Casimir Graf zu Sayn-Wittgenstein-Berleburg (* 31. Januar 1687 in Berleburg; † 5. Juni 1741 ebenda) war ab 1712 Landesherr der Grafschaft Sayn-Wittgenstein-Berleburg und Förderer eines radikalen Pietismus und der Berleburger Bibel.
ADB
BearbeitenUm das Jahr 1700 bildete sich in Berleburg, dem südöstlichsten Winkel Westfalens, eine „philadelphische Genossenschaft“ von Pietisten und Schwärmern unter dem Schutze der verwittweten Gräfin Hedwig Sophia von Wittgenstein (1694 bis 1712), welche als Vormünderin ihres Sohnes regierte. Als aufrichtig fromme Frau verwandte sie die größte Sorgfalt auf die Erziehung ihrer Kinder und namentlich des Erbgrafen Casimir, mit welchem wir uns hier zu beschäftigen haben. Graf Casimir erblickte das Licht der Welt am 31. Januar 1687. Kaum [630] achtzehnjährig wurde der Jüngling, nachdem er schon auf den nahen Universitäten Marburg und Gießen gewesen war, im Jahre 1705 nach Halle geschickt, um dort den Einfluß des frommen Juristen Stryk und August Hermann Francke’s zu erfahren. Auf seinen Reisen durch Holland und England noch vollends „bekehrt“, lebte er nach seiner Rückkehr in der Heimath in Herzensgemeinschaft mit seiner Mutter und hing mit innigster Verehrung an ihr, auch nachdem sie sich auf ihren Wittwensitz Christianseck, eine Stunde von Berleburg, zurückgezogen hatte, wo sie 1738 starb. Graf Casimir vermählte sich im J. 1711 mit der gleichfall pietistisch frommen Gräfin von Isenburg-Wächtersbach, trat im Jahre darauf, 1712, die Regierung der Grafschaft Berleburg an und führte sie bis an seinen Tod (1741). Er regierte sein Land ganz im „philadelphischen“ Sinne seiner Mutter, ein ganzer Christ nach pietistischer Art, wie ihn Göbel (s. u.) beschreibt. Neben dem göttlichen Worte dienten ihm die Schriften der Mystiker von Tauler bis herauf zur Frau von Guyon und die der Pietisten seiner Zeit zur Erbauung. Die Anmerkungen zur heiligen Schrift von Frau v. Guyon hat er selbst in zwölf handschriftlichen Bänden übersetzt, damit sie in der „Berleburger Bibel“ verwendet würden. Seit dem Jahre 1724 führte er bis an seinen Tod ein Tagebuch über sein inneres Leben, in welchem er über jede seiner Sünden mit sich ins Gericht ging. Es war natürlich, daß sich der Graf mit gleichgesinnten Beamten umgab. Außer ihnen fanden aber noch zahlreiche andere Gesinnungsgenossen in Berleburg Unterkommen, besonders seit 1724, wo sich dort eine recht eigentlich philadelphische Verbrüderung unter den Erweckten bildete, eine Vorläuferin der Zinzendorf’schen „Brüdergemeinde“, von der sie sich aber durch ihre gänzliche Formlosigkeit, ja Ordnungslosigkeit unterschied – ein Umstand, der wieder ihren Verfall nothwendig nach sich zog; weil ohne Ordnung keine Gemeinschaft auf die Dauer bestehen kann. Aus dieser philadelphischen Vereinigung ging damals, 1726–1742, das große Unternehmen der mystischen Berleburger Bibelübersetzung und -erklärung hervor, acht Bände, herausgegeben von dem aus Straßburg nach Berleburg geflohenen gelehrten Magister Johann Heinrich Haug († 1753), den Graf Casimir zu sich auf das Schloß genommen hatte und zeitlebens bei sich behielt. A. Ritschl bezeichnet sie als „das abschließende Document des mystischen Radicalismus und Indifferentismus“ (Gesch. d. Pietismus II, 1, 351). Ihr Titel lautet „Die h. Schrift Alten und Neuen Testaments, nach dem Grundtext aufs neue übersehen und übersetzt“ usw. (Berleburg 1726). Folio. – Achter Theil (1742). Aber außer den braven, stillen und in sich gekehrten Separatisten sammelten sich auch die Ultras des Pietismus, jene Männer von verwildertem Subjectivismus, die vom Pietismus nur die Kirchenfeindschaft übernommen hatten und nunmehr in gemeine Freigeisterei verfielen, wie Dippel und Edelmann. Aber ihnen allen gewährte der edle Graf in ehrlicher Toleranz Aufenthalt in seinem Lande; er selbst das Muster christlicher Duldsamkeit. Aus seinem Familienleben ist noch zu berichten, daß er in zweiter Ehe mit einer Tochter des Präsidenten des Reichshofrathes v. Wurmbrandt verheirathet war, und daß er in den letzten 16 Jahren seines Lebens körperlich viel gelitten hat; aber solange als möglich, ließ er seinen separatistischen Prediger Tuchfeld in seinem Zimmer vor sich predigen. Am 5. Juni 1741 starb er. Es liegt nahe, diesen Grafen mit seinem Gesinnungs- und Standesgenossen Zinzendorf zu vergleichen: Gleich innerlich gerichtet wie Zinzendorf war Graf Casimir weniger begabt, aber auch weniger mit Fehlern belastet als er; auch wollte Graf Casimir als Landesherr seine Regentenpflichten nicht vernachlässigen, während Zinzendorf nur Grundherr war und sich von den damit gegebenen Geschäften möglichst zurückzog. Endlich war Graf Casimir wol ein Begünstiger der Separatisten, aber eine von der Kirche äußerlich losgelöste Gemeinde hat er weder hergestellt, noch hätte er überhaupt dazu die [631] Hand gereicht. Er blieb ganz auf dem Standpunkte des alten Pietismus, dem es genug war, „ecclesiolae in ecclesia“[WS 1] zu bilden. In dieser Gesinnung hat der Graf mächtig für die Vertiefung des religiösen Sinnes gewirkt, aber unbewußt auch demjenigen Subjectivismus vorgearbeitet, welcher mit dem Kirchenthum überhaupt brach. Nach seinem Tode trat Berleburg wieder in das alte Gleis kirchlicher Religiosität zurück, da die Begünstigung der Fremden unter seinem Nachfolger aufhörte.
BBKL
BearbeitenSAYN-WITTGENSTEIN-BERLEBURG, Casimir Graf zu, reg. pietistisch geprägter Graf in Berleburg, * 31.1. 1687 in Berleburg (Vater: Ludwig Franz zu Sayn-Wittgenstein-Berleburg, Mutter: Hedwig Sophie, geb. zur Lippe-Brake), seit 1712 regierend, † 5.6. 1741 in Berleburg. Gewährte als toleranter Landesherr vielen religiös Verfolgten Schutz in der Grafschaft Sayn-Wittgenstein-Berleburg und förderte die radikalpietistische Druckerei und die pietistische Frömmigkeit in Berleburg. - Als der Berleburger Erbgraf C. zu Sayn-Wittgenstein-Berleburg 7 Jahre alt war, starb bereits sein Vater Graf Ludwig Franz. C. hatte noch vier jüngere Geschwister. Die Vormundschaft übernahmen seine Mutter und deren Bruder, Graf Rudolf zur Lippe-Brake. Hedwig Sophie ließ den jungen Grafen ganz im religiösen Sinne am Berleburger Hof erziehen. Zur `Sturm und Drangzeit' des Berleburger Radikalpietismus geschah dieses vornehmlich durch den Kaplan Dietrich Otto Schmitz und den Berleburger Hofmeister Aschoff. Beide wurden Ende April 1700 von Graf Rudolf zur Lippe-Brake amtsentsetzt und des Landes verwiesen. Dennoch hielt Casimirs Mutter weiter an einer Erziehung im pietistischen Sinne fest. C. studierte dann für eine kurze Zeit in Marburg und Gießen, bevor er im Januar 1705 in Begleitung des neuen Hofmeisters Uffelmann zur Universität Halle/Saale wechselte. Auf Wunsch der Mutter sollte C. dort neben Jura und Staatswissenschaft auch theologische Vorlesungen von `gottesfürchtigen' und `erleuchteten' Männern (u.a. August Hermann Francke) anhören. Da in Halle das `rechte' Evangelium verkündet wurde, war dieses auch der Hauptgrund für Hedwig Sophie, den Erbgrafen nicht weiter an den benachbarten hessischen Universitäten studieren zu lassen. Doch die Rechnung der Gräfin ging anfangs nicht auf. Denn der Begleiter von C., der Hofmeister Uffelmann, war ein lebenslustiger Mann, der gern Karten spielte. Den Sommer 1705 verbrachte C. mit viel galanter Lebenslust in Halle, zu den Erbauungsstunden und Versammlungen von Francke und Anton ging er nur sporadisch. Im Herbst wurde Uffelmann von Hedwig Sophie entlassen und durch einen neuen Begleiter namens von Wurm aus Nordhausen abgelöst. Von Wurm, ein frommer Mann, blieb noch viele Jahre bei Graf C.. Von 1706 bis 1708 unternahm der junge Graf mit seinem neuen `Betreuer' die für den damaligen Adel übliche Kavalierstour, die ihn 1706/07 in das calvinistisch geprägte Holland führte. 1707/08 verbrachte er überwiegend in England. In London kam er mit vielen Mitgliedern der philadelphischen Versammlungen zusammen. Diese Zusammenkünfte und der lebendige Glaube der Philadelphier hinterließen eine so tiefe Wirkung bei ihm, dass wir hier seine `Bekehrung' festmachen können. Die Toleranz und Nächstenliebe, die er hier kennenlernte, sollten ihn nachhaltig prägen. Den Abschluß der Reise rundete ein Aufenthalt in Frankreich und der Schweiz ab. - Am 18.2. 1711 vermählte er sich mit Marie Charlotte von Ysenburg-Büdingen (1687-1716), gleichfalls eine pietistische Gräfin. 1712 trat er die Regierung in Berleburg an. Seine Mutter Hedwig Sophie zog sich auf ein gräfliches Gut in Christianseck zurück, so daß C. ohne direkte Einflußnahme anderer sein Ländchen regieren konnte. Mit dem frommen Hofprediger und ersten Pfarrer von Berleburg, Ludwig Christof Schefer, verstand er sich glänzend und machte den Berleburger Hof und seine Grafschaft Sayn-Wittgenstein-Berleburg immer mehr zu einem pietistischen Hort. So wurden Versammlungen, Bibelstunden und vieles mehr gemäß den philadelphischen Idealen eingeführt. Religiös Verfolgten aus ganz Deutschland, Frankreich, Holland und der Schweiz gewährte er Asyl und Religionsfreiheit. So überließ er beispielsweise einer aus Memmingen vertriebenen Inspiriertengruppe im Oktober 1717 einen Teil des gräflichen Gutes Homrighausen. Ab 1714 ließ C. eine Druckerei in Berleburg errichten. 1717 erbaute er für den stetig anwachsenden Papierbedarf eine Papiermühle im Dörfchen Raumland. Mit der Straßburger Drucker- und Verlegerfamilie Haug, die sich um 1720 in Berleburg niederließ, erlebte die Druckerei eine regelrechte Blüte, vor allem durch das Publizieren radikalpietistischer Literatur. - Am 26. Mai 1717 heiratete C. zum zweiten Mal; seine erste Gattin Marie Charlotte war ein knappes Jahr zuvor verstorben. Die aus Wien stammende Tochter des Reichshofrates Graf Johann Wilhelm von Wurmbrandt, Esther Maria Polyxena von Wurmbrandt-Stuppach (1696-1775) war lutherischen Bekenntnisses. Sie brachte ein großes Vermögen in die Ehe mit. C., obschon sehr fromm und pietistisch geprägt, war dennoch ein typischer Barockherrscher. So liebte er die Jagd, Musik, Prunk und Pracht in aller Couleur. Dies zeigt sich besonders an seiner Residenz in Berleburg. Unter seiner Ägide wurden dort in den dreißiger Jahren die großen barocken Erweiterungen erstellt. Auch ließ er mehrere herrschaftliche Häuser in seiner Grafschaft errichten, die heute noch charakteristisch für das Bad Berleburger Stadtbild sind, so u.a. die Ludwigsburg und die Carlsburg in Berleburg, daneben auch hochgräfliche Jagdhäuser, u.a. in Röspe und im Casimirstal. Die Höhendörfer Langewiese, Mollseifen, Neuastenberg und Hoheleye gründete C. 1713. Das Vermögen seiner zweiten Gemahlin ermöglichte diese baulichen Maßnahmen. - Graf C. leistete auch die Anschubfinanzierung zu dem Großprojekt `Berleburger Bibel'. Auch verstand er es, durch diplomatisches Geschick die drohende Zensur und das damit verbundene Reichszensuraufsichtsverfahren durch das Corpus Evangelicorum in Regensburg abzuwenden. Die Berleburger Bibel, wohl Graf C.s Lieblingsprojekt, stand berechtigter Weise unter dem Vorwurf, heterodoxes und radikalpietistisches Gedankengut zu vermitteln. Von 1726-42 erschienen in Berleburg die acht umfangreichen Bände dieses Werkes. Es handelt sich hierbei um eines der bedeutendsten Dokumente aus der Zeit des radikalen Pietismus. Bezeichnend für die Berleburger Bibel ist die möglichst wortgetreue Übersetzung aus den Urtexten und besonders die reiche Kommentierung der biblischen Schriften. Der Berleburger erste Pfarrer und Hofprediger Ludwig Christof Schefer, Mitbearbeiter und Herausgeber der sogenannten `Marburger Bibel' (1712) gab zu diesem Projekt wohl den Anstoß. Durch das kaufmännische Geschick der Haugfamilie konnte es realisiert werden. Graf C. war auch unmittelbar in die Entstehung dieses opulenten Werkes involviert, da er für die Bearbeiter die Kommentare von Madame Guyon aus dem Französischen ins Deutsche übersetzte. Viele Mitarbeiter (u.a. Johann Christian Edelmann) und Wissenschaftler (u.a. Johann Conrad Dippel) versammelte er an seinem Berleburger Hof und sorgte hier für deren Kost und Logis. - Im September 1730 empfing er Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf, der in Berleburg eine philadelphische Versammlung im herrnhutischen Sinne gründete. Diese bestand allerdings nur für kurze Zeit, da sich die Verhältnisse von Herrnhut nicht direkt auf Berleburg übertragen und realisieren ließen. Der Berleburger Hof entwickelte sich unter Graf C.s Regierung immer mehr zu einem philadelphisch geprägten Ort (radikal-) pietistischen Gedankengutes. Dennoch kann man Graf C. selbst nicht als Separatisten und Radikalpietisten bezeichnen. Eher war er ein toleranter Landesherr, von den christlichen Idealen der Nächstenliebe beseelt, der Abweichlern von der Amtskirche und religiös Verfolgten Zuflucht in seiner Grafschaft anbot und gewährte. Graf C. blieb seiner evangelisch-reformierten Kirche treu bis zu seinem Tod am 5. Juni 1741. Gerade die letzten zwei Lebensjahrzehnte litt Graf C. unter starken gesundheitlichen Beeinträchtigungen (Gicht), wie seine ausführlichen Tagebuchaufzeichnungen verraten. Er war die Stütze und der Garant für die radikalpietistische Bewegung in der nördlichen Grafschaft Wittgenstein. Ohne seine Toleranz und Förderung wäre wohl niemals solch ein Projekt wie die Berleburger Bibel möglich gewesen.
Literatur
Bearbeiten- Ulf Lückel: Sayn-Wittgenstein-Berleburg, Casimir Graf zu. In: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon (BBKL). Band 19, Bautz, Nordhausen 2001, ISBN 3-88309-089-1, Sp. 1196–1202.
- Paul Tschackert: Wittgenstein: Casimir Graf von W.-Berleburg. In: Allgemeine Deutsche Biographie (ADB). Band 43, Duncker & Humblot, Leipzig 1898, S. 629–631.