Schmerzmessung muss berücksichtigen, dass die Schmerzempfindung zum einen subjektiv ist (von Person zu Person verschieden, von körperlichen und äußerlichen Faktoren abhängig, nicht zu jeder Stunde des Tages oder zu jedem Tag der Woche gleich), zum anderen unterschiedliche Ausprägungseigenschaften hat. So ermöglicht die Vorgabe einer Linie mit „0 = Kein Schmerz“ und „100 = maximaler Schmerz“, nur ein unzureichendes, stark vereinfachtes Ergebnis, welches wenig aussagt und keine zuverlässig vergleichende Einordnung des empfundenen Schmerzes bietet.
Schmerzforscher haben daher schon seit längerem vorgeschlagen, den Schmerz mittels eines Fragebogens zu messen. Dies ist heute internationaler Standard in der Versorgung von Schmerzpatienten, insbesondere bei einer länger bestehenden Schmerzproblematik.
Ein Schmerzfragebogen sollte die Vielfalt des Schmerzgeschehens berücksichtigen, er soll möglichst fehlerfrei konstruiert und in Vorstudien bewährt sein sowie für den Laien klar verständlich und praktisch handhabbar. Er muss die durch den Schmerz eingeschränkte Lage des Patienten beachten, darf also nicht zu lang und anstrengend sein. Und er muss eine verlässliche fachliche Beurteilung und Interpretation der Messergebnisse gewährleisten.
Für den deutschen Sprachraum gilt die „Schmerzempfindungsskala“ – abgekürzt „SES“[1][2]– von E. Geissner (Manual, Fragebogen und weitere Unterlagen im Set oder einzeln erhältlich über die Deutsche Testzentrale www.testzentrale.de bei Hogrefe Göttingen) als modernes Verfahren, welches sich in Wissenschaft und Praxis bewähren konnte, demzufolge breiten Einsatz findet und den genannten Anforderungen entspricht.
Die Bearbeitungszeit der Schmerzempfindungsskala ist nicht länger als 5 Minuten. Es werden 24 Aussagen vorgegeben, die pro Aussage mit einer Ziffer zu beurteilen sind („1 = trifft für mich bzw. für meinen Schmerz nicht zu“ bis „4 = trifft für mich bzw. meinen Schmerz genau zu“). Die Vorgabe ist entweder per Papierbogen (Ausfüllen mit Kugelschreiber) oder in einer Computerversion (Mausklick).
Die Schmerzempfindungsskala unterscheidet zwischen „sensorischem Schmerz“ und „affektivem Schmerz“. Diese werden als „Schmerzdimensionen“ bezeichnet. Für beide Dimensionen wird jeweils ein separater Wert bestimmt. „Sensorischer Schmerz“ thematisiert verschiedene Eigenschaften der Empfindung wie „klopfender Schmerz“ (Gesichtspunkt der Rhythmik), „stechender Schmerz“ (Gesichtspunkt des sogenannten lokalen Eindringens) und „brennender Schmerz“ (Gesichtspunkt der Temperatur). Bei „affektivem Schmerz“ hingegen wird festgestellt, wie quälend, lähmend oder marternd der Schmerz empfunden wird.
Die Auswertung der Angaben im Fragebogen ist einfach (Dauer 2 Minuten) und geschieht mithilfe des Manuals. Da die Schmerzempfindungsskala an einer sehr großen Patientenstichprobe mit unterschiedlichsten Schmerzen (Kopfschmerzen, rheumatische Schmerzen, orthopädische und mehrere andere Schmerzformen) „geeicht“ wurde, sind vergleichende Einordnungen der ermittelten Befunde verlässlich möglich. Die individuellen Werte eines Patienten können im Spektrum der Schmerzpatienten / generell beurteilt werden. Man kann also konkret daraus ersehen, wo ein gemessener Wert im Vergleich zu den übrigen Werten der großen Ausgangsstichprobe liegt. Ferner sind vor allem – was von praktischem Nutzen ist – die Fortschritte in Therapieverläufen (medikamentös, manualtherapeutisch, operativ, psychotherapeutisch) methodisch gesichert dokumentierbar. Auch gibt es Richtwerte (sogenannte Normen) für unterschiedliche Krankheiten. Die Interpretation geschieht nach Manual-Anleitung.
Die Konstruktionsbasis folgt aktuellen messmethodischen Prozeduren („LISREL“) der schwedischen Statistiker Jöreskog und Sörbom. Für die Schmerzempfindungsskala liegen zahlreiche Forschungsbefunde zur inneren Zuverlässigkeit des Fragebogens und zu Vergleichen mit bestimmten externen Kriterien vor.
Der Fragebogen ist für jedes Alter ab ca. 15/16 Jahren geeignet. Er ist aufgrund seiner Kürze auch prinzipiell in ein Set mit weiteren relevanten Messungen einbaubar.
Abschließend sind drei Einschränkungen zu erwähnen:
Nach meiner Erfahrung muss ein relativ gutes Verständnis der deutschen Sprache gegeben sein, da die schmerzbeschreibenden Begriffe der Schmerzempfindungsskala fein differenzieren.
Wie erwähnt, ist die Schmerzangabe in einem Fragebogen subjektiv. Daher ist nie ausgeschlossen, dass die Zahlenwerte eventuell - mehr oder weniger absichtsvoll - übertrieben stark angekreuzt werden. Die Schmerzempfindungsskala ist daher nicht als alleinige Methode geeignet, Patienten „herauszufiltern“, die bestimmte Zwecke mit der hohen Ankreuzung von Aussagen verfolgen (z.B. im Rahmen von Begutachtungen: Schmerzensgeld- oder Rentenzahlungen; oder bei Verlängerung von Krankschreibungen etc.). Ebenso ist prinzipiell auch die Untertreibung möglich, etwa wenn die Schmerzen aufgrund von extremem Engagement an anderer Stelle (Beruf, Sport) nicht in ihrem vollen Ausmaß eingestanden werden. Auch diese Fälle sind mithilfe der Skala nicht gut erkennbar.
Und schließlich kann mittels der Schmerzempfindungsskala auch nicht festgestellt werden, inwieweit ein Schmerz „objektiv“ oder „nur psychisch“ (oder gar „nur eingebildet“) ist, denn diese Entweder-Oder-Auffassung hat sich in der heutigen Schmerzforschung überlebt. Schmerz ist ein subjektives und vielfältiges Geschehen.
Dipl.-Psych. Lars Biedermann
- ↑ +49 551 999 50 0, +49 551 999 50 111, Info@hogrefe.de: Hogrefe Verlag. Abgerufen am 9. September 2019 (deutsch).
- ↑ +49 551 999 50 999, +49 551 999 50 880 (Software), +49 551 999 50 998, Info@testzentrale.de: testzentrale.de. Abgerufen am 9. September 2019 (deutsch).