrpläne. Wir sind frei, unseren eigenen Kurs zu entwerfen, und auch freigegeben, um berühmt zu werden, oder genauso frei, um rettungslos verloren zu sein.

Ihre Wahrheit, oder meine?


"Ich weiß, daß ich nichts weiß."