Taharrusch dschama'i (arabisch تحرش جماعي, DMG Taḥarruš ǧamāʿī ‚gemeinschaftliche Belästigung[1]‘) ist ein arabischer Ausdruck für sexuelle Übergriffe durch Banden.

Die Übernahme aus dem arabischen Sprachgebrauch ins Deutsche in der (phonetisch falschen) Transkription Taharrush gamea entstammt einer Stellungnahme des deutschen Bundeskriminalamts (BKA) und einem daraus zitierenden Zeitungsbericht der Welt[2] nach den sexuellen Übergriffen in der Silvesternacht 2015/16 in Köln. Der Begriff fand sich anschließend weltweit in vielen Medienberichten und wurde in einer Stellungnahme des Innenministeriums für den nordrhein-westfälischen Landtagsausschuss übernommen.

Sexuelle Gewalt durch Gruppen am Tahrir-Platz ab 2011

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Das Phänomen dieser Gruppenaktionen wurde 2011 bei den politischen Massendemonstrationen auf dem Kairoer Tahrir-Platz beobachtet und international thematisiert.[3] Dabei wurden Frauen auf Demonstrationen umringt und angegriffen, oder unter Gewaltandrohung in Seitenstraßen und Restaurants verbracht. Teilweise wurde Kleidung zerschnitten oder entrissen; das gleiche passierte auch Begleitern und Passanten, die sich gegen die Behandlung wehrten.[4] Neben zahlreichen ägyptischen Demonstrantinnen wurden zwischen 2011 und 2013 auch mehrere ausländische Journalistinnen Opfer von Vergewaltigungen und sexuellen Übergriffen im Umfeld des Tahrir-Platzes.[5][6][7] Internationale Schlagzeilen machte der Fall der südafrikanischen Fernsehjournalistin Lara Logan, die am 11. Februar 2011 als CBS-Chefkorrespondentin über die Massenfeiern zum am Vortag erfolgten Rücktritt Präsident Hosni Mubaraks berichtete, als sie von rund 250 Männern von ihrem Team getrennt und anschließend geschlagen und sexuell misshandelt wurde. Der Vorfall lenkte internationale Aufmerksamkeit auf das Phänomen. US-Präsident Barack Obama sprach dem Opfer persönlich seine Anteilnahme aus.[8][9]

Verwendung des Begriffs durch das BKA

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Ausgehend von einer am 10. Januar 2016 in der Welt zitierten Stellungnahme des deutschen Bundeskriminalamts nach den sexuellen Übergriffen in der Silvesternacht 2015/2016 wurde die Bezeichnung „Taharrush gamea“ auch in deutschen und europäischen Medien verwendet.[10] Das BKA sieht die gemeinschaftlich begangenen sexuellen Belästigungen (explizit mit dem Modus operandi Taharrush gamea) von Frauen in der Öffentlichkeit als eine in mehreren arabischen Ländern gegebene Erscheinung.[2] Eine Stellungnahme des Innenministeriums an den Innenausschuss des nordrhein-westfälischen Landtags nannte ebenso den Begriff des BKAs[11].

Reaktionen auf Übernahme des Begriffs durch das BKA

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Stephan Erhardt, der FAZ-Korrespondent in Beirut, nannte Stellungnahmen von ägyptischen Feministinnen, die sich über die „Karriere“ des Begriffs wunderten, der, laut der Sprecherin von Harrasmap, Noora Flinkman[12], „nicht mehr als eine Vokabel“ sei. Erhardt bezog sich auch auf die Entstehungsgeschichte dieses Artikels in der deutschsprachigen Wikipedia.[13] Er beschrieb Ähnlichkeiten im (bislang bekannten) Vorgehen der Täter in Köln zu dem der Banden auf dem Kairoer Tahrir-Platz nach 2011,[13] seine Interviewpartnerinnen wiesen aber auf Unterschiede zwischen den beobachteten Phänomenen in Ägypten und Deutschland hin und betonten insbesondere eine völlig andere Rolle der Sicherheitsbehörden und des Alkoholmissbrauchs bei den politischen Kundgebungen in Kairo und der "Massenparty" in Köln.[13] „Man kann die sexuellen Angriffe auf dem Tahrir-Platz aus vielerlei Gründen nicht mit den Ereignissen von Silvester in Köln vergleichen“, zitiert Erhardt die ägyptische Frauenrechtsaktivistin Mariam Kirollos.[13] Die ehemalige Kairo-Korrespondentin Julia Gerlach wies in einem Interview im Deutschlandradio Kultur darauf hin, dass mit Taharrusch gama'i in Ägypten unterschiedliche Phänomene beschrieben würden: Außer den Übergriffen im Rahmen von Menschenansammlungen in politischen Kontext würden mit diesem Ausdruck auch die häufig insbesondere an Feiertagen zu beobachtenden Angriffe von Gruppen junger Männer auf Spaziergängerinnen bezeichnet. Die Übertragbarkeit der in der arabischen Welt und in Köln dokumentierten Phänomene zweifelte sie an.[14]

Sexuelle Gewalt durch Gruppen in anderen Ländern

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Gegen das Eve Teasing: Öffentliche Intervention einer Aktivistin des Blank Noise Projekts am Majestic Busbahnhof in Bangalore, 2003

In Indien werden (seit Jahrzehnten) verbreitete Belästigungen von Frauen im öffentlichen Raum mit dem Euphemismus Eve Teasing bezeichnet. Delhi ist dabei eine besonders stark betroffene Region. In der jüngsten Vergangenheit kam es zu einer öffentlichen Diskussion um besonders extremen Ausschreitungen, so der Gruppenvergewaltigung in Delhi 2012. Dabei hatten Fahrgäste und Fahrer eines Busses ein mitfahrendes Paar zusammengeschlagen und die Frau vor den Augen ihres Freundes brutal mehrfach vergewaltigt. Der tödlich ausgehende Fall machte weltweit Schlagzeilen und löste Großdemonstrationen und Proteste in Indien und verschiedene Ansätze zu Gegenmaßnahmen aus.[15]

In den USA wurden im Jahr 2000 bei einer Parade zu Ehren der Puertoricaner in New York systematische Übergriffe auf Frauen bzw. Paare berichtet, die in einem Bereich der Großveranstaltung außerhalb des Central Parks, der von der Polizei wenig beachtet wurde, massiv belästigt und auch bestohlen, in zwei Fällen auch vergewaltigt wurden.[16] Das Vorgehen war von etwa zwei Dutzend jugendlichen Tätern vergleichsweise systematisch geplant worden: Sie wählten Opfer nach dem Aussehen aus, umringten sie, bespritzten sie mit Wasser, rissen ihnen Kleidungsstücke weg und belästigten sie.[17] Die Polizeitaktik wie das mangelnde Eingreifen einiger Beamter wie etlicher Zuschauer wurde in der Folge massiv kritisiert.[16]

In Schweden gab es bei einem Jugendfestival im Sommer 2014 sowie erneut im Sommer 2015 Beschwerden über sexuelle Belästigungen von Mädchen durch Gruppen junger Männer. Erst nach den Kölner Ereignissen wurde offen über die Herkunft der beteiligten Jugendlichen und den einschlägigen Tathergang berichtet.[18] Die schwedische Polizei hatte Hassausbrüche bei sozialen Medien und islamophobe Racheakte vermeiden wollen.[19][20][21][22][23]

Dokumentationen

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  1. vergl. Hans Wehr: Arabisches Wörterbuch für die Schriftsprache der Gegenwart, I. Ausgabe, S. 134, S. 168
  2. a b Martin Lutz: Das Phänomen „taharrush gamea“ ist in Deutschland angekommen. In: Welt Online. 10. Januar 2016 (online [abgerufen am 13. Januar 2016]).
  3. Martin Gehlen: Ägypten: Fast 100 sexuelle Übergriffe am Tahrir-Platz (Memento vom 12. Januar 2016 auf WebCite), In: Zeit.de vom 3. Juli 2013.
  4. Angie Abdelmonem: Reconceptualizing Sexual Harassment in Egypt: A Longitudinal Assessment of el-Taharrush el-Ginsy in Arabic Online Forums and Anti-Sexual Harassment Activism. In: Kohl: A Journal for Body and Gender Research 1, no. 1 (Summer 2015): 23-41.
  5. Tahrir-Platz in Kairo: Französische Reporterin wurde sexuell belästigt. In: Spiegel Online vom 21. Oktober 2012, abgerufen am 12. Januar 2016
  6. Gang rape, the dark side of Egypt's protests. In: CNN.com vom 3. Juli 2013, abgerufen am 12. Januar 2016 (englisch)
  7. UK journalist assaulted in Tahrir Square: 'Please make it stop'. In: CNN.com vom 28. Juni 2012, abgerufen am 12. Januar 2016 (englisch)
  8. CBS News' Lara Logan Assaulted During Egypt Protests. In: CBS News vom 16. Februar 2011, abgerufen am 13. Januar 2016 (englisch)
  9. Brutale Vergewaltigungen im Schatten des Tahrir. In: Welt.de vom 1. Februar 2013, abgerufen am 13. Januar 2016
  10. Nach Kölner Sex-Angriffen: BKA will das Phänomen „taharrush gamea“ bekämpfen
  11. Bericht des Ministeriums für Inneres und Kommunales über die Übergriffe am Hauptbahnhof Köln in der Sylvesternacht, Düsseldorf 10. Januar 2016, 15seitiger Bericht und Anschreiben von Minister Jäger an das Landtagspräsidium und den Innenausschuss
  12. Der Name wird bei Erhardt unterschiedlich wiedergegeben. Laut dem Centre for Feminist Research at York University: Upcoming Events and Opportunities February 3rd, 2014 ist sie ursprünglich aus Schweden, hat in Ägypten einen Bachelor in Middle Eastern Studies erworben und arbeitet in Ägypten.
  13. a b c d Christoph Ehrhardt: Gewalt gegen Frauen in Ägypten Wo sexuelle Belästigung Alltag ist. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 15. Januar 2016, ISSN 0174-4909 (faz.net [abgerufen am 15. Januar 2016]).
  14. Frust junger Männer entlädt sich in sexueller Gewalt. In: Deutschlandradio Kultur vom 13. Januar 2016
  15. H. Timmons, S. Gottipati: "Eva necken" – Aggressionen überschüssiger Männer. In: Welt Online. 5. Januar 2013 (welt.de [abgerufen am 12. Januar 2016]).
  16. a b David Barstow, C. J. Chivers: A Volatile Mixture Exploded Into Rampage in Central Park. In: The New York Times. 17. Juni 2000, ISSN 0362-4331 (nytimes.com [abgerufen am 12. Januar 2016]).
  17. Katherine E. Finkelstein: 5 Men Are Indicted in Attacks On Women in Central Park. In: The New York Times. 21. Juni 2000, ISSN 0362-4331 (nytimes.com [abgerufen am 12. Januar 2016]).
  18. Ivar Arpi, 16.1.2016, Gastkommentator des Svenska Dagebladet: It’s not only Germany that covers up mass sex attacks by migrant men... Sweden’s record is shameful. In: The Spectator. Abgerufen am 16. Januar 2016 (amerikanisches Englisch).
  19. Assaults at the Stockholm festival have never been fully investigated In: Dagens Nyheter, 11. Januar 2016. Abgerufen im 13. Januar 2016 
  20. Daily Mail
  21. Guardian
  22. Die Welt
  23. Neue Zürcher Zeitung