Euclides da Cunha, etwa im Jahr 1900
Situationskarte von Canudos

Krieg im Sertão (brasilanisches Original «Os Sertões») ist der deutsche Titel der Erzählung von Euclides da Cunha über die Vernichtung einer Bauernbewegung um den Laienprediger Antonio Vicente Mendes Maciel in Canudos, dem brasilianischen Hinterland, in den Jahren 1896 bis 1897. Hinter diesem vordergründigen Vernichtungskrieg stellt Cunha mittels zahlreicher wissenschaftlicher und historischer Bezüge dar, wie die Natur eine lokale Bevölkerung prägte, welche Rasse der damals noch jungen brasilianischen Nation zugrundegelegt werden sollte und wie sich die Zivilisation der Küstenstädte zur Barbarei des Sertão, dem Hinterland im Nordosten Brasiliens, verhielt. Der Autor sah sein Werk als Beitrag zur Frage nach der brasilianischen Identität.

„Das Buch von Herrn Euclydes da Cunha, das so viele bemerkenswerte Titel trägt, ist zugleich das Buch eines Wissenschaftlers, eines Geographen, eines Geologen, eines Ethnographen; eines Denkers, eines Philosophen, eines Soziologen, eines Historikers; und eines Mannes der Empfindung, eines Dichters, eines Romanciers, eines Künstlers, der zu sehen und zu beschreiben versteht, der sowohl die Aspekte der Natur als auch die Berührungen des Menschen spürt und erschaudert, der bis in die Tiefe seiner Seele berührt und zu Tränen gerührt ist angesichts des menschlichen Leids, sei es durch die fatalen Bedingungen der physischen Welt, oder die "Dürren", die das Hinterland von Nordbrasilien verwüsten, oder die Dummheit oder Schlechtigkeit der Menschen, wie z. B. die Canudos-Kampagne.“

José Veríssimo: Correio da Manhã, vom 3. Dezember 1902[1]
 
Typische Caatinga-Dornsa­vanne in Brasilien

Das Werk ist in drei Hauptteile gegliedert. Diese sind überschrieben mit Das Land, Der Mensch und Der Kampf. Diese Dreiteilung orientiert sich am deterministisch formulierten Modell von Hippolyte Taine. Demnach wird jedes soziale und geistige Phänomen geprägt von „Rasse, Milieu und Moment“.

Das Land

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Im ersten Teil skizziert Cunha in Anlehnung an Arbeiten von Emmanuel Liais und Charles Frederic Hartt das geologische Relief, die Bodenbeschaffenheit, das semi-aride Klima, die Vegetation der caatinga und das Problem der Dürren im brasilianischen Nordosten. Er referiert Hegels Konzept, wonach es drei globale Kategorien für grundlegende Daseinsbedingungen gebe: erstens die Steppen, zweitens die fruchtbaren, reichlich bewässerten Täler und drittens die Küstenstriche und Inseln. Diese Bedingungen würden den Menschen in Kombination mit anderen Bedingungen prägen und zu ethnischen Differenzierungen führen. Der Sertão gehöre im Sommer scheinbar der ersten Kategorie an und im Winter der zweiten. Zudem schaffe die Natur keine Wüsten, sie bekämpfe sie. Die Ödgebiete im Sertão und anderswo seien das Ergebnis der jahrundertelangen Tradition der Rodung, im Sertão insbesondere der Brandrodung, die Cunha ein unheilvolles Vermächtnis der Eingeborenen nennt. Die herrschenden Lebensbedingungen des Sertão bezeichnet Cunha als das uralte Martyrium des Landes.[2] Krieg im Sertão, S. 61-74

Der Mensch

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Ortschaften auf den Anmarschwegen nach Canudos (Belo Monte): Queimadas, Cansa­ção, Monte Santo, Cumbe, Jeremoabo und Zusammenstössen mit den Aufständischen: Cambaio, Uauá
 
Karte der Kriegsoperationen gegen Canu­dos von 1897; rot die Anmarschrouten der 3. und 4. Expedition: Marsch der Heeressäule Barbosa (links, 3. Expedition); der Heeressäu­le Moreira César (Mitte, 4. Expedition); der Heeressäule Savaget (rechts, 4. Expedition)

Im zweiten Teil seines Werks beschreibt Cunha die Entstehung der brasilianischen Mischrassen. Er führt sie auf drei wesentliche Bevölkerungselemente zurück: Erstens auf die eigenständige Rasse des homo americanus. Diese Ureinwohner wie beispielsweise die Menschen der Lagoa Santa, der sambaquís oder der weit verbreiteten Tupís gehören laut Cunha zu aussterbenden Spielarten alter, autochthoner Rassen Brasiliens. Zweitens mischten sich die Afrikaner, der homo afer, dazu. Seine vorherrschenden Eigenschaften seien geprägt von «ausgeglühten und barbarischen Landstrecken, wo die natürliche Auslese in stärkerem Maße als sonstwo wild und gewaltsam vor sich geht.» Der dritte Einfluss rühre vom aristokratischen Faktor der Portugiesen, die mit der quecksilbrigen Denkart der Kelten verbunden seien.[3] Krieg im Sertão, S.78 In Anlehnung an das Konzept des Rassenkampfes des polnisch-österreichischen Soziologen Ludwig Gumplowitz übernimmt er dessen sozialdarwinistisch begründete Rassentheorie, wonach sich stärkere soziale Gruppen auf Kosten schwächerer Gruppen durchsetzen würden.[4] Allerdings sei es ein Irrtum zu glauben, dass sich in Brasilien eine homogene brasilianische Mischrasse entwickle. Denn die Entwicklungsstufen der einzelnen Elemente seien unterschiedlich wie auch ihre Ausbreitung in Brasilien durch natürliche Besiedlung oder gewaltsame Eroberung. Auch die physischen Lebensbedingungen Brasiliens, das drei Klimazonen umfasst, eine tropische, eine gemässigte und eine subtropische, sorge dafür, dass sich unterschiedliche Menschenschläge herausbilden würden. Es gebe keine rassische Einheit in Brasilien. Es bleibe nur die Zivilisation, die zur Bildung einer Nation führe. Krieg im Sertão, S. 82 Die sehr unterschiedlichen Lebensbedingungen in den geografischen und klimatischen Zonen führen, wie Cunha weiter ausführt, zu einer sehr ungleichmäßigen Rassenverteilung.Krieg im Sertão, S. 101 Diese lasse sich grob unterteilen in die Bevölkerungsentwicklung im Norden und im Süden, woher die bandeirantes in das brasilianische Hinterland eindrangen. Für den Kontakt zwischen den nördlichen und den südlichen Bevölkerungsgruppen spiele der Fluss São Francisco eine zentrale Rolle, weil er im Süden entspringt und im Nordosten in den Atlantik mündet und grösstenteils schiffbar war. Im äußersten Norden des Sertão, zwischen dem Lauf des Vaza-Barrís und dem des Parnaiba habe sich aufgrund der Isolation und des physischen Milieus eine Mischrasche zu einer ausgebildeten ethnischen Subkategorie entwickelt: zum Sertanejo des Nordens.[5] Krieg im Sertão, S. 121-124 «Der Sertanejo ist, vor allem anderen, der Starke. Er zeigt keineswegs die rachitische Auszehrung der neurasthenischen Mischlinge des Küstenstrichs.» (Krieg im Sertão, S. 131, vgl. auch Roberto Ventura, S.48) Seine Erscheinung wirke aber, besonders im Vergleich mit der ritterlichen Erscheinung des gaúcho des Südens, auf den ersten Blick ungelenkt, krumm, phlegmatisch, ärmlich. Wenn es aber darauf ankomme, sei der sertanejo äußerst zäh, widerstandsfähig, wendig und ausdauernd, weil er von den im Sertão herrschenden Umweltbedingungen so geformt worden sei. (Krieg im Sertão, S. 131-134) Seine Eigenschaften zeigten sich beispielhaft in seiner charakteristischen Tätigkeit als Viehtreiber, als vaqueiro. Als solcher trägt er die Verantwortung für eine zahlreiche Viehherde eines Großgrundbesitzers. Seiner faktischen Leibeigenschaft unbewusst, verhält er sich seinem Arbeitgegeber gegenüber absolut loyal. Seine Rinder mischen sich mit anderen. In der sogenannten vaquejada sondert er gemeinsam mit Kollegen seine Rinder aus. Denn er kennt jede Kuh, jedes Kalb und jeden Stier. Er begleitet seine Herde über weite Strecken, pflegt verwundete Rinder und erjagd ausgebrochene Rinder oder führt die in verschiedene Richtungen durchgebrannte Herde wieder zusammen. (Krieg im Sertão, S. 144-148)

Der Kampf

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Euclides da Cunha erinnert einleitend an den milieubedingten Wandel der kernigen und friedlichen Hirtengesellschaft zu einer Gesellschaft, die geprägt wurde durch liederliches Nomadentum, stürmische Kampfeslust und eigenartigen, händelsuchenden Müßiggang. Zuerst wurde der Sertão von den Goldsuchern, den garimpeiros, zur Wüste gemacht und die ansässige Bevölkerung, die sertanejos, von derem umtriebigen Müßiggang angesteckt. Als die Goldausbeute immer unergiebiger wurde, blieb den Leuten kein anderer Ausweg als unverhohlenes Banditentum. Aus dem garimpeiro ging der jagunço, der Plünderer der Städte, hervor. Der jagunço verdingt sich an die lokalen Machthaber. Diese statteten neu rekrutierte jagunços mit einem Gewehr samt Munition aus und gewährten Straflosigkeit. Die Truppen der jagunços verschafften sich mittels Raubzügen und Plünderungen weitere Mittel und sicherten den Machtanspruch ihres Auftraggebers über die gepünderten Dörfer und Städte. Gestützt auf das Banditentum wurde die Unordnung zum Normalzustand. Die Staatsgewalt begegnete den verfeindeten Lagern als neutraler Makler mit einer diplomatischen Vermittlungsaktion zwischen kriegführenden Mächten. Krieg im Sertão, S.249-254 «Der bewaffnete Arm der Gerichtsbarkeit verhandelt mit den Verbrechern, wägt die Bedingungen beider Seiten gegeneinander ab, läßt sich auf Erörterungen ein, vermeidet jedes Ultimatum und ratifiziert am Ende regelrechte Friedensverträge, welche die Souveränität und Straflosigkeit der Pistolenreiterherrschaft sanktionieren.» Krieg im Sertão, S. 255 Mit zunehmendem Übergewicht der Angreifer fanden barbarische Verhaltensweisen auf Seiten der staatlichen Ordnungskräfte statt. Nie wurden Friedensverhandlungen versucht. Gefangene, die meisten am Verdursten und krank, wurden bestialisch umgebracht. «Die Sertanejos, wiewohl um drei Jahrhunderte zurückgeblieben, übertrumpften die Soldaten keineswegs im Verüben derlei barbarischer Greuel.»[6] Bis auf den letzten Mann wurde gekämpft. «Es waren ihrer nur vier: ein Alter, zwei ausgewachsene Männer und ein Knabe, vor denen fünftausend Soldaten wütend brüllten.» Diese Letzten fielen am Abend des 5. Oktober 1897. «Wäre es im übrigen nicht eine Zumutung für die ungläubige Nachwelt, wenn wir in allen Einzelheiten erzählten, wie Frauen ihre Kleinen umschlangen und sich in die Flammen des eigenen Heimes stürzten? …»[7] Und um diesmal den Sieg auch propagandistisch abzusichern, wurde der einige Tage früher an einer Verletzung verstorbene Antonio Ratgeber exhumiert und fotografiert und schließlich «trennte ein geschickt geschwungenes Messer ihn so, wie er dalag, vom Rumpfe ab; und das grausige Antlitz, von Grind und Eiter verklebt, erschien erneut vor den Triumphatoren. Anschließend brachte man den Schädel in die Küstenregion, wo jubende Volksmengen vor Begeisterung rasten.» Tags darauf zerstörte man Canudos vollends. 5200 Häuser wurden dem Erdboden gleichgemacht.[8]

Die literarische Qualität

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Der Erzähler

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Bereits im Vorwort zum Krieg im Sertão erklärt Cunha seine erzählerische Haltung und seinen theoretischen Bezugsrahmen, wie bereits erwähnt, zur sozialdarwinistischen Theorie von Ludwig Gumplowicz, wonach Staaten aus dem Kampf ethnischer Gruppen hervorgehen, und zur positivistischen These von Hippolyte Taine, wonach jedes soziale und geistige Phänomen geprägt sei von Rasse, Milieu und Moment: «[…] erzeigen wir uns […] der großartigen Auffassung Taines vom ehrlichen Erzähler würdig, der die Geschichte ins Auge faßt, wie sie es verdient:». Damit ist die Rolle des Erzählers angekündigt, der Gefühle, Sitten und die Seele eines Phänomens darstellen soll, ohne diese durch Faktentreue um der Faktentreue willen zu entstellen.[9] (S. 8, hier Kurzreferenz)

Mit seinen zahlreichen expliziten und impliziten Bezügen zu Wissenschaftlern und deren Thesen verschiedenster Disziplinen bewirkt der Erzähler, dass er vom Leser als wissenschaftlicher Referent mit profunden Kenntnissen, mit beinah enzyklopädischem Wissen anerkannt wird. Diese Wirkung fiel schon José Veríssimo, einem der ersten Rezensenten von Os Sertões auf, wie das einleitende Zitat dieser Seite deutlich macht. In seinem Nachwort zur deutschen Übersetzung charakterisiert Zilly die Haltung des Autors: «[… er] ist nicht nur zwischen Theorie und Sympathie oder zwischen den Kriegsparteien gespalten, sondern häufig zieht er sich zunächst hinter die Darstellungen anderer zurück. Er ist kein naiver Geschichtsschreiber, der behauptet, er könne die Ereignisse und Umstände als solche erzählen. Die Geschichten sind Teil der Geschichte. Er zitiert, paraphrasiert, resümiert, stilisiert schriftliche und mündliche Texte, bei deren Auswahl er keinerlei Vorbehalte kennt. Gerüchte, Artikel, Verlautbarungen, Wandkritzeleien, Legenden, Volkspoesie - alles verwendet er, oft unkommentiert, bisweilen ironisch, so daß diese Texte zu einem polyphonen Chor anschwellen, der die beim Autor selbst vorhandene Mehrstimmigkeit steigert, und er überläßt es dem Leser, sich ein Bild von der Wirklichkeit zu machen und die Wahrheit herauszufiltern.»[10] (Berthold Zilly: Nachwort. In: Krieg im Sertão, S.778). Das gilt auch für den Erzähler. Dieser gibt sich als Moderator zu erkennen, der die Erzählung steuert, von Abschweifungen wieder auf den Hauptstrang der Erzählung zurückführt und sich als „schlichten Protokollanten“ verstanden wissen will. «Doch beenden wir diese wenig reizvolle Abschweifung. Fahren wir fort, indem wir unser Augenmerk unmittelbar auf die eigentümliche Gestalt unserer zurückgebliebenen Landsleute richten. Und zwar ohne Methode, anspruchslos, unter Verzicht auf wohlklingende ethnologische Neologismen. […] Seien wir schlichte Protokollanten.»[11] (S.130) Dieser „schlichte Protokollant“ scheut sich nicht, mächtige Institutionen wie die Presse etwa im Hinblick auf die von ihr verbreitete Verschwörungstheorie im Nachgang zur dritten Expedition zu kritisieren: «Die Krise im Sertão auf irgendeine politische Verschwörung zurückzuführen bedeutete eine mit Händen zu greifende Verkennung der natürlichen Bedingungen unserer Abstammung.»[12] (S. 407) Er kritisiert vor allem das Heer bis hinauf zum Oberkommandierenden der vierten Expedition. Dessen Angriffsplan, Canudos mit zwei getrennten Heeressäulen von zwei Seiten anzugreifen, kritisiert er sarkastisch als «eine erweiterte Neuauflage voraufgegangener Fehler, mit einer einzigen Abwandlung: Statt einer würden nun zwei geballte Truppenmassen zugleich und geschlossen in die Falle des Sertão-Kriegs gehen.»[13] (S. 418) Und das vom Autor im Vorwort bereits vorweggenommene Urteil über den Vernichtungskrieg in Canudos: «Und er [der Feldzug] war - im vollen Sinne des Wortes - ein Verbrechen.» (S. 8) bestätigt der Erzähler mit dem allerletzten Kapitel, das aus einem einzigen Satz besteht: «Noch aber gibt es keinen Maudsley für die Tollheiten und Verbrechen der Nationen …».[14] S. 685)

Ambivalenz als Ordnungsprinzip

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Eine auffällige rhetorische Figur in Krieg im Sertão ist, wie Bartelt feststellt, die in einem Wort oder Ausdruck vereinigte semantische Gegensätzlichkeit. Dieses über den ganzen Text verstreute Stilmittel sorgt für eine Art beständiger Verfremdung. Der Kampf ums Dasein in der Natur wird als „lautlose Schlacht“[15] geführt, dem Betrachter wird Belo Monte als „Lehmhütten-Troja“ präsentiert, das „alt geboren“ wurde, [16] und nur „kapitulierte, um zu siegen“.[17] Bartelt bilanziert: «[…] alles, was sich auf den Sertão bezieht, tritt nur begleitet vom eigenen Gegensatz auf.»[18] Dieses Stilmittel des Gegensatzes gilt besonders prominent dem Sertanejo, dem Bewohner des Sertão. Er wird als „Herkules-Quasimodo“ vorgestellt, der «die typische Hässlichkeit der Schwachen [verrät]. Sein kraftloser, haltungsloser, beinahe schaukelnder und torkelnde Gang erscheint wie die Fortbewegung ausgerenkter Gliedmaßen.» Das entspricht aber nur dem ersten Eindruck. «Der Sertanejo ist, vor allem andern, der Starke», betont der Erzähler gleich zu Beginn des Kapitels „Der Sertanejo“.[19] Der Erzähler hinterlässt ein seltsames Paradox. Denn es wird nicht szenisch erzählt, was die Grundlage für die Anklage gegen die Streitkräfte bildet: Das Massaker an den Gefangenen und die totale Vernichtung der Siedlung. Diese Ereignisse extremer Barbarei werden eher angedeutet oder sozusagen aus journalistischer Distanz zusammengefasst.[20] Damit wird die anfängliche Zuordnung von Zivilisation für die Streitkräfte und den Staat auf der einen Seite und Barbarei, Fanatismus für die Anhänger von Antonio Ratgeber auf der anderen Seite am Ende der Erzählung auf den Kopf gestellt. Die Abklömmlinge der vermeintlich zivilisierten Küstenregion, die Heerestruppen, die Vertreter der Nation verhalten sich im Grunde mindestens so unzivilisiert und barbarisch wie die jagunços.

Dramatik als Ordnungsprinzip

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Zwerg-Cajú
 
Sogenannter Mönchskopf (Melocactus zehntneri ssp. douradaensis)
 
Sogenannte Höllenklatsche (Opuntia monacantha Haw)

Wie bereits erwähnt, orientierte sich Cunha nicht nur an wissenschaftlichen Konzepten. Er kannte auch literarische Werke, die ihm als Inspirationsquellen dienten und intertextuelle Bezügle ermöglichen. Der Erzähler von Krieg im Sertão eröffnet die geografische Beschreibung von Das Land mit einem Panoramaflug, der an den Steilhängen der Südküste Brasiliens beginnt und sich entlang der Küste von Rio de Janeiro und Espírito Santo fortsetzt, wo der jahrhundertealten Konflikt zwischen Meer und Land sichtbar ist. Der Flug führt in Richtung der bahianischen Küste und der Mündung des Rio São Francisco flussaufwärts weiter, bis er sich dem Tal des Vaza-Barrí-Flusses nähert und dort landet, wo sich die ungehemmte Wucht der Elemente spiegelt und wo sich der Krieg von Canudos im Verlauf der Erzählung entladen wird. Der Vogelflug ist ein dramaturgisch kluger Kunstgriff, der die Beschreibung der Geografie und des Schauplatzes des dramatischen Kriegs ermöglicht, geht aber darüber hinaus. Mit dieser Schilderung spielt der Erzähler auf die poetische Darstellung eines Sklavenschiffs aus der Vogelperspektive im Gedicht O Navio Negreiro (deutsch: Sklavenschiff) (1868) von Antônio de Castro Alves an. In 34 Strophen prangerte Castro Alves 1868 das Verbrechen des seit 18 Jahren offiziell verbotenen, aber weiterhin praktizierten Sklavenhandels an. Der belesene Leser versteht diese Anspielung in Krieg im Sertão als Hinweis des Erzählers auf das staatliche Verbrechen des Vernichtungskriegs in Canudos.[21]

Bereits in den Kapiteln über Das Land fällt die sprachliche Darstellung der Beschreibungen auf. Der Erzähler schildert selbst die leblose Natur als einen gewaltigen Vorgang, oft gewalttätig und damit bereits die Widerstandskraft der Einheimischen prägend. Die an sich statische Landschaft wird mit vielen Bewegungsverben beschrieben: Bergketten oder Hügel setzen sich fort, greifen aus, gehen unter, türmen sich auf. «Hier meißelt [die Natur] sich in die festen Platten der anstehenden Gneise; und die Ausläufer der Hochebenen verwerfen sich zu einer Falte zu Füßen des Mantiqueira-Gebirges, durch die sich der Rio Paraíba zwängt, oder lösen sich in Ableger auf, die, nachdem sie die schroffen Gipfel mit dem Itatiaia-Gebirge in ihrer Mitte geschultert haben, die alpinen Landschaften der Küste bis ins Herz von Minas tragen.»[22] E. da Cunha: Krieg im Sertão, S.13 Und mit Bezug auf die Fauna: «Von den Hundstagen gegeißelt, von den Sonnenstrahlen gezüchtigt, von den Gießbächen zernagt, von den Winden zerzaust, scheint die Pflanze [der Zwerg-Cajú, anacardium humile] unter den Schlägen dieser feindseligen Elemente sich zu ducken und auf die geschilderte Weise Deckung zu suchen, unsichtbar im Boden, über den sie nur die höchsten Triebe der majestätischen Krone erhebt.»[23] E. da Cunha: Krieg im Sertão, S. 51 Nebst der Sprache bewirken auch Metaphern Dramatik. Die Kakteenart der Mönchsköpfe mit ihren intensiv roten Blüten sind über den Stein verstreut und erzeugen "den sonderbaren Anblick abgeschlagener, blutiger Köpfe, wahllos hingeschleudert, in tragischer Unordnung."[24] Die dramatische Inszenierung der Natur nimmt, bemerkt Roberto Ventura, symbolisch die Enthauptungen der Gefangenen vorweg oder erinnert im Fall der Feigenkaktusart der Höllenklatsche, die «teuflisch mit Stacheln gespickt» ist[25], an die Passion Christi, ein beispielhaftes Opfer, das symbolisch auf den Tod der Jünger des Ratgebers vorausweist.[26] (Roberto Ventura, S. 47-48)

Unter dem Titel „Der Kampf“ beginnt der letzte und umfangreichste der drei Hauptteile. Die Erzählung folgt der historischen Chronologie und dem Ordnungsprinzip der dramatischen Steigerung. Auslöser für die erste Expedition war eine lokale Belanglosigkeit, das Aufgebot der staatlichen Sicherheitskräfte mit drei Offizieren, 113 Soldaten, einem Arzt und zwei zivilen Führern und der Dauer von knapp drei Wochen noch überschaubar. Die zweite Expedition zog mit einer verfünffachten Truppenstärke des Bundesheers und der bundesstaatlichen Polizeikräfte und zehn Offizieren gegen Canudos und dauerte fast zwei Monate. Die Expedition endete in einer Flucht der Soldaten und einem propagandistischen Sieg auf der Seite der Canudenser. Sie feierten den Rückzug der Heerestruppen als Wunder, was in der einfachen Bevölkerung weit über Canudos hinaus als göttliches Zeichen verstanden wurde. Auch für die dritte und vierte Expedition wurden die Bundestruppen massiv verstärkt und besser ausgerüstet als die jeweils vorhergehende. Besonders nach der Niederlage der dritten Expedition behändigten die Anhänger des Ratgebers viele zurückgelassene Waffen und Munition. Zudem zog der erneute Erfolg des religiösen Widerstands viele Sympathisanten aus dem Nordosten an, die sich entweder konspirativ z. B. als Informanten und Händler in den Dienst des Ratgebers und seiner Anhänger stellten oder sich als Neuankömmlinge in Canudos unter den Schutz des prestigeträchtigen und verehrten Ratgebers begaben und sich in die Verteidigung des Ortes einreihten. An der letzte Expedition waren über 6000 Soldaten von Heer und Polizei, 421 Offiziere, 24 zivile und Militärärzte beteiligt und wurden im Juli noch verstärkt mit fast 3400 Soldaten, 246 Offizieren, 6 zivilen Ärzten und 3 Apothekern. Sie zog sich über 7 Monate von März bis Oktober 1897 hin.[27] Das Echo in der Presse wuchs vom lokalen zum nationalen Ereignis mit internationaler Resonanz.

Antônio Conselheiro

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Antonio Conselheiro nach der Ex­hu­mie­rung, Foto aus dem Fundus von Flavio de Barros

Der Ratgeber Antônio Conselheiro hieß eigentlich Antonio Vicente Mendes Maciel, geboren 1830 in Quixeramobim, Ceará. Sein Vater führte einen Laden. Antonio half seinem Vater im Geschäft, das er nach dem Tod seines Vaters bis zur Liquidierung weiterführte. Danach arbeitete er als Lehrer, Kassierer, Schreibkraft und Rechtsbeistand in verschiedenen Städten Bahias.[28] Roberto Ventura, S. 24-25 Seine mystische Pilgerschaft begann er, nachdem ihm seine Frau mit einem Polizisten durchgebrannt und sein Vermögen wegen einer kleinen Schuld gepfändet worden war. Im Jahre 1876 wurde er gefangen genommen und beschuldigt, seine Mutter und seine Frau umgebracht zu haben. Die Anklage erwies sich als haltlos. Als Antonio freigelassen wurde, versprach er, 25 Kirchen zu errichten. Er organisierte Freiwillige, die ihm beim Bau und der Instandstellung von Kapellen, Kirchen und Friedhöfen halfen. Im Jahr 1882 verbot ihm der Erzbischof zu predigen und Andachten zu halten. Denn der Bischof befürchtete angesichts des stetig anwachsenden Zulaufs des Antonio Conselheiro, dass sein bischöflicher Einfluss schwinde. Mit der Proklamation der Republik verschärften sich Antonio Conselheiros Konflikte mit der etablierten Ordnung. Er rief gegen die neu erlassenen Steuern, gegen die Säkularisierung der Friedhöfe, gegen die Zivilehe und gegen die staatliche Registrierung von Geburt und Tod auf. Nach einem Zusammenstoss mit der Polizei, die nach ihm fahndete, liess er sich 1893 mit seinen Anhängern in Belo Monte, dem späteren Canudos, nieder. 1895 sandte der Erzbischof von Bahia drei Kapuziner nach Canudos mit der Mission, die Anhängergemeinde auseinanderzutreiben. Nach der missglückten Mission schlossen die Kapuziner ihren Bericht mit der Empfehlung, die Regierung müsse intervenieren. Nur so könne man der Ausbreitung der Siedlung, deren Bewohner sich weigerten, Steuern zu bezahlen und der Kirche zu gehorchen, Einhalt gebieten. Ende 1896 forderte der Richter aus Juazeiro, Bahia, die Entsendung staatlicher Truppen an. Denn es kursierten Gerüchte über eine Invasion der Stadt durch die Anhänger des Antonio Conselheiro. Diese hätten die Absicht, das für den Bau der neuen Kirche bestellte und bereits bezahlte Holz zu stehlen. So kam es zum ersten Feldzug gegen die Gemeinde von Canudos. Die Truppe umfasste 113 Soldaten und drei Offizieren. Aber sie wurde etwa 50 Kilometer vor Canduos angegriffen und zum Rückzug gezwungen. Dieser Kampf war der Auslöser eines bewaffneten Konflikts, der sich fast ein Jahr lang hinzog, bis mit dem vierten Feldzug über 6000 Soldaten und über 400 Offiziere am 5. Oktober 1897 Canudos einnahmen. Allein während des vierten Feldzugs verloren 910 Soldaten und Offiziere ihr Leben. In den vier Feldzügen waren insgesamt 5000 Tote zu beklagen. Der Krieg führte zur Zerstörung von 5200 Baracken in Canudos, deren Bevölkerung auf 10'000 bis 25'000 Einwohner geschätzt wurde.[29] Robert Ventura, S. 25-27, 35

Entstehungsgeschichte

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Das Thema Canudos reizte schon zur Zeit des Canudos-Kriegs die Fantasie und brachte fiktionale Texte hervor. 1898 kam der Roman «Os Jagunços. Novela Sertaneja» von Afonso Arinos de Mello Franco in São Paulo heraus. Im folgenden Jahr erschien «O Rei dos Jagunços» (Der König der Jagunços) vom ehemaligen Kriegskorrespondenten Manoel Benício in der Bundeshauptstadt Rio de Janeiro. Diese Publikation besteht aus dokumentarischen Passagen mit zahlreichen im Wortlaut abgedruckten Quellen und einer ausführlichen Romanhandlung. Beide Genres stehen kaum verbunden nebeneinander. Deshalb betrachtet Bartelt dieses Werk weniger als einen historischen oder dokumentarischen Roman als vielmehr als zwei ineinandergeschachtelte Bücher zwischen zwei Buchdeckeln. Im Jahr 1900 erschien in Salvador das Theaterstück «Tragédia Épica. Guerra de Canudos» (deutsch: Epische Tragödie. Krieg um Canudos), ein Versepos von Francisco Mangabeira.[30] Bartelt, S. 277-278, 298

Da Cunhas Erzählung geht im Wesentlichen zurück auf seine beiden Artikel, die er beide unter dem Titel Unsere Vendée (original: A nossa Vendéia) 1897 im Abstand weniger Monate in der Zeitung Estado de São Paulo veröffentlicht hatte.[31] In diesen Artikeln befasste sich Da Cunha erstmals mit den Ereignissen, die sich seit geraumer Zeit im Hinterland von Bahia abspielten. Äusserer Anlass war die aufsehenerregende Niederlange der dritten Militärexpedition gegen die Anhänger um den sogenannten Antonio Conselheiro in Canudos. Im März 1897 wurde der Kommandant dieser Expeditionsarmee im Kampf tödlich verwundet. Seine Truppe floh. Überraschenderweise befasste sich Da Cunha im zehn Tage später erschienenen Artikel kaum mit der kriegerischen Seite dieses Ereignisses. Dem Autor ging es vielmehr um die Analyse des geografischen Milieus (Bodentypus, Windverhältnisse, Klima, Vegetation, Topografie, vorhandene Gewässer). Das waren seiner Meinung nach die Faktoren, die für den Verlauf der Ereignisse entscheidend waren. Erst das Ende des Artikels handelt von den dortigen Menschen. Der Verfasser hielt sie für offenkundige Produkte ihres Milieus. Ihren Aufstand setzt er kurz in Beziehung mit der Erhebung der Bauern aus der Vendée.[32] (Mechtild Strausfeld, S. 83-84) Cunhas «Os Sertões» erschien 1902 als Buch eines nahezu Namenlosen. Die erste Auflage musste Cunha mit dem Anderthalbfachen seines Monatsgehalts mitfinanzieren. Dem Verlag war das kaufmännische Risiko einer derart voluminösen Publikation aus der Feder eines Debütanten zu groß. Diese Publikation machte den Autor auf einen Schlag berühmt. Die erste Auflage verkaufte sich binnen zweier Monate. 1903 folgte die zweite, 1905 die dritte Auflage. Mit bis dahin gedruckten 10'000 Exemplaren erwies sich Os Sertões für die damalige Zeit als wahrer Bestseller.[33] Bartelt, S. 277-278

Das Werk erreichte bis 2002 über 50 Auflagen in portugiesischer Sprache und wurde in mindestens neun Sprachen übersetzt.[34]

Die angemessene Form, um über die „nationale Identität“ zu diskutieren, war für die brasilianische Intelligenz zur Jahrhundertwende die Literatur. Bisher geschah dies in der Sprache romantischer und naturalistischer Romane und Novellen. Im späten 19. Jahrhundert wurde Literatur dezidiert als Nationalliteratur geschrieben und diskutiert. Der Literaturbetrieb funktionierte und schob rege Diskussionen an. Hingegen fehlte bis zu den ersten Universitätsgründungen in den 1930er Jahren die ausdifferenzierte institutionelle Struktur intellektueller Produktion, welche die wissenschaftlichen Disziplinen voneinander und auch die Wissenschaft als Ganzes von Literatur klar abgegrenzt hätte. Die zeitgenössische romantische Literaturtheorie wie der Historismus hatten Geschichte und Literatur damals in die antagonistischen Bereiche Wissenschaft und Fiktion getrennt. Für die historische Forschung galt Objektivität, Unparteilichkeit und Distanz. Die Zeitgenossen sahen kein Problem in der Verschmelzung von Literatur und Geschichtsschreibung. Auf dieser Grundlage schrieb Euclides da Cunha Os Sertões (Krieg im Sertão). Ob dieses Werk vorwiegend als wissenschaftlicher oder literarischer Text zu begreifen ist, scheidet bis ins 21. Jahrhundert die Geister. Tatsächlich erklärte Cunha selbst, kein fiktionales Werk schreiben zu wollen. Bereits im Vorwort ordnet er seine Arbeit geschichtswissenschaftlich ein. Diese Wirkung soll der „ehrliche Erzähler“ erzielen. «Seien wir schlichte Protokollanten», betont der Erzähler am Anfang seiner Beschreibung des Sertanejo.[35] Dieser „ehrliche“ Erzähler und „schlichte Protokollant“ nahm es mit der Augenzeugenschaft und der Offenlegung seiner Quellen nicht so genau. Cunha war nur wenige Wochen in Canudos Augenzeuge und verliess das Kriegsgeschehen vier Tage vor seinem Ende. In der Regel verrät der Erzähler nicht, welche Details Cunha selbst erlebt, welche er sich und von wem berichten liess und welche er dank seiner Fantasie ergänzt und ausgeschmückt hat.[36] Bartelt, S. 307-309; hier in verkürzter Form Der Literaturkritiker Afrânio Coutinho hält Krieg im Sertão für ein fiktionales Werk. Dazu meint Bartelt, Coutinho verwechsle Fiktionalität mit Literarität. Os Sertões enthalte sicherlich fiktionale Elemente. Doch der Text sei nicht fiktional, sondern hochgradig literarisch. Im Unterschied zu Manoel Benícios O Rei dos Jagunços (1899), der in den fiktionalen Teilen zwar fiktional bleibe, es aber nicht geschafft habe, die historische Realität literarisch darzustellen, sei Cunhas Erzählung theoriegeleitet angelegt; die überzeugendste Form seiner Theorie sei die Literatur - nicht die Fiktion. «Die zeitgenössische Kritik feierte die gelungene Verbindung [von Wissenschaft und Literatur]. Sie rezipierte Os Sertões problemlos als literarisches Werk, ohne es seinem expliziten und konkreten Wahrheitsanspruch zu benehmen.»[37]

Rezeption

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Den ersten Artikel über da Cunhas Erzählung Os Sertões, die am 2. Dezember 1902 erschienen war, verfasste der bekannte und gefürchtete Literaturkritiker José Veríssimo. Seine Buchbesprechung erschien einen Tag nach der Buchveröffentlichung. Veríssimo behandelte da Cunhas Darstellung als ein literarisches, historisches und wissenschaftliches Werk und legte eine Lesart zugrunde, der viele künftige Kritiker folgten. Nebst dem Lob hinsichtlich der poetischen, erzählerischen und künstlerischen Qualitäten kritisierte er den Gebrauch technischer Begriffe, antiquierter Ausdrücke, neuer Wortschöpfungen und der abgehobenen Phrasen als Missgriff. Er beurteilte da Cunhas Stil als zu künstlich und abgehoben.[38] Roberto Ventura, S. 14-15 Dem widersprach Coelho Neto. Dieser wies Wochen später in einem langen Artikel im O Estado de S. Paulo Veríssimos Kritik als oberflächlich und unfruchtbar zurück und pries da Cunhas Erzählung als eines der aufregendsten Werke der brasilianischen Literatur. Da Cunha schreibe keinen trivialen und langweiligen Stil, wie Veríssimo es verlange. Da Cunha pflege mit seinem Rückgriff auf alte Wörter, Neuschöpfungen und Ausschmückungen einen eigenen Stil, was eigentlich jeden wahren Schriftsteller auszeichnen sollte.[39] Robert Ventura, S. 16-17 Schon am 9. Juli 1903 erschien die zweite Auflage, die unzählige stilistische Verbesserungen, die Berichtigung einiger Informationsfehler und acht Anmerkungen enthielt, in denen da Cuhha auf die Kritiken einging, die er von befreundeten Wissenschaftlern erhalten hatte. Im folgenden Jahr erschien die dritte, wiederum korrigierte und letzte Auflage, die der Autor zu Lebzeiten noch überarbeitet hatte.[40] Robert Ventura, S. 18

Cunhas «Os Sertões» war 1902 als Buch eines nahezu Namenlosen erschienen. Die erste Auflage musste Cunha mit dem Anderthalbfachen seines Monatsgehalts mitfinanzieren. Dem Verlag war das kaufmännische Risiko einer derart voluminösen Publikation aus der Feder eines Debütanten zu groß. Diese Publikation machte den Autor auf einen Schlag berühmt. Die erste Auflage verkaufte sich binnen zweier Monate. 1903 folgte die zweite, 1905 die dritte Auflage. Mit bis dahin gedruckten 10'000 Exemplaren erwies sich Os Sertões für die damalige Zeit als wahrer Bestseller.[33] Bartelt, S. 277-278 Das Werk erreichte bis 2002 über 50 Auflagen in portugiesischer Sprache und wurde in mindestens neun Sprachen übersetzt.[41]

Obwohl die Geschichte um Antonio Conseilheiro und Canudos zu den großen Ereignissen der lateinamerikanischen Geschichte zählt und ein hohes narratives und interpretatives Potenzial enthält, war sie in der deutschsprachigen Literaturwissenschaft und insbesondere bei deutschsprachigen Historikern kaum zu finden. Die deutsche Übersetzung erschien erst Ende 1994, also über neun Jahrzehnte nach der Erstveröffentlichung des brasilianischen Originals.[42] Bartelt, S. Mario Vargas Llosa spürte das literarische Potenzial dieses Stoffes und verarbeitete es nach eingehenden Recherchen vor Ort im Roman La guerra del fin del mundo (Barcelona: Plaza & Janes 1981). Sein Roman erschien 1987 deutsch übersetzt unter dem Titel Der Krieg am Ende der Welt im Suhrkamp Verlag.[43] Bartelt, S. 3

Da Cunhas Hauptwerk beeinflusste in sprachlicher und stilistischer Hinsicht die Schriftkultur Brasiliens, unter anderem Grande Sertão von João Guimarães Rosa. Dass die erste deutsche Übersetzung erst 1995 erschien, mag mit der Schwierigkeit, dieses Werk zu übersetzen, zusammenhängen.[44] Guedes de Figureido und W. Roth, S. 150-152

Os Sertões half der brasilianischen Nation, mit sich selbst bekannt zu werden. Es leitete jene Politik ein, die das Landesinnere ins Bewusstsein rückte und die in die Gründung der neuen Hauptstadt Brasília münden sollte.[45]

Übersetzung

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Bertold Zilly übersetzte Os Sertões aus dem brasilianischen Portugiesisch ins Deutsche. Sie erschien 1995 Die deutsche Übersetzung ist laut Guedes de Figueiredo und Roth gelungen.[46] Guedes de Figureido und W. Roth, S. 150-152 Sie umfasst ein Glossar und Anmerkungen zu wichtigen Begriffen sowie ein Nachwort des Übersetzers.[47] Auch Bartelt lobt Berthold Zillys Übersetzung. Sie sei hervorragend gelungen und zu Recht mehrfach mit Übersetzungspreisen ausgezeichnet worden. Er hebt die hohe sprachliche Einfühlsamkeit bei gleichzeitiger überragender Lesbarkeit und die eigens eingefügten Zwischenüberschriften hervor, welche die Lesbarkeit wesentlich erhöhen.[48] Bartelt, S. 4, Anm. 5

Laut Burkhard Müller ist Krieg im Sertáo ein sehr stilbewusstes Buch, das getragen sei von der antikischen Auffassung, dass der Geschichtsschreibung der hohe Ton des Genus grande gebühre. Dem Übersetzer falle eine Aufgabe zu, die sich nur mit großer Behutsamkeit angehen lasse: «Er darf weder den rhetorischen Anspruch des Werks an die bloße Sachlichkeit verraten, noch den Autor, den er doch gerade erst ans Licht einer deutschen Öffentlichkeit heben wollte, gleich wieder in Dunkelheit versinken lassen oder gar der Lächerlichkeit überantworten. Das ist gar nicht so einfach bei einer Sprach- und Stilumgebung, wo selbst die offiziellen Heeresberichte davon sprechen, dass ein bestimmtes Datum eine „von Schrecknissen schwarz umrandete, doch vom Ruhme durchduftete Seite“ gewesen sei. Berthold Zilly hat hier Lösungen von feinem Takt gefunden, die das Ungewöhnliche, ja Angestrengte dieses Stils fühlbar machen, ohne es in die Stilblüte kippen zu lassen.»[45]

Im Nachwort teilt Zilly mit, dass dieses Werk bis 1995 in mehr als ein Dutzend Sprachen übersetzt worden sei.[49] Zilly im Nachwort von da Cunha: Krieg im Sertão, S. 757

Weitere Übersetzung (europäische Sprachen)

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  • Spanisch (Argentinien): Los Sertones (1938) übersetzt von Benjamin de Garay
  • Englisch: Rebellion in the backlands (1944) übersetzt von Samuel Putnam
  • Schwedisch: Makerna brinna (1945)
  • Französisch: Hautes Terres de Canudos (1947) übersetzt von Sereth Neu
  • Dänisch: Oprøret på højslettlen (1948) übersetzt von Richard Wagner Hansen
  • Niederländisch: De Binnenlanden opstand in Canudos


Galerie (zur Auswahl)

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Adaptionen

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Literatur

  • Lucien Marchal: Le Mage du Sertão. Plon, Paris 1952 (französisch).
  • João Felicio dos Santos: João Abade. Agir, Rio de Janeiro 1958 (portugiesisch).
  • Paulo Dantas: Capitão Jagunço. Edições Melhoramento, São Paulo 1959 (portugiesisch).
  • Sándor Márai: Ítélet Canudosban. S. Márai, Salerno 1970 (ungarisch).
  • Mario Vargas Llosa: La Guerra del Fin del Mundo. Esplugues de Llobregat: Plaza & Janés, Barcelona 1981, ISBN 978-84-322-0396-1 (spanisch).
    • deutsch: Mario Vargas Llosa: Der Krieg am Ende der Welt. Suhrkamp, Frankfurt/Main 1982, ISBN 3-518-03545-2.
  • José J. Veiga: A Casa da Serpente. 1989 (portugiesisch).
  • Júlio José Chiavenato: As Meninas do Belo Monte. Editora Página Aberta, São Paulo 1993, ISBN 85-85328-34-7 (portugiesisch).
  • Ayrton Marcondes: Canudos : as memórias de Frei João Evangelista de Monte Marciano. Editora Best Seller, Círculo do Livro, São Paulo 1997, ISBN 978-85-7123-616-5 (portugiesisch).

Filme

  • Glauber Rocha: Deus e o Diabo na Terra do Sol=Gott und Teufel im Land der Sonne. Brasilien 1963.
  • Sérgio Rezende: A Guerra de Canudos, produziert von Mariza Leão und José Walker, Brasilien, 1997

Theater, Hörspiel

  • Krieg im Sertão. Hörspiel. Suhrkamp Theater Verlag. Westdeutscher Rundfunk, Erstsendung 11.11.2007

Der Kampf (Unterkap. zu Inhalt)

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Der Kampf gegen den Conseilheiro mit seiner gläubigen Anhängerschaft erfolgte in mehreren Expeditionen, die bis auf die letzte in Niederlagen der staatlichen Truppen endeten und weil jede Expedition grösser angelegt war als die vorherige, auch zunehmend als Katastrophen Schlagzeilen machten. Auslöser war eine Belanglosigkeit: Ein Liefervertrag des Conseilheiros mit einem Holzlieferanten in Juazeiro wurde gebrochen. Darauf drohte der Conselheiro, die Hölzer mit Gewalt zu holen. Der Bezirksrichter von Juazeiro, der eine alte Rechnung mit dem Unruhestifter offen hatte, nutzte die Gelegenheit, um ihm seine Niederlage heimzuzahlen. Deshalb forderte er vom Gouverneur bewaffnete Unterstützung. Die Regierung von Bahia entsandte am 7. November 1896 eine bewaffnete Truppe von 104 Soldaten und drei Offizieren unter dem Kommando von Oberleutnant Pires Ferreira nach Juazeiro. Der Erzählter kommentiert, dass die Regierung von Bahia den Status des Conseilheiro unterschätzte. Der Ratgeber verfügte im Hinterland über eine bedingunslos ergebene Anhängerschaft und konnte mit der erzwungenen Komplizenschaft derer rechnen, die ihn fürchteten. (S.257-260). Nur mit dem Allernötigsten ausgerüstet, traf die staatliche Truppe am 19. November nach einem äußerst entbehrungsreichen Marsch in Uauá ein. Hier schlugen sie ihr Lager auf. Am zweiten Morgen wurden sie vom Anmarsch des Gegners überrascht, der prozessionsartig von einer Heilig-Geist-Fahne und einem riesigen Kreuz angeführt und hinter betenden und singenden Gläubigen Kämpfer mit Jagdgewehren, Messern und dem Treibstachel der jagunços bis auf den Dorfplatz vorstiess und tollkühn kämpften. Zwar hatte das Gefecht etlichen Dutzend sertanejos und knapp zehn Gefallenen der Expetion das Leben gekostet, nebst vielen Verwundeten. Unter dem Eindruck dieses bitteren Siegs beschloss man den Rückzug der Truppe. Der Rückzug glich einer Flucht. Nach einem viertägigen Gewaltmarsch in Juazeiro angekommen, bot die Rotte mit ihren Verwundeten, Verstümmelten, zerfetzen Uniformen und geschlagenen Gesichern das Bild einer Niederlage. (S. 270).

Erste Expedition Der Kampf gegen den Conselheiro mit seiner gläubigen Anhängerschaft erfolgte in insgesamt vier Expeditionen. Ausgelöst wurde die erste durch eine Belanglosigkeit: Eine Holzbestellung des Antonio Conselheiro wurde nicht wie vertraglich vereinbart geliefert. Daraus entwickelte sich das, was bis zur vierten Expedition in einen Vernichtungskrieg gegen die Bevölkerung von Canudos mündete. War die erste Expedition noch eine Angelegenheit des Bundesstaates von Bahia und bestand aus 104 Soldaten, drei Offizieren und zwei zivilen Führern, wuchs die Truppenstärke und die Bewaffnung bei jeder kommenden Expedition um ein Mehrfaches. Hinzu kamen Krupp-Kanonen und Nordenfelt-Mitrailleusen und das anfängliche Detachement der bahianischen Sicherheitskräfte wurde ersetzt durch Teile des Bundesheeres. Am Schluss kämpfte fast die Hälfte des gesamten Bundesheers in Canudos. Aus einer lokalen Angelegenheit wurde eine regionale und schließlich eine nationale, begleitet von der regionalen, nationalen und internationalen Presse. Der Conselheiro drohte, die Hölzer mit Gewalt zu holen. Diese Provokation nutzte der Bezirksrichter von Juazeiro, der eine alte Rechnung mit dem Unruhestifter offen hatte. Deswegen forderte er vom Gouverneur staatliche Unterstützung. Diese bestand aus 104 Soldaten und drei Offizieren unter dem Kommando von Oberleutnand Pires Ferreira und war, um die Beweglichkeit nicht zu behindern, nur mit dem Allernotwendigsten ausgerüstet. Nach einem äußerst entbehrungsreichen Marsch traf die Truppe am 19. Nobember 1896 in Uauá ein. Am zweiten Morgen nach ihrer Ankunft wurde die noch schlafende Truppe von den Anhängern des Conseilheiro überrascht und in einen erbitterten Kampf verwickelt. Zwar war die Bilanz der Gefallenen und Verwundeten bei der ersten Expedition zu Lasten der Sertanejos ausgefallen. Unter dem Eindruck der Tollkühnheit und der Todesverachtung auf Seiten des Gegners beschloss man den Rückzug der Truppe. Dieser glich einer Flucht. Nach einem viertägigen Gewaltmarsch kam die Rotte in Juaceiro an. Mit ihren Verwundeten, Verstümmelten, in zerfetzten Uniformen und mit den niedergeschlagenen Gesichtern boten sie ein Bild der Niederlage. (S. 270)

Zweite Expedition (zweite Expedition): Die zweite Expedition war als Gegenschlag gedacht, startete aber infolge von Meinungsverschiedenheiten zweier ranggleicher Obrigkeiten, dem General der Bundestruppen in Bahia und dem Gouverneur, unter einem ungünstigen Stern. Die Expedition setzte sich zusammen aus 100 Mann und acht Offizieren des stehenden Heeres sowie aus 100 Mann und drei Offizieren der Sicherheitskräfte des Staates Bahia. Sie wurde befehligt von Major Febrônio de Brito. Der General der Bundestruppen und Kommandant des Wehrbezirks Bahia forderte weitere Unterstützung. Der Verlauf der zweiten Expedition war durch zweierlei Faktoren geprägt. Erstens beeinflusste die Meinungsverschiedenheit des Generals der Bundestruppen in Bahia und des dortigen Gouverneurs die Planung und den Verlauf der zweiten Expedition. Der General, der laut Erzähler die Bekämpfung der Aufständischen realistisch einschätzte, konnte sich gegen den Gouverneur, der die Gefahr der jagunços verharmloste, weil er um seine Autorität fürchtete, nicht durchsetzen. Letzterer beendet die Auseinandersetzung, indem er auf die Landeshoheit des Bundesstaates Bahia pochte und sich jede Einmischung durch den Bund verbat. Und dies, obwohl er vorher die Bundestruppen zu Hilfe gerufen hatte, wie der Erzähler kritisch feststellt. Zweitens wussten die Anhänger des Conseilheiros die lokalen Gegenbenheiten zur ihren Gunsten zu nutzen. Der Erzähler unterstreicht, dass die örtliche Natur die sertanejos unterstützt, die mit dem Dornengestrüpp, der Dürre und Hitze vertraut sind. Er stellt fest: «Alte Bekannte umringen [den Sertanejo]. Mit all den Bäumen dort ist er seit langem befreundet. Er kennt sie alle. Zusammen wurden sie geboren; wie Geschwister wuchsen sie auf; wuchsen an denselben Widrigkeiten, kämpften mit denselben Bitternissen.» (S. 280) Die Marschkolonnen werden in der caatinga wiederholt angegriffen und terrorisiert, ohne sich wirksam wehren zu können und ohne den Feind zu Gesicht zu bekommen. Infolge der Spannungen zwischen dem General der Bundestruppen und dem Gouverneur von Bahia ergingen widersprüchliche Befehle an die Truppe im Feld. Dadurch verlor man viel Zeit, welche die Anhänger des Conseilheiros zu nutzen wussten, um ihre Verteidigung vorzubereiten.(S. 282-283)

Fortsetzung der zweiten Expedition: Am 29. Dezember trafen die Expeditonsteilnehmer in Monte Santo ein. Es war ein zusammengewürfelter Heerhaufen aus dem Kern verschiedener Bataillone unter dem Kommando von Major Febrônio de Brito und gut 200 Mann Polizeitruppen, dazu eine kleine Artillerieabteilung mit zwei Kruppkanonen und zwei Mitrailleusen Nordenfelt. Monte Santo war die künftige Basis für alle Operationen gegen Canudos. Denn sie lag Canudos am nächsten und bot über die Bahnstation von Queimadas die schnellste Verbindung zur Küste. (S. 287) Die örtliche Obrigkeit bereitete der angekommenen Truppe einen festlichen Empfang, man wähnte sich siegesgewiss. Doch der Jubel war voreilig, wie der Erzähler dem Leser verrät. Die Festlichkeiten, denen zwei verlorene Wochen der Untätigkeit in Monte Santo folgten, boten beste Voraussetzungen für die Rebellen. Sie gewannen Zeit, konnten sich leicht über Truppenstärke, Bewaffnung und Feldzugspläne informieren. Den Festlichkeiten folgten zwei Wochen der Untätigkeit und Unschlüssigkeit in Monte Santo als Ergebnis der widersprüchlichen Maßnahmen des Bundesstaates einerseits und des Bundes andrerseits. Diese Zeit nutzten die Rebellen, um sich über die Truppenstärke, Bewaffnung und Feldzugspläne zu informieren und Vorkehrungen zur Verteidigung zu treffen. Anstatt eines Überraschungsangriffs verlegten sich die Truppen auf schweres Geschütz, das wie eine Fussfessel den Marsch behinderte. Sie hatten die Planung des Nachschubs vernachlässigt, was dazu führte, dass der Proviant nach einigen Tagen zur Neige ging und man für die über fünfhundert Mann die letzten zwei Ochsen schlachtete. Auch das ein Fehler, wie der Erzähler klar macht. (S.302) In den Engnissen des Cambaio-Gebirges geriet die Expeditionstruppe auf der ganzen Länge unter Beschuss aus den höher gelegenen Terrassen mit ihren Deckung bietenden Felsblöcken. Nach einem dreistündigen, planlosen, aber mutigen Kampf der Soldaten war das Gebirge eingenommen. Die Verluste auf Seiten der Truppen waren verhältnismässig gering, bei den jagunços beträchtlich. Aber der unkontrolierte Verbrauch von Munition war schmerzhaft, zudem waren sämtliche Mulis und ihre Treiber durchgebrannt und wurden nicht mehr gesehen. Die Truppe erreichte tags darauf Tabuleirinhos, praktisch am Rand von Canudos. Seit dem Vortag war die Truppe ohne Verpflegung geblieben. Sie schlug ihr Nachtlager schwach bewacht an einem kleinen Teich mit unreinem Wasser auf. Am folgenden Morgen wurden sie wieder von den Glaubensbrüdern des Conselheiros überfallen. Nach ausdauernder Gegenwehr und erfolgreichem Gegenangriff beschloss man mangels Munitionsvorrat und angesichts der ausgegangenen Verpflegung der Soldaten den Rückzug. Unterdessen flohen viele Gläubige aus Canudos und verloren auch ihre Glaubensgewissheit. Der Conselheiro bestieg, ohne die letzten versammelten Frauen und Männer zu trösten oder aufzumunter, die Plattform des Kirchenturms, als die Kunde eintraf, die Expeditionstruppen zögen sich zurück. Das wurde in Canudos augenblicklich als Wunder verkündet. So endete das Getümmel mit einem Mirakel in Canudos. (S.319)

Dritte Expedition

Kartografische Darstellung der Kriegsoperationen gegen Canudos von 1897; rot die Anmarschrouten der 3. und 4. Expedition: Marsch der Heeressäule Barbosa (links, 3. Expedition); der Heeressäule Moreira César (Mitte, 4. Expedition); der Heeressäule Savaget (rechts, 4. Expedition)

Von Oberst Siqueira de Menezes 1897 erstellte Kartenskizze von Canudos. Legende:

Igreja Nova = Neue Kirche; Igreja Velha = Alte Kirche; Latada = Gebetslaube; Bairro Casa Vermelha = Rote Häuser

Die dritte Expedition wurde besser ausgestattet als die vorhergehenden. Am 21. Februar, der unpassendsten Jahreszeit zur Durchquerung des dürren Ödlandes, brach die Expedition, bestehend aus insgesamt 1281 Mann mit je 220 Patronen zuzüglich 60'000 Schuss im allgemeinen Tross, in Monte Santo Richtung Cumbe auf. (S.353). Diese dritte Expedition (S.354) bewegte sich über eine neue Anmarschroute. [Der abgebildete Plan der Kriegsoperationen 1897 in Bahia stellt die Anmarschwege dar.] Im Rückblick macht der Erzähler auf mehrere Fehlentscheidungen und Fehlleistungen aufmerksam: Schon die Übertragung des Oberkommandos der dritten Expedition an Oberst Antônio Moreira César war wegen seiner zwiespältigen Persönglichkeit und seinen epileptischen Anfällen unglücklich. Die Kunde vom Triumph über die Expedition Febrônio de Brito führte in der Region dazu, dass die Bevölkerung von Canudos schnell anwuchs. Aus allen Richtungen wurde Canudos mit Lebensmitteln versorgt. (S. 346) Canudos verfügte über zunehmend mehr Helfer, die als Wachen, in Spähtrupps oder als Kundschafter eingesetzt werden konnten oder sich mit Glaubensbrüdern in den Ortschaften auf den Anmarschwegen der Truppen unterredeten, Waffen erwarben, Schleichgeschäfte einfädelten, die letztlich reibungslos vonstatten gingen. (S.347) Viele Glaubensbrüder beschäftigten sich mit dem Bau von Schützenlöchern und Verstecken hinter Felsblöcken oberhalb der Anmarschroute der Truppe, verborgenen Aussichtspunkten, Wegsperren und mit der Instandstellung von Waffen und der Herstellung von Munition samt Pulver. Als schwerwiegender Fehler erwies sich die zur Wasserversorgung mitgeführte Hebewinde statt einer Pfahlramme. Denn damit liess sich kein Wasseransaugrohr für die Grundwasserpumpte in die Erde treiben. Aus diesem Grund konnte die Truppe nicht wie vorgesehen mit Trinkwasser versorgt werden. Die Soldaten waren auf den endlosen Tagesmärschen erschöpft und litten Hunger und Durst. Die Schlachtordnung des Kommandanten bestand darin, Canudos gleichzeitig von zwei Seiten in die Zange zu nehmen. Das führte dazu, dass die Artillerie, die im Angelpunkt der Zange stationiert war, mit fortschreitender Bewegung der beiden angreifenden Flügel ihr Schussfeld ständig einengen musste und den Beschuss schließlich ganz einzustellen hatte, um nicht die eigenen Truppen zu gefährden. Ebenso traten die von zwei Seiten angreifenden Soldaten in Canuos ins Schussfeld der von der gegenüberliegenden Seite angreifenden eigenen Truppen. Das war laut Erzähler eine nicht zu verantwortende Schlachtordnung und beweise die Unkenntnis elementarer Grundsätze der Kriegskunst (S. 376). Der Rückzug erfolgte entgegen militärischer Grundsätze ohne Ordnung und ohne Führung in meist zufälligen Gruppen, die weit auseinandergezogen waren. Viele Soldaten entledigten sich, um schneller voranzukommen, ihrer Waffen, Munition und hinderlicher Dolmane und liessen Bahren mit Verwundeten zurück. So waren sie leichter von den Aufständischen anzugreifen. Dank der liegengelassenen Waffen und Munition konnten sich diese aufrüsten. Viele Flüchtende, darunter Verletzte, mieden Wege, verloren die Orientierung und verhungerten oder verdursteten in den Weiten der caatinga. (S. 397)

Vierte Expedition

(Die Vierte Exp. erstreckt sich über die Seiten 400 bis 576 und dann folgt Die neue Phase des Kampfes)

Das Fiasko der dritten Expedition weckte aufgrund der unerklärlichen Zerschlagung einer zahlreichen, wohlausgerüsteten Streitmacht unter einem Befehlshaber hohen Ansehens bald auch Verschwörungstheorien. Demnach waren die Unruhen im Sertão erste Symptome einer weitverzweigten Verschwörung gegen die jungen Institutionen der 1889 durch einen Militärputsch geschaffenen Republik. Die Republik war, wie die Presse verkündete, in Gefahr. In der damaligen Bundeshauptstadt kam es zu Gewaltausbrüchen wütender Bürger, die in geschlossen Zügen gegen die monarchistischen Zeitungen Gazeta da Tarde, Liberdade und Apóstolo marschierten und Druckereien und Redaktionen völlig verwüsteten und alles darin verbrannten. (S. 405-406) Widersprüchliche Berichte wechselten mit heroischen, bald wieder dramatischen Darstellungen. Im Wirrwarr der Meinungen war es ausgeschlossen, einen Überblick über die Sachlage zu gewinnen. Staatstrauer wurde angeordnet. In allen Kirchen wurde für die Toten Andacht gehalten. In allen Kasernen meldeten sich eifrige Staatsbürger zu den Waffen. Alarmierende Berichte besagten, dass Canudos nicht einfach eine Hochburg grimmiger Banditen sei. Dort würden sich namhafte Heeres- und Marineoffiziere aufhalten, die seit der Septemberrevolte untergetaucht waren und die der Ratgeber in sein Gefolge berufen habe. (S. 412) Zudem waren die Jagunços nicht die einzigen; weitere Figuren traten auf: in Ceará der unselige Irrlehrer Padre Cícero, in Pernambuco der Wahnsinnige José Guedes, in Minas ein dreister Straßenräuber, der mit einem ganzen Gewehrtransport im Sertão verschwunden war, und der Mönch von Paraná. (S. 413) In dieser aufgebrachten Situation wurden Bataillone aus allen Gliedstaaten zum Kampf gegen Canudos in Bewegung gesetzt. Sie wurden dem Oberbefehl von General Artur Oscar de Andrade Guimarães unterstellt. (S.415) Beim Anmarsch kam es in der Hauptstadt Bahias zu Krawallen und Raufhändeln. Der Erzähler führt an Beispielen vor, wie unzivilisiert sich zumindesten Teile der Truppen verhielten. Beispielsweise versuchten Offiziere und Soldaten in bilderstürmerischer Raserei, ein Wappenschild am Tor des Alten Zollgebädes zu zertrümmern, auf dem die kaiserlichen Insignien zu sehen waren. Die Presse, aber auch viele Volksvertreter verurteilten diese Bilderstürmerei. Der Aufmarschplan sah vor, die Fanatiker in Canudos von zwei Seiten anzugreifen: die erste Heeressäule sollte von Salvador über Monte Santo und die andere von Aracajú quer durch Sergipe und über Jeremoabo anmarschieren. (S. 418) Der Erzähler kritisiert den Aufmarschplan dieser Expedtion, er sei eine erweiterte Neuauflage voraufgegangener Fehler «mit einer einzigen Abwandlung: Statt einer würden nun zwei geballte Truppenmassen zugleich und geschlossen in die Falle des Sertão-Krieges gehen.» (S.418). Zudem fehlte es wie schon früher an einem funktionierenden Transport von Waffen, Munition und Nachschub. Beim Abmarsch war die Truppe auf halbe Ration gesetzt und verfügte weder über eine wirksame Vorhut noch über eine Flankendeckung. Statt europäischer Dolmane mit ihren hellleuchtenden Schnüren und funkelnden Knöpfen, einer Bekleidung, die im Dornbusch- und Bromeliengehölz schnell zerfetzt, wäre für die Flanqueure eine lederne Bekleidung, wie sie viele Rinderhirten im Sertão tragen, mit «Fußschonern», «Beinlingen», denen die Dolche der xiquexiques nichts anhaben konnten, mit «Wams »und «Brustpanzer» zum Schutz des Oberkörpers nützlicher gewesen. Ausserdem stellen das 1700 kg schwere Whitworth-Geschütz und die Krupp-Batterien tonnenschwere Hemmschuhe dar. (425-426) Als die vordersten Truppen beim Anwesen Pitombas eintrafen, bot sich ihnen ein schauerlicher Anblick. Überall lagen ausgebleichte Uniformfetzen, man sah Skelette in staubigen und zerrissenen Uniformen in Rücklage zu Boden gestreckt oder schief an Sträuchern befestigt. Von einem Ast baumelte das Gerippe des Obersten Tamarindo, ihm zu Füssen lag der Schädel und die Stiefel. Das alles enthüllte eine dämonische Inszenierung der jagunços. (S.440) Durch geschickt geführte Angriffe verstanden es die Aufständischen die Truppen auf ihrem Anmarsch weit auseinander zu ziehen und schließlich die Haupttruppe vom Tross mit sämtlichem Nachschub abzuschneiden und in einem Hinterhalt festzuhalten. «Die gesamte erste Heeressäule war gefangengesetzt», hält der Erzähler fest. (S. 453) Dadurch drohte den kämpfenden Truppen nach einem verlustreichen Widerstand die Munition auszugehen. Die Artillerie war ausgeschossen und hatte die Hälfte ihrer Offiziere verloren. (S. 452). Der zweiten Heeressäule ging es nicht viel besser. Auch sie geriet im Gelände, wo ausweichen unmöglich war, unter einen verlustreichen Beschuss aus nächster Nähe. (S. 514-515). Und als der Kampf bereits in den äußersten Quartieren von Canudos tobte, blieb der Vorstoss stecken. Vormarsch wie Rückzug war unmöglich. (S.519). General Artur Oscar verlangte eine Hilfsarmee von fünftausend Mann. (S. 523-524) Schon nach dem Zusammenzug der dazu bestimmten Hilfsbrigade, genannt Brigade Girard, dezimierte eine um sich greifende Beriberi-Krankheit diese Brigade. Auf dem langen Anmarsch nach Canudos begegnete sie scharenweise Rückkehrern: verletzten, halbverhungerten und sterbenden Soldaten, mit denen die Vorräte geteilt wurden und deren Schilderungen und Erfahrungen die Moral der anmarschierenden Truppe niederdrückte. Das führte dazu, dass die Brigade Girard wie die vorherigen Expeditionen unterversorgt im Feld ankam und unfähig war, die Bewegungsunfreiheit der seit Wochen von den Aufständischen festgenagelten Truppen zu lockern. (S. 557-560) In Bahia wurde diese Unwirksamkeit der Hilfsbrigade als Niederlage verstanden. Die Regierung zog die letzten über die Bundesstaaten verteilten Bataillone, die einer raschen Mobilisierung fähig waren, zusammen. Der Minister für das Kriegswesen, Marschall Carlos Machado de Bittencourt, übernahm das Oberkommando. Er organisierte die Operationsbasis in Monte Santo neu, richtete eine funktionierende Nachschublinie ein und reiste Anfang September dorthin. Ab Ende August waren kontinuierlich Versorgungskarawanen unterwegs, die im Abstand weniger Tage das kämpfende Heer effektiv mit Monte Santo verbanden und die Verpflegung für das mit den jüngsten Verstärkungen etwa achttausend Mann starke Heer gewährleisteten. (S. 568-570) Aufgrund der während Wochen erlittenen Verluste wurden die Brigaden Mitte August von sieben auf fünf reduziert. (S. 574) Der Kriegsminister Bittencour stellte eine neue Division aus dreissig Infanteriebataillonen und mehreren Batterien anderer Waffengattungen zur Verstärkung der in Canudos festgenagelten Truppen auf. (S. 576) Schliesslich zeigte der regelmässige Nachschub und die ankommende Verstärkung Wirkung. Auffallend befand sich unter den ersten Gefangenen, die man nach Queimadas führte, kein einziger erwachsener Mann, es waren ein halbes Dutzend Frauen mit Kindern. Sie zogen durch ein dichtes Spalier Schaulustiger. Ein trauriges Schauspiel. Sie waren wie seltene Tiere auf einer Jahrmarktsbelustigung. (S.583) Schliesslich gelang es den Bundestruppen, die beiden Türme der Neuen Kirche so lange zu bombardieren, bis sie einfielen. Damit verloren die Aufständischen eine ihrer geschützten Stellungen, von der aus sie die angreifenden Truppen in allen Richtungen hatten bestreichen können. Mit dem Heranrücken der Verstärkung gelang es der Bundesarmee, den Belagerungsring um Canudos fester zu ziehen und zu schliessen. Mit der Zeit tauchten die ersten Gefangenen auf: Es waren ausschliesslich Frauen und Kinder. Mit der Verlust der Neuen Kirche hatten die Aufständischen ihre letzte Wasserstelle verloren. (S.672) Am 2. Oktober schwenkten die Aufständischen eine weisse Fahne. Zwei Vertreter der sertanejos, Antônio Beatinho und Barnabé José de Carvalho, verhandelten mit dem Oberbefehlshaber. Dieser verlangte, dass sich die Aufständischen ergeben. Er garantierte ihnen, sie nicht zu töten, wenn sie sich bedingungslos ergeben würden. Nach einer Stunde kehrte Antônio Beatinho zurück gefolgt von einem Zug von Menschen, die sich ergaben: Es waren nur Frauen, Kinder, Verletzte und Kranke. Die Aufständischen liessen die Waffenpause verstreichen und setzten sich danach weiterhin zur Wehr bis auf den letzten Mann. Canudos hat sich nicht ergeben. Am 5. Oktober fielen die letzten vier Aufständischen. (S. 682)


Textstellen + Gedanken aus der deutschen Übersetzung

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  • Vorschlag zur neuen Zitierweise für wiederholte Belege mit unterschiedlicher Seitenzahl:
    • Beim ersten Vorkommen: komplette bibliographische Angaben, das Einleitungs-Tag <ref name="Name1">
    • Beim wiederholten Vorkommen: reduzierte bibliographische Angaben (z.B. nur Autor und Jahr), das Einleitungs-Tag <ref extends="Name1"> nimmt Bezug auf die mit "name=Name" kompletten bibliographischen Angaben des ersten Vorkommes. Das funktioniert erst in Versuchsbetrieben; ist noch nicht allgemein umgesetzt.

Die Natur wird geschildert als ein gewaltiger Vorgang, oft auch gewalttätig und damit bereits die Widerstandskraft der Einheimischen prägend. Die an sich statische Landschaft wird mit vielen Bewegungsverben geschildert: Bergketten oder Hügel setzen sich fort, greifen aus, gehen unter, türmen sich auf,

  • […] «zunächst die geschlossene und beherrschende Gebirgskette, die es gürtet, hochragend über der vorgelagerten Strandlinie; sodann, auf dem Meeressaum zwischen Rio de Janeiro und Espírito Santo, ein aufgewühltes Küstenrelief, entstanden aus der zersprengten Mächtigkeit der Gebirge, zu schwindelenden Graten sich türmend und von Buchten zernagt, zu Meerbusen sich weitend und in Inseln zerfallend und in kahle Riffe zerberstend – Trümmerstätte des Kampfes, der dort seit Urzeiten tobt zwischen Land und Meer, […]»[50] E. da Cunha: Krieg im Sertão, S.11
  • «Hier meißelt [die Natur] sich in die festen Platten der anstehenden Gneise; und die Ausläufer der Hochebenen verwerfen sich zu einer Falte zu Füßen des Mantiqueira-Gebirges, durch die sich der Rio Paraíba zwängt, oder lösen sich in Ableger auf, die, nachdem sie die schroffen Gipfel mit dem Itatiaia-Gebirge in ihrer Mitte geschultert haben, die alpinen Landschaften der Küste bis ins Herz von Minas tragen.»[22] E. da Cunha: Krieg im Sertão, S.13
  • «Wir haben gesehen, wie die umgebende Natur mit [dem] grausamen Gebaren [des Flusses Vaza-Barrís] wetteifert, in sprödes Gelände ihn einzwängt, ohne die prächtigen Szenarien der Gebirgsketten, der Tafelebenen oder endlosen Hochplateaus, vielmehr als Mischlandschaft, in welcher sich diese Naturräume zu einem bestürzenden Wirrwarr verschränken: Ebenen, die sich aus der Nähe als von Wasserrissen zerklüftete Hügelreihen entpuppen; Buckel, die im Kontrast zu den Niederungen hoch erscheinen und die ihre Umgebung um wenige Dutzend Meter überragen; und Tafelflächen, die beim Nähertreten die chaotische Schroffheit wild klaffender Schlünde zeigen.»[51] E. da Cunha: Krieg im Sertão, S. 33
  • «Von den Hundstagen gegeißelt, von den Sonnenstrahlen gezüchtigt, von den Gießbächen zernagt, von den Winden zerzaust, scheint die Pflanze unter den Schlägen dieser feindseligen Elemente sich zu ducken und auf die geschilderte Weise Deckung zu suchen, unsichtbar im Boden, über den sie nur die höchsten Triebe der majestätischen Krone erhebt.»[52] E. da Cunha: Krieg im Sertão, S. 51
  • erwähnte Pflanzen:
    • Leguminosen, anderswo von stolzer Höhe, werden hier zu Zwergen. (S. 49)
    • Zwerg-cajú, der für die trockenen Hochplateaus typischer anacardium humile, von den Eingeborenen cajuí genannt. (S.50-51)
    • Bromelien, macambira-Stengel, caroás mit ihren sieghaft erhobenen Blüten; die gravatás und wilden Ananasgewächse (S. 51)
    • favela, evtl. cauterium genannt (S. 52)
    • Cäsalpinien wie etwa die catingueiras, (S. 52)
    • alecrins-dos-tabuleiros und die canudos-de-pito, strauchartige Heliotropen (S. 52)
    • juazeiros mit ihren tiefgrünen, selten abgeworfenen Blättern (S. 53)
    • mandacarús (cereus jaramacaru) (S. 54)
    • die xiquexiques (cactus peruvianus) sind eine kleinwüchsigere Art (S. 54)

Aufschlussreich ist der Umstand, dass der Erzähler sich welchselnder Bezeichnungen für die Anhänger des Conselheiro bedient. Anfänglich sind es Fanatiker, Banditen oder Geisteskranke (Bartelt, S.248)

  • «Übertreiben wir? / Zitieren wir wahllos aus einer Zeitung jener Tage.» (S. 404)
  • Der Erzähler deutet, urteilt im Hinblick auf die Verschwörungstheorien im Nachgang zur dritten Expedition: «Die Krise im Sertão auf irgendeine politische Verschwörung zurückzuführen bedeutete eine mit Händen zu greifende Verkennung der natürlichen Bedingungen unserer Abstammung.» (S. 407)
  • Eine Einheit der Truppe bestand aus jagunços, die man in der Region rekrutiert hatte. Der Erzähler beschreibt ihr Naturell: «[Es] trat nun jäh in seiner ursprünglichen Gestalt hervor; ein bemerkenswertes Ineinander sich ausschließender Eigenschaften, worin eine wundervolle Naivität, eine bis zur Selbstaufopferung reichende Treue und ein bis zur Barbarei getriebenes Heldentum sich ununterscheidbar abwechseln und vermengten. Wir werden es weiter unten sehen.» und verweist auf kommenden Abschnitte. (S.430-431)
  • Oder mit Bezug zur Tötung eines jagunços durch eine Menge Soldaten meint er: Es war das erste Heldenstück, allzu dürftig für so viele Krieger. Weitere würden ihm folgen. (S. 434)
  • Die Guerilha-Trupps der Gegner «zeigten sich nicht. Sie hatten anderswo eine günstigere Stellung bezogen, wie wir sehen werden.» (S. 438)
  • Der Erzähler nimmt die Perspektive der Truppen ein. «Der ungestüme Pajeú bricht tödlich getroffen zusammen. Auch auf unserer Seite sinken viele Kämpfer dahin, […]» (S. 530)

Das Folgende gehört zum geschichtl. Hintergrund

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Walnice Nogueira Galvão erinnert daran, dass die Anhänger des Antônio Conselheiro so unbekannt waren, dass man kaum Bezeichnungen für sie fand. Und sie wurden nicht nur von Militärs, sondern auch von Journalisten und Politikern verteufelt. Die Verantwortungslosigkeit verschiedener Zeitungen gingen so weit, den Bewohnern des Sertão alle Menschlichkeit abzusprechen: wie Tiere, Ungeheuer, Phantome. Da Cunha nannte in seinen beiden ersten Reportagen, die unter dem Titel Unsere Vendée im O Estado do São Paulo erschienen, den Feind sertanejo (Bewohner des Sertão) und tabareu (Provinzler, Hinterwäldler). Das waren damals gebräuchliche Synonyme für die Bewohner des Hinterlandes. Bereits im zweiten Artikel übernahm er die Bezeichnung, die mittlerweile in der Presse geläufig worden war: jagunço. Das Wort erscheint in diesem zweiten Artikel wie auch in den Reportagen, die er als Sonderberichterstatter des O Estado de São Paulo schrieb und später als Buch unter dem Titel Tagebuch einer Expedition veröffentlichte, kursiv gedruckt. In der Publikation von Os Sertões (Krieg im Sertão) verschwand der Kursivdruck. Die Fremdartigkeit der Bezeichung war der Normalisierung gewichen.[53]

zur Reception

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Das Folgende gehört zur Form/Ästhetik

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Er versuchte, sich auf die Faktoren und allgemeinen Gesetze zu konzentrieren, die in der Lage waren, das Thema in eine "Variante eines allgemeinen Themas zu verwandeln: die ausdrucksstärksten aktuellen Merkmale der Unterrassen des Sertanejo". In Anlehnung an die rassistischen und evolutionistischen Theorien seiner Zeit vertrat da Cunha die Ansicht, dass die Bewohner des Sertão dazu bestimmt seien, "angesichts der wachsenden Anforderungen der Zivilisation fast zu verschwinden". Er lobte sowohl die Opfer des Krieges als auch die Sertanejos selbst: "Heute zurückgeblieben, werden sie morgen völlig ausgelöscht sein".

Er nahm eine naturalistische Auffassung an, die sich auf den französischen Historiker Hippolyte-Adolphe Taine stützte, der ihm die wissenschaftliche Grundlage oder den Vorwand lieferte, um poetische Entsprechungen zwischen den erzählten Fakten und der ihn umgebenden Landschaft zu suchen. Diese naturalistischen Vorstellungen gaben der romantischen Sensibilität, die er in seiner Jugend entwickelt hatte, einen Anstrich von Wissenschaft. Er erkannte auf dramatische Weise den Konflikt zwischen Natur und Geschichte und versuchte, die Wechselwirkung zwischen beiden in künstlerischer und wissenschaftlicher Hinsicht zu verstehen.

In seiner Histoire de la Littérature Anglaise vertrat Taine die Auffassung, dass der Lebensstil eines Volkes von drei Faktoren bestimmt wird: dem Milieu, d. h. der physischen und geografischen Umgebung, der Rasse, die für die angeborenen und vererbten Neigungen verantwortlich ist, und dem Moment, der sich aus den ersten beiden Ursachen ergibt.[54] Roberto Ventura, S. 44-45

Literatur

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alfabetisch geordnet

  • José Carlos Barreto de Santana: Geologia e metáforas geológicas em Os sertões. In: História, Ciências, Saúde — Manguinhos. V (supplement), Juli 1998, S. 117–132 (scielo.br).
  • Dawid Danilo Bartelt: Nation gegen Hinterland. Der Krieg in Canudos in Brasilien: ein diskursives Ereignis (1874-1903). Franz Steiner, Stuttgart 2003, ISBN 3-515-08255-7. Das behandelt Canudos aus historischer Sicht. Siehe dazu auch die Rezension von Oliver Dinius in: Hispanic American Historical Review vom 1. Mai 2006. S. 406-407
  • Dawid Danilo Bartelt: Krieg am Ende der Welt. Geschichte(n), Forschungsstand und Mythos der Bewegung von Canudos und ihrer Vernichtung. Ein Überblick. In: Ibero-amerikanisches Archiv, Neue Folge. Band 23, Nr. 1/2. Iberoamericana Editorial Vervuert, 1997, S. 3–26, JSTOR:3392749. Das behandelt vermutlich Mario Vargas Lliosas Erzählung
  • Gerardo Guedes de Figueiredo und Wolfgang Roth: Krieg im Sertão von Euclides da Cunha, übersetzt von Berthold Zilly. Rezension. In: herausg (Hrsg.): Iberoamericana. Band 58/59, Nr. 2/3, 1995, S. 150–152, JSTOR:41671499.
  • Attila Huszár: Zivilisation und Barbarei in Joseph Conrads «Heart of Darkness» und Euclides da Cunhas «Os Sertões», Masterarbeit, Wien 2016
  • Anja Landmann: Krieg im Sertão. In: Gonzalo Compañy (Hrsg.): Quetzal. Politik und Kultur in Lateinamerika. Nr. 28/29. Quetzal. Leipziger Lateinamerika-Verein (e. V.), Leipzig 2000 (quetzal-leipzig.de).

Primärliteratur

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  • Euclídes da Cunha: Krieg im Sertão. Aus dem brasilianischen Portugiesisch übersetzt und mit Anmerkungen, Glossar und einem Nachwort versehen von Berthold Zilly. 1. Auflage. Suhrkamp, Frankfurt/Main 2013, ISBN 978-3-518-42376-9 (Originaltitel: Os Sertões. Campanha de Canudos. Rio de Janeiro 1902.).
  • Euclides da Cunha: Os Sertões. Centro Edelstein de Pesquisas Sociais, Rio de Janeiro 2010, ISBN 978-85-7982-007-6, doi:10.7476/9788579820076 (brasilianisches Portugiesisch).
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Commons: Flávio de Barros (Augenzeuge) – Sammlung von Bildern
  • Os Sertões (online) Original von Euclides da Cunha in der Biblioteca Virtual de Ciências Humanas do Centro Edelstein de Pesquisas Sociais, Rio de Janeiro 2010, ISBN: 978-85-7982-007-6 (PDF, brasilianisches Portugiesisch)

Einzelnachweise

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  1. zitiert nach Berthold Zilly: Convivendo com Os Sertões – experiências e reflexões de um estudioso alemão. In: Pontos de Interrogação, v. 12, n. 2, jul.-dez. 2022, S. 36.
  2. Euclides da Cunha: Krieg im Sertão. Aus dem brasilianischen Portugiesisch übersetzt und mit Anmerkungen, Glossar und einem Nachwort versehen von Berthold Zilly. 1. Auflage. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2013, ISBN 978-3-518-42376-9, S. 61–74.
  3. Euclides da Cunha: Krieg im Sertão. Aus dem brasilianischen Portugiesisch übersetzt und mit Anmerkungen, Glossar und einem Nachwort versehen von Berthold Zilly. 1. Auflage. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2013, ISBN 978-3-518-42376-9, S. 78.
  4. Roberto Ventura (2002): Os Sertões. [Crítica e interpretação], S. 48
  5. Euclides da Cunha: Krieg im Sertão. Aus dem brasilianischen Portugiesisch übersetzt und mit Anmerkungen, Glossar und einem Nachwort versehen von Berthold Zilly. 1. Auflage. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2013, ISBN 978-3-518-42376-9, S. 121–124.
  6. E. da Cunha (2013): Krieg im Sertão, S. 630
  7. E. da Cunha (2013): Krieg im Sertão, S. 682-683
  8. E. da Cunha (2013): Krieg im Sertão, S. 683-684
  9. E. da Cunha (2013): Vorbemerkung. In: Krieg im Sertão, S. 8 und Anm. 2 (S.689)
  10. Bertold Zilly: Nachwort. In: Krieg im Sertão. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2013, ISBN 978-3-518-42376-9, S. 778.
  11. E. da Cunha (2013): Krieg im Sertão, S. 130
  12. E. da Cunha (2013): Krieg im Sertão, S. 407
  13. E. da Cunha (2013): Krieg im Sertão, S. 418
  14. E. da Cunha (2013): Krieg im Sertão, S. 685
  15. E. da Cunha (2013):Krieg im Sertão, S. 49
  16. E. da Cunha (2013): Krieg im Sertão, S. 209, 211
  17. E. da Cunha (2013): Krieg im Sertão, S. 377f.
  18. D. D. Bartelt (2003): Nation gegen Hinterland, S. 317
  19. E. da Cunha (2013): Krieg im Sertão, S.131
  20. Roberto Ventura (2002): Os Sertões. [Crítica e interpretação], S.56
  21. Roberto Ventura (2002): Os Sertões. [Crítica e interpretação], S.43-44
  22. a b Euclides da Cunha: Krieg im Sertão. Aus dem brasilianischen Portugiesisch übersetzt und mit Anmerkungen, Glossar und einem Nachwort versehen von Berthold Zilly. 1. Auflage. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2013, ISBN 978-3-518-42376-9, S. 13.
  23. E. da Cunha (2013): Krieg im Sertão, S. 51
  24. E. da Cunha (2013): Krieg im Sertão, S.54
  25. E. da Cunha (2013): Krieg im Sertão, S. 55
  26. Roberto Ventura: Os Sertões (= Folha Explica). Publifolha, São Paulo 2003, ISBN 85-7402-415-5, S. 47–48 (portugiesisch).
  27. D. D. Bartelt (2003): Nation gegen Hinterland, S.137
  28. Roberto Ventura: Os Sertões. [Crítica e interpretação] (= Folha Explica). Publifolha, São Paulo 2002, ISBN 85-7402-415-5, S. 24–25.
  29. Roberto Ventura: Os Sertões. [Crítica e interpretação] (= Folha Explica). Publifolha, São Paulo 2002, ISBN 85-7402-415-5, S. 25–27, 34.
  30. Dawid Danilo Bartelt: Nation gegen Hinterland. Der Krieg von Canudos in Brasilien: ein diskursives Ereignis (1874-1903). Franz Steiner, Stuttgart 2003, ISBN 3-515-08255-7, S. 277–278, 298.
  31. Euclides da Cunha: A nossa Vendéia I. In: Estado de S. Paulo. 14. März 1897 (portugiesisch, academia.edu).
    Euclides da Cunha: A nossa Vendéia II. In: Estado de S. Paulo. 17. Juli 1897 (portugiesisch, academia.edu).
  32. Walnice Nogueira Galvão: «Os Sertões» von Euclides da Cunha für Ausländer. In: Mechtild Strausfeld (Hrsg.): Brasilianische Literatur (= Suhrkamp Taschenbuch. Band 2024). Suhrkamp, Frankfurt am Main 1984, ISBN 3-518-38524-0, S. 83–84.
  33. a b Dawid Danilo Bartelt: Nation gegen Hinterland. Der Krieg von Canudos in Brasilien: ein diskursives Ereignis (1874-1903). Franz Steiner, Stuttgart 2003, ISBN 3-515-08255-7, S. 277–278.
  34. Roberto Ventura: Os Sertões. Publifolha, São Paulo 2002, ISBN 85-7402-415-5, S. 11.
  35. E. da Cunha (2013): Krieg im Sertão, S. 130
  36. Dawid Danilo Bartelt (2003), S.307-309
  37. Dawid Danilo Bartelt (2002): Nation gegen Hinterland, S. 309
  38. Roberto Ventura: Os Sertões. Crítica e interpretação (= Folha Explica). Publifolha, São Paulo 2002, ISBN 85-7402-415-5, S. 14–15.
  39. Roberto Ventura: Os Sertões. [Crítica e interpretação] (= Folha Explica). Publifolha, São Paulo 2002, ISBN 85-7402-415-5, S. 16–17.
  40. Roberto Ventura: Os Sertões. [Crítica e interpretação] (= Folha Explica). Publifolha, São Paulo 2002, ISBN 85-7402-415-5, S. 18.
  41. Roberto Ventura (2002): Os Sertões, S. 11
  42. Dawid Danilo Bartelt: Der Krieg am Ende der Welt. Geschichte(n), Forschungsstand und Müthos der Bewegung von Canudos und ihrer Vernichtung. Ein Überblick. In: Ibero-amerikanisches Archiv. Neue Folge. Band 23, Nr. 1/2. Iberoamericana Editorial Veruert, 1997, S. 3–26, hier Anmerkung 5, JSTOR:43392749.
  43. Dawid Danilo Bartelt: Der Krieg am Ende der Welt. Geschichte(n), Forschungsstand und Müthos der Bewegung von Canudos und ihrer Vernichtung. Ein Überblick. In: Ibero-amerikanisches Archiv. Neue Folge. Band 23, Nr. 1/2. Iberoamericana Editorial Veruert, 1997, S. 3–26, JSTOR:43392749.
  44. Gerardo Guedes de Figueiredo und Wolfgang Roth: „Krieg im Sertão“ von Euclídes da Cunha, übersetzt von Berthold Zilly. Rezension. In: Iberoamericana (1977-2000). Band 58/59, Nr. 2/3, 1995, S. 150–152, JSTOR:41671499.
  45. a b Burkhard Müller: Krieg im Land der Dornen und Nesseln. In: Berliner Zeitung. 30. September 2000, abgerufen am 22. Dezember 2024.
  46. Gerardo Guedes de Figueiredo und Wolfgang Roth: „Krieg im Sertão“ von Euclídes da Cunha, übersetzt von Berthold Zilly. Rezension. In: Iberoamericana (1977-2000). Band 58/59, Nr. 2/3, 1995, S. 150–152, JSTOR:41671499.
  47. S. 150-152}}
  48. Dawid Danilo Bartelt: Der Krieg am Ende der Welt. Geschichte(n), Forschungsstand und Müthos der Bewegung von Canudos und ihrer Vernichtung. Ein Überblick. In: Ibero-amerikanisches Archiv. Neue Folge. Band 23, Nr. 1/2. Iberoamericana Editorial Veruert, 1997, S. 4, JSTOR:43392749.
  49. Berthold Zilly: Nachwort. In: E. da Cunha (Hrsg.): Krieg im Sertão. 1. Auflage. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2013, ISBN 978-3-518-42376-9, S. 757.
  50. Euclides da Cunha: Krieg im Sertão. Aus dem brasilianischen Portugiesisch übersetzt und mit Anmerkungen, Glossar und einem Nachwort versehen von Berthold Zilly. 1. Auflage. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2013, ISBN 978-3-518-42376-9, S. 13.
  51. Euclides da Cunha: Krieg im Sertão. Aus dem brasilianischen Portugiesisch übersetzt und mit Anmerkungen, Glossar und einem Nachwort versehen von Berthold Zilly. 1. Auflage. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2013, ISBN 978-3-518-42376-9, S. 33.
  52. Euclides da Cunha: Krieg im Sertão. Aus dem brasilianischen Portugiesisch übersetzt und mit Anmerkungen, Glossar und einem Nachwort versehen von Berthold Zilly. 1. Auflage. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2013, ISBN 978-3-518-42376-9, S. 51.
  53. Walnice Nogueira Galvão: «Os Sertões» von Euclides da Cunha für Ausländer. In: Mechtild Strausfeld (Hrsg.): Brasilianische Literatur (= Suhrkamp Taschenbuch. Band 2024). Suhrkamp, Frankfurt am Main 1984, ISBN 3-518-38524-0, S. 98-90.
  54. Roberto Ventura: Os Sertões. [Crítica e interpretação] (= Folha Explica). Publifolha, São Paulo 2002, ISBN 85-7402-415-5, S. 44–45.

Anmerkungen

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