Benutzer:Mme. Thelielle Déchue/Verhältnismässigkeit

Der „Grundsatz der Verhältnismäßigkeit“ ist eine teilweise in nationalen, supra- und internationalen Rechtsakten aufgenommene Leitregel für staatliches Handeln. Bezugspunkt des Grundsatzes ist das im jeweiligen Staatsgebilde geltende Rechtssystem, vornehmlich die in dem Staat oder in der supranationalen Organisation wie der EU geltende Verfassung: Hoheitliches Handeln wird, wenn es die Handlungsfreiräume des einzelnen Bürgers reguliert, an seiner „Verhältnismäßigkeit“ gemessen: Die gesetzgeberisch verfolgten Legitimationsziele wie Staatsinteresse, Gemeinwohl, grundrechtlicher Schutz bestimmter Gruppen, werden hierzu gegen andere Freiheitsrechte betroffener Bürger und deren Interessen nach Relevanz, Gewichtigkeit und Folgewirkungen abgewogen. Damit stellt das Verhältnismäßigkeitspostulat das gesetzgeberische Normenziel in einen ‚ganzheitlichen‘ Deutungsrahmen und führt im Licht eines angemessen erscheinenden Interessenausgleichs zu gebotenen Anpassungen (Korrekturen) des normierten Regelungsinhalts. Es ist das „Herzstück“ der Grundrechtsprüfung [1] .

I.         Geltung

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1. Völkerrecht

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Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist kein global anerkanntes Rechtsprinzip mit allgemeingültigen Maßstäben. Rezente Plädoyers für seine globale und generelle Geltung erscheinen angesichts der begrifflichen Vagheit und Vieldeutigkeit der „Verhältnismäßigkeit“ und Unterkriterien wie Geeignetheit, Notwendigkeit oder Angemessenheit voluntativ-ambitioniert. Der Bezug zur jeweiligen staatlichen Rechtsordnung, die religiös-klerikal, ständisch, ideologisch oder autokratisch geprägt sein, eine Klassengesellschaft etablieren oder bestimmte Personen oder Schichten privilegieren kann, und die rechtskulturell unterschiedlichen Vorstellungen von „Verhältnismäßigkeit“ indizieren eher einen globalen Relativismus des Verhältnismäßigkeitsgebotes. Was in der Philosophiegeschichte zutage tritt, wenn die Thematik Gerechtigkeit/Verhältnismäßigkeit/ Angemessenheit vor dem Hintergrund des unterschiedlichen Rangs bzw. Wertes von Menschen, eines idealtypisch richtigen Lebens nach göttlichen Normen oder einer politischen Ideologie behandelt wird.[2]  Demgegenüber schuldet in freiheitlich-egalitären, laizistischen Ordnungssystemen der Staat nach rationalistischen und realitätsgerechten Erkenntnismethoden die Herstellung von Gleichheits- und Verteilungsgerechtigkeit. Er hat ein Über- oder Untermaß in seinem Handeln zu vermeiden und wird in seinem „rechtlichen Dürfen“ durch das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit begrenzt.

Das Verhältnismäßigkeitsgebot ist im Völkerrecht undefiniert und weitgehend partikularistische Rechtspraxis geblieben, hat keinen Eingang in die AEMR gefunden und wird in  der ESC (zB. Art. 2 ESC: Recht auf angemessene Arbeitszeit ) und in der  in den Konventionsstaaten geltenden EMRK (Art. 8 Abs. 2 „notwendig“/Art.2 Abs. 2 a „unbedingt erforderlich“) nur partiell thematisiert[3]. Eine ‚Ausnahme‘ deutet zwar das in Genfer Abkommen sowie der Haager Landkriegsordnung normierte humanitäre Völkerrecht an[4] .Im Kompromiss zwischen militärischer Notwendigkeit und dem Gebot der Menschlichkeit verlangt dort der sog.  humanitäre Grundsatz der Verhältnismäßigkeit („Exzessverbot“), dass bei Angriffen die möglichen zivilen Schäden und Verluste im Verhältnis zum konkreten und direkten militärischen Vorteil abgewogen werden müssen und Angriffe unzulässig sind, die voraussichtlich zu zivilen Opfern oder Schäden führen, die außer Verhältnis zum erwarteten militärischen Nutzen stehen. Damit ist das Verhältnismäßigkeitsgebot des humanitären Völkerrechts jedoch wesensverschieden zu dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, wie er im nationalen und unionalen Recht gilt.

         

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2. EU-Recht mit unmittelbarer Wirkung

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Das Unionsrecht hat – gesondert neben der strafrechtlichen (Art. 49 Abs. 3 GRC), der kompetenziellen Regelung (Art. 5 Abs. 4 Abs. 3 S. 2 EUV oder der RL 2018/958 zur Verhältnismäßigkeitsprüfung[5] vor Erlass neuer Berufsreglementierungen (s. ErwGr. 3 und das dt. Umsetzungsgesetz BGBl. 2024 Teil I Nr. 12 vom 22.01.2024 ) --  den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit [Principle of proportionality / Principe de proportionnalité] in Art. 52 Abs. 1 GRC normiert:

Jede Einschränkung der Ausübung der in dieser Charta anerkannten Rechte und Freiheiten muss gesetzlich vorgesehen sein und den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten.

Unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit dürfen Einschränkungen nur vorgenommen werden, wenn sie erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl

dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen.

Dieser Vorgabe muss das sekundäre Unionsrecht selbst genügen (zur Unwirksamkeit einer Richtlinie: EuGH 08.04.2014 - C-293/12 Digital Rights Ireland, Rn. 38, 46 ff., 71).

.- Weiterhin gilt sie für die nach Art. 288 Abs. 2 AEUV unmittelbar in allen Mitgliedstaaten verbindlichen Verordnungen und - sofern die Voraussetzung erfüllt ist, dass aus der unionsrechtlichen Bestimmung klar hervorgeht, dass es nicht noch durch Bestimmungen des nationalen Rechts konkretisiert werden muss (abl. zu Art. 30 GRC  EuGH 11.07.2024  - C‑196/23 Plamaro, Rn. 49, 54 f.) - in Fällen der unmittelbaren Anwendbarkeit von GRC-Grundrechten,

- Ferner sind Richtlinien für die Organe und Einrichtungen der EU sowie für nationale Behörden bei der Umsetzung von EU-Recht unmittelbar rechtlich bindend (EuGH 06.11.2018 - C‑569/16 Bauer, Rn. 70, 73)

Das für verhältnismäßig befundene Unionsrecht mit unmittelbarer Wirkung schreibt der EuGH den Mitgliedstaaten verbindlich vor (z.B.  EuGH  15.07. 2021- C-804/18 WABE, Rn. 86, EuGH 19. 11.2019 - C‑609/17 TSN, Rn. 43 (50), EuGH 05.07.2017 - C‑190/16 Fries , Rn. 73).

3. ‚Verhältnismäßigkeit‘ in EU-Richtlinien

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Eine Richtlinie begründet, auch wenn sie klar, genau und unbedingt ist, grundsätzlich nicht selbst Verpflichtungen für einen Einzelnen, falls hiernach – entgegen einer innerstaatlichen Bestimmung - einer Privatperson eine zusätzliche Verpflichtung auferlegt würde (EuGH 20.02.2024 - C‑715/20 K. L., Rn. 73 f..) Wohl ist, wenn der EuGH um Auslegung einer Richtlinie ersucht ist, die von ihm „uneingeschränkt angenommene Verhältnismäßigkeit der Richtlinie mit der Maßgabe verbindlich, dass sie  im Wege der unionsrechtskonformen Auslegung in innerstaatliches Recht umzusetzen ist (EuGH 11.07.2024 - C‑196/23 Plamaro, Rn. 42 ff.).

Weil die im deutschen Recht angezeigte Verhältnismäßigkeitskontrolle sich auf das Grundgesetz bezieht, sind allerdings Abweichungen vom (durch das von der GRC bestimmte) Unionsrecht nicht ausgeschlossen. Eine weitere Divergenz besteht darin, dass die subjektive Vorstellung des Gesetzgebers für das BVerfG nicht entscheidend ist (BVerfG 17.01.2017  - 2 BvB 1/13, Rn. 555) und im Rahmen der „objektiven Gesetzesauslegung“ die Angemessenheit/Zumutbarkeit bewertet wird, wohingegen der EuGH auf die vom Unionsgesetzgeber beim Erlass des Rechtsaktes berücksichtigten Faktoren und das tatsächlich ausgeübte Ermessen abstellt  (EuG 26.07.2023 - T‑269/21 Arctic Paper, Rn. 95, 131; bezüglich der den Mitgliedstaaten überlassenen Ermessensausübung (EuGH 21.10.2010 - C‑227/09 Accardo, Rn. 51, 55.). Schließlich kann die nationale Unterschiedlichkeit der sozialen, politischen, rechtlichen und ökonomischen Funktionssysteme und ihrer Sicherungsnetze andere Einschätzungen der  Angemessenheit und Zumutbarkeit staatlicher Regulierungen nahelegen. Gleichwohl werden diese Verschiedenartigkeiten wegen der im wesentlichen deckungsgleichen grundrechtlichen Garantien selten relevant  (so BVerfG 06. 11.2019 - 1 BvR 276/17 Rn. 44 ff.; zweifelnd z.B. Miller: Relevanz und Provenienz unionaler Grundrechtsdogmatik, ZfS 2023, 1211 ff.  ), und es ist von der grundsätzlichen Vermutung auszugehen, dass das Schutzniveau der Charta der Grundrechte der Europäischen Union durch die Anwendung der Grundrechte des Grundgesetzes mitgewährleistet ist (BVerfG 27.04. 2021 - 2 BvR 206/14, Rn. 58 ff.).

Eröffnet hingegen die Richtlinie den Mitgliedstaaten eigene Gestaltungsspielräume und ein nicht an das unionsrechtliche Verhältnismäßigkeitsprinzip gebundenes Ermessen, kann nach dieser insoweit eingeschränkten Vorgabe die nationale Verhältnismäßigkeitskontrolle gemäß den innerstaatlichen Maßstäben stattfinden (BVerfG 29.09.2022 - 1 BvR 2380/21 Tierarztvorbehalt, Rn. 94; dgg.EuGH 25.04.2024 - C‑657/22 Bitulpetrolium, Rn. 24/28).

Wenn die Richtlinie zur innerstaatlichen Durchführung den Mitgliedstaaten verfahrensrechtlich den Erlass eine Rechtsvorschrift aufgibt, ist der nationale Gesetzgeber in die Pflicht genommen. Daher steht die Zulässigkeit einer (an seine Stelle tretenden) richtlinienkonformen Rechtsfortbildung infrage, selbst dann, wenn der Ruf nach gesetzgeberischem Tätigwerden „bislang [scil. seit Jan. 2009] ohne Erfolg“ verhallt ist (vgl. BAG 07.08.2012 - 9 AZR 353/10, Rn. 32 ff.; EuGH,10.07.2014 - C-421/12 Kommission / Belgien Rn. 46).

4. Unterkriterien

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a) EU-Recht.  Der legitime Zweck, i.c. Regelungszweck/-ziel des jeweiligen Unionsrechtsaktes, ist der Ausgangspunkt des Unionsgerichtshofs für Prüfung von Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit des Unionsrechtsaktes  (EuGH 11.07.2024 - C‑601/22 WWF Österreich, Rn. 80 , EuG, 17.07.2024 - T-403/21 Norddeutsche Landesbank, Rn. 345, EuGH 26.04. 2022 - C‑401/19 Polen / Parlament und Rat, Rn. 65 ff.). Richtmaß sind die „von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer“ (EuGH 21.03.2024 - C-61/22 Landeshauptstadt Wiesbaden, Rn. 82).

b)  Deutsches Recht -> Hauptartikel :Verhältnismäßigkeitsprinzip (Deutschland)

Das  BVerfG spricht dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, auch wenn im Grundgesetz nicht explizit benannt, gemäß Art. 20 Abs. 3 GG Verfassungsrang zu (BVerfG 05.03.1968  - 1 BvR 579/67, Rn. 19). Die dem Einzelnen unter Vorbehalt der verfassungsmäßigen (Rechts-)Ordnung gebührende Grundrechtsgewährleistung aus Art. 2 Abs. 1 GG begründet für Maßnahmen, die der Staat zum Schutz öffentlicher Interessen oder der Interessen anderer Betroffener trifft, das Gebot der Verhältnismäßigkeit. Es determiniert die Gesetzgebung, indem insbes. die Folgen staatlicher Eingriffe in grundrechtliche Freiheitsrechte, „verhältnismäßig“ sein müssen: Nach diesem Maßstab hat der Staat die betroffenen Interessen zu erkennen, in ihrer Schutzwürdigkeit einzuschätzen und in der Gesetzesregelung  zum Ausgleich zu bringen (BVerfG 06.06.1989 - 1 BvR 921/85 Reiten im Walde, Rn. 78, 80  101: zur Abwägung der Interessen der beteiligten Wanderer und Reiter durch Trennung des Erholungsverkehrs; Rn. 124 Taubenfüttern im Park; BVerfG, 29. 09.2022 - 1 BvR 2380/21, Rn. 141; z.B. zu einer Jahresfrist BFH 29.08.2023 - VII R 1/23, Rn. 52).

Rechtsstaatlich abgesichert, ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit das Korrektiv eines Unter- oder Übermaßes staatlicher Maßnahmen und verlangt vom Gesetzgeber, die zur Verfolgung des Normziels und der Zweckerreichung  gewählten Mittel an den Kriterien der Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit auszurichten. Die Rechtsprechung des BVerfG hat eine ebenso filigrane  wie umfängliche Ausarbeitung dieser Kriterien und der sie ergänzenden Gebote der Gleichheitsgerechtigkeit und des Vertrauensschutzes entwickelt und die judikativen Maßstäbe der Kontrolldichte ausdifferenziert (BVerfG 30.06.2022 - 2 BvR 737/20, Rn. 102, BVerfG 07.04.2022- 1 BvL 3/18, Rn. 287, 30; BVerfG 21.07.2022 - 1 BvR 469/20 Impfnachweis (Masern): Die inkriminierte Regelung müsse 1. legitime Zwecke verfolgen (Rn. 102), 2. sei sie als nicht mehr geeignet zu erachten, wenn sie die Erreichung des Gesetzeszwecks in keiner Weise fördern oder sich sogar gegenläufig auswirken könne (Rn. 113), 3. und nicht notwendig, falls dem Gesetzgeber ein milderes Mittel zur Verfügung stehe, das in gleicher (oder sogar besserer) Weise geeignet sei, den Zweck zu erreichen, aber den Betroffenen und die Allgemeinheit weniger (Rn. 116, 227) und Dritte auch nicht stärker belastet (BVerfG 18.07.2005 - 2 BvF 2/01), 4. habe angemessen zu sein, was bedeute, dass der mit der Maßnahme verfolgte Zweck und die zu erwartende Zweckerreichung nicht außer Verhältnis zu der Schwere des Eingriffs stehen dürfe; insoweit müssen Interessen des Gemeinwohls umso gewichtiger sein, je empfindlicher die Einzelnen in ihrer grundrechtlich geschützten Freiheit beeinträchtigt werden (Rn. 130).

c) Österreich. Im österreichischen Recht wird das Kriterium der „Notwendigkeit“ i.S.v. Verhältnismäßigkeit in bestimmten Konstellationen und im Licht des EGMR konkretisiert (vgl. VfGH - G 105/2023-13, Rn. 66 f., Eberhard, Öffentliches Recht, 2022, S. 29 f. ferner Khakzadeh, elements Verfassungsrecht, 2022, S. 222; Verhältnismäßigkeitsprüfungs-Gesetz vor Erlassung neuer Berufsreglementierungen v. 29.08.2024).

d) SchweizHauptartikel: Verhältnismässigkeitsprinzip

Die Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 bestimmt in Art. 5 Abs. 2: „Staatliches Handeln muss im öffentlichen Interesse liegen und verhältnismässig sein“. In Art. 36 Abs. 3 heißt es ferner: „Einschränkungen von Grundrechten müssen verhältnismässig sein.“  Die Rechtsprechung des Bundesgerichts (08.06.2020 -2C_395/2019  zu 3.4) konkretisiert das Verhältnismäßigkeitsprinzip dahingehend, dass die (bezogen auf den in der Vorschrift genannten Personenkreis gerichtete) Maßnahme geeignet, erforderlich und zumutbar sein müsse. Zu dem Verweis des (i.c. impfpflichtigen) Betroffenen, an seiner Stelle ein milderes Mittel Dritten zu verabreichen, wird ausgeführt: „Mit dem Verhältnismässigkeitsprinzip können sodann keine Massnahmen gegenüber Dritten geschaffen werden; das Verhältnismässigkeitsprinzip ersetzt keine gesetzliche Grundlage, welche Grundlage für einen Grundrechtseingriff bei Dritten bildet“.

II.  Prüfmaßstäbe der Praxis

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1.  Unionsrecht

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Grundsätzlich erwartet der EuGH vom Unionsgesetzgeber die Berücksichtigung der objektiven und umfassenden „Grunddaten“ sowohl hinsichtlich der Faktizitäten als auch hinsichtlich der Folgenabschätzung, etwa der finanziellen Belastung für andere Wirtschaftsteilnehmer. Die Unionsbehörden haben „vor den Unionsgerichten zu belegen, dass sie beim Erlass des Rechtsakts ihr Ermessen tatsächlich ausgeübt haben, was voraussetzt, dass alle erheblichen Faktoren und Umstände der Situation, die mit diesem Rechtsakt geregelt werden sollten, berücksichtigt worden sind“, und dass sie danach beim Erlass des Rechtsakts ihr Ermessen tatsächlich ausgeübt haben (EuG 26.07.2023 - T‑269/21 Arctic Paper, Rn. 130 ff.; vgl. EuGH 21.03.2024 - C‑61/22 Landeshauptstadt Wiesbaden, Rn. 45 ff.,77, EuGH 08.12.2020 C‑626/18 Polen/Parlament und Rat, Rn. 99). Mit den Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit des Rechtsaktes und an die normenwahre Ermessensausübung verbindet die EuGH-Rechtsprechung das Gebot der Normenklarheit (EuGH 26.04. 2022 - C‑401/19 Polen / Parlament und Rat, Rn. 67).

Im Übrigen wird dem Unionsgesetzgeber insbesondere bei der Beurteilung von hochkomplexen wissenschaftlichen und technischen tatsächlichen Umstände ein weites Ermessen zugestanden und die offensichtlich fehlerhafte Ausübung eines solchen Ermessens als Kontrollschwelle genommen (EuG 26.07.2023 - T‑269/21 Arctic Paper, Rn. 130).

Was die vom Unionsgesetzgeber beurteilte Art und Tragweite des Rechtsaktes anbelangt dürfen diese, um die ausgewogene Gewichtung zu den betroffenen Grundrechten zu ergeben, nicht außer Verhältnis zu den verfolgten Zielsetzungen stehen (EuGH 21. 03.2024 - C‑61/22  Landeshauptstadt Wiesbaden, Rn. 83 f., 123), Das weite Ermessen ist der Ambivalenz von politischem Handeln geschuldet und  betrifft jene Bereiche, in denen die Tätigkeit des  Unionsgesetzgebers politische als auch wirtschaftliche oder soziale Entscheidungen verlangt und in denen die Union komplexe Prüfungen und Beurteilungen vornehmen muss (EuGH 08.12.2020 - C‑620/18 Ungarn / Parlament und Rat, Rn. 112).

2.  Deutsches Recht

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Ähnlich dem Unionsrecht verlangt das BVerfG eine „ausreichende Tatsachengrundlage der gesetzgeberischen Entscheidung. "Denn das Fehlen einer selbständigen Sachaufklärungspflicht im Gesetzgebungsverfahren befreit den Gesetzgeber nicht von der Notwendigkeit, seine Entscheidungen in Einklang mit den verfassungsrechtlichen Anforderungen, insbesondere den Grundrechten, zu treffen, und sie insoweit - etwa in Blick auf die Verhältnismäßigkeitsanforderungen - auf hinreichend fundierte Kenntnisse von Tatsachen und Wirkzusammenhängen zu stützen. Er muss zudem die von Fall zu Fall zu bestimmenden Grenzen der ihm eröffneten Einschätzungsprärogative im Hinblick auf künftige Entwicklungen einhalten“ (BVerfG 06. 12.2016 - 1 BvR 2821/11, Rn. 275; zur  „realitätsgerechten“ NachprüfungBVerfG 07.04.2022 -1 BvL 3/18,, Rn. 316 f.).

Fehlt es an hinreichend gesicherten wissenschaftlichen „Grunddaten“ oder empirischen Evidenzen, werden der Gesetzgeber und die Gerichte aus Gründen der Funktionalität der Rechtsordnung, zumal in Fällen von Dringlichkeit einer Gesetzregelung, und des Gebots einer möglichst tragfähigen Grundlage sich auf die Plausibilität von Aussagen über die prägenden tatsächlichen Verhältnisse des geregelten Sachbereichs und danach bestehenden „Wahrscheinlichkeiten“ berufen dürfen. Daher kann es, soweit der objektive Datenkranz für die Bewertung und Einordnung eines Umstandes nicht ausreicht, geboten sein, “ohne Ambiguitätsscheu“[6] nach dem Grad der Plausibilität zu urteilen. Die nach wie vor verpflichtende Vornahme einer validen Prognose lässt indessen keine Begründung zu, die auf anekdotischen und spekulativen Narrativen beruht, zu einem nur scheinbar empirischen Muster führt oder - ohne repräsentativ und realitätsgerecht begründetes Erfahrungswissen - einen atypischen Vorgang zum vermeintlichen Regelfall hochhievt (vgl. BVerfG 28.11. 2023 - 2 BvL 8/13, Rn. 118, 152). Der Gesetzgeber hat einen Einschätzungsspielraum hinsichtlich der Folgenabschätzung der Prognose mit deren immanenten Unwägbarkeiten (Niels Bohr “it is difficult to predict, especially the future”)  (vgl. BVerfG 21.07.2022 - 1 BvR 469/20, Rn. 130 ).

Angesichts der Ambivalenz der von der Maßnahme tangierten Grundwerte und der Interessenlagen, in deren Kontext die parlamentarischen Demokratien agieren, unterliegen die politisch geprägten Richtungsentscheidungen und Zielvorstellungen, sofern sie selbst nicht grundgesetzwidrig sind oder außer Verhältnis zu der Schwere des Eingriffs stehen (BVerfG 29.09.2022 - 1 BvR 2380/21, Rn. 119) einem weiten Ermessen des Staates hinsichtlich Intentionalität und Zielverwirklichungsvorstellung.

Literatur

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Einzelnachweise

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  1. Calliess, Grundrechtsschutz durch den Gerichtshof der EU: Entwicklung, Methoden und Perspektiven, 2022, S.  17,  https://www.jura.fu-berlin.de/forschung/europarecht/bob/berliner_online_beitraege/Paper144-Calliess/BOB144_Grundrechtsschutz-durch-den-Gerichtshof-der-EU--Entwicklung_-Methoden-und-Perspektiven.pdf
  2. zB. Knoll Die distributive Gerechtigkeit bei Platon und Aristoteles ZfP 57. Jg. 1/2010, S. 7 f. .
  3. krit. zur richtermächtigen EGMR-Spruchpraxis Piska, EGMR spielt Klimapolitiker, Seiler, Fehlentwicklungen des Verhältnismässigkeitsprinzips. ZBI, Nr. 123, August 2022, S. 397 f.
  4. ferner § 11 Abs. 1 Nr. 3 u. 7 Völkerstrafgesetzbuch (VStGB) .
  5. EU-Richtlinie RL 2018/958 https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/HTML/?uri=CELEX:32018L0958
  6. zur Ambiguität als VUCA-Phänomen vgl. Beck, Öffentliche Verwaltung in der VUCA-Welt, 2021, Sautermeister, Stichwort Ambiguität/Ambivalenz, 2023