Ein Land schöpft aus dem Sport Hoffnung 29.07.2019
 
Warum der Tour-Sieg für Kolumbien so wichtig ist

 
Mit Egan Bernal hat ein Kolumbianer die Tour de France gewonnen. Was kann das für das Land bedeuten? Von Georg Ismar

 

Jeden Tag um sechs Uhr morgens, und um sechs Uhr abends ertönt im Radio die kolumbianische Nationalhymne. Dank Egan Bernal gerade etwas lauter als sonst. „Du lässt uns unsere Hymne mit mehr Stolz und Leidenschaft singen“, betont Friedensnobelpreisträger Juan Manuel Santos. Der Triumph des Kolumbianers Bernal bei der Tour de France lässt ein ganzes Land feiern – und neue Hoffnung schöpfen. Radfahrer legen ehrfürchtig ihre Räder vor einem Wandbildnis des 22-Jährigen in seiner Heimatstadt Zipaquirá bei Bogotá ab. Mehrere Zeitungen erscheinen mit gelben Titelseiten.

Warum ist dieser Sieg so wichtig für das Land?

Der erstmalige Tour-Triumph eines Kolumbianers wirkt weit über das Sportliche hinaus. Nach vielen Rückschlägen im Friedensprozess wird er auch als ein politisches Signal für das zerrissene Land gesehen, vielleicht vergleichbar mit dem deutschen Fußball-WM-Sieg 1954. Weil er das Land in einer brenzligen Situation zusammenschweißt, genau rechtzeitig zum 200. Jahrestag der Unabhängigkeit von Spanien am 7. August. „In unserem Land ist es normal, dass Winter und Sommer am selben Tag herrschen, Hagel und Sonne, Scham und Freude, Schmerz und Glück“, betont der „El País“-Kolumnist Héctor Abad Faciolince.

Just an dem Tag, als Bernal am höchsten Pass der Alpen, dem Col de l’Iseran (2764 Meter), die entscheidende Attacke setzte und sich das Gelbe Trikot sichern konnte, kam es in der Heimat zu einem Protestmarsch gegen die anhaltende Gewalt im Land. Dort große Freude, hier große Wut. Aufgerufen zu dem „Aufschrei“ („El Grito“) hatte das Bündnis „Verteidiger des Friedens“. Anlass war die Ermordung einer afrokolumbianischen Landrechtsaktivistin im Juni. Nach Angaben des Instituts „Indepaz“ wurden seit dem Amtsantritt des konservativen Präsidenten Iván Duque im August 2018 insgesamt 229 Menschrechts-, Land- und Umweltaktivisten sowie Ex-Guerilleros der Farc (Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia) ermordet.

Seit Unterzeichnung des Friedensvertrags zwischen Regierung und Farc im November 2016 wurden bereits 627 Aktivisten und Ex-Kämpfer ermordet. Das zeigt: Von einem echten Frieden ist Kolumbien weit entfernt – und Duque bremst bei der Umsetzung der Vereinbarungen. Zudem ist der Staat weiter in vielen Regionen des Landes kaum mit Polizei oder Militär präsent – rechtlose Räume, die nach der Entwaffnung der Farc andere irreguläre Gruppen und Banden füllen.

Der Kolumnist Héctor Abad Faciolince erinnert daran, dass Gelb schon die Farbe der Schmetterlinge im Roman „Hundert Jahre Einsamkeit“ über Aufstieg und Fall der Familie Buendia von Gabriel García Márquez war. Der Literaturnobelpreisträger prägte den „Realismo mágico“, den magischen Realismus. So wirkt auch der Überraschungssieg von Egan Bernal, der eigentlich nur beim Giro d’Italia starten sollte, sich dann aber das Schlüsselbein brach und plötzlich nach dem Auskurieren stattdessen bei der Tour startete. Gelb ist aber auch der oberste Balken der kolumbianischen Farbe, das steht einerseits für den natürlichen Reichtum des Landes, das abwechslungsreich ist wie kaum ein zweites und schon Alexander von Humboldt in seinen Bann zog. Zum anderen aber auch für Einheit und Frieden zwischen den so oft verfeindeten rechten und linken politischen Lagern im Land.

Warum hapert es beim Friedensprozess?

Ex-Präsident Santos sorgt sich sehr um sein Vermächtnis. Er war es, der als Verteidigungsminister unter Präsident Álvaro Uribe die Farc-Guerilla mit Bombern in ihren Dschungelverstecken angreifen ließ, viele unschuldige Zivilisten starben. Von dem Hardliner Uribe, dessen Vater von Farc-Mitgliedern ermordet worden sein soll, zum Nachfolger auserkoren, wandelte sich Santos plötzlich vom Falken zur Friedenstaube. Er hatte erkannt: militärisch ist dieser asymmetrische Krieg nicht zu gewinnen und der größte Verlierer ist und bleibt die darunter leidende Landbevölkerung. Die weiße Guayabera, das fein bestickte, in der Karibik getragene Hemd, tauschte er gegen den schwarzen Anzug.

Friedensymbolik überall, seit 2012 wurde in der kubanischen Hauptstadt über eine Beendigung des kolumbianischen Konflikts verhandelt, bevor es unter tatkräftiger Unterstützung unter anderem von Norwegen und den Vereinten Nationen 2016 zum Durchbruch kam – nach 220.000 Toten und über sechs Millionen Binnenflüchtlingen. Doch dem Aufbruch folgte die Ernüchterung. Es war Uribe, der mobil machte gegen den Friedensvertrag, da die meisten der zuletzt noch knapp 8000 Kämpfer im Rahmen einer Sonderjustiz ohne harte Gefängnisstrafen davonkommen sollten. Das Abkommen wurde in einem Referendum abgelehnt und dann von Santos durch das Parlament geboxt. Ein Makel, bis heute.

Dennoch kam es zur Waffenabgabe in sogenannten Friedenscamps unter UN-Beobachtung. Bei einem Besuch 2017 in so einem Camp an der Grenze zu Venezuela war Babygeschrei in mehreren Zelten zu hören – die Frauen sollten nun nicht mehr kämpfen und konnten Familien gründen. Die Waffen wurden eingeschmolzen – der neuen Farc-Partei wurden zehn Sitze im Parlament und Senat zugesichert, Santos bekam den Friedensnobelpreis. Doch bei der Wahl 2018 gewann nicht Santos‘ Verhandler des Friedensvertrags mit der Farc, Humberto de La Calle (er landete bei 2 Prozent der Stimmen), sondern Uribes Kandidat Iván Duque. Er ist gegen sechs der 159 Artikel des Abkommens für eine Sonderjustiz (Jurisdicción Especial para la Paz) – die unter anderem Verfahren vor Sondergerichten und das Verbüßen von Freiheitsstrafen zum Teil auf Haciendas vorsieht.

Als Höchststrafe wurden lediglich acht Jahre Freiheitsentzug festgelegt – im Gegenzug verpflichten sich Ex-Kämpfer zur Mitarbeit bei der Aufklärung von Verbrechen und Wiedergutmachung sowie zu einer dauerhaften Absage an den bewaffneten Kampf. Duque ist vor allem dagegen, dass normale Gerichte, die härtere Strafen verhängen oder Auslieferungen in die USA anordnen könnten, Verfahren an die Sonderjustiz abgeben sollen, wenn es einen Bezug zum Konflikt gibt. Ende Juni verschwand im Grenzgebiet zu Venezuela unter mysteriösen Umständen einer der Ex-Anführer der Farc, Jesús Santrich – es wird spekuliert, ob er sich dem Zugriff der Justiz entziehen wollte, die USA beschuldigen ihn, massiv in den Kokainhandel verstrickt gewesen zu sein – sein Anwalt fordert von der Regierung, sich an gegebene Garantien zu halten.

Was ist die Folge der Unsicherheit?

Ehemalige Farc-Kämpfer fühlen sich verraten und schließen sich anderen Gruppen an. Und die kleine, aber sehr gewaltbereite ELN-Guerilla (Ejército de Liberación Nacional). Im Januar wurden bei einem Autobombenanschlag in Bogotá 21 Menschen getötet, 68 wurden verletzt. Zu dem schwersten Anschlag seit Jahren bekannte sich die ELN, Kolumbiens letzte aktive Guerillagruppe. Duque sagte daraufhin: „Es reicht“. Hier sind alle von Santos noch eingeleiteten Friedensbemühungen auf Eis gelegt worden. Gerade in den weit entlegenen Gebieten leidet die Bevölkerung daher weiter unter Gewalt und Entführungen. Die ELN ist besonders im Grenzgebiet zu Venezuela aktiv und soll von der dortigen sozialistischen Regierung protegiert werden. Die kolumbianische Regierung gehört zu den größten Gegnern von Präsident Nicolás Maduro. Im Grenzgebiet wurden im Departement La Guajira über viele Kilometer ungewöhnlich breite, schnurgerade Straßen gebaut, ideal zum Starten und Landen von Kampfflugzeugen. Seit 2014 sind über eine Million Venezolaner in das Nachbarland geflüchtet, die humanitäre Krise verschärft die Lage zusätzlich. Anfangs wie in Deutschland mit offenen Armen empfangen, kippt vielerorts die Stimmung gegen die Venezolaner, in der Karibikregion campen viele an Stränden und auf Stadtplätzen unter freiem Himmel.

Was ist mit dem Kokaanbau?

Die drastische Reduzierung war ein weiteres Hauptziel des Friedenschlusses mit der Farc, denn der Kokaanbau und die Verarbeitung der Blätter, unter Beimischung von Chemikalien zu Kokain, war eine der Hauptfinanzierungsquellen. Experten bezichtigten die venezolanische Regierung in Zusammenarbeit mit der kolumbianischen Guerilla zu einem der größten Drogenhändler der Region geworden zu sein. Kolumbien produziert rund 70 Prozent des weltweiten Kokains. Doch statt zurückzugehen, explodierte 2017 nahezu die Koka-Anbaufläche nach dem Rückzug und der Waffenabgabe der Farc. Die Ernte 2017 war die größte aller Zeiten. Der Grund scheint ausgerechnet im Friedensvertrag zu liegen, wie der „Economist“ zuletzt berichtete. Denn jeder Kokabauer sollte in der Übergangsphase rund 300 Dollar im Monat bekommen, wenn er sich stattdessen für den Anbau anderer Produkte wie Kakao, Avocados oder Bananen entscheidet.

Somit wurde nochmal richtig viel Koka angepflanzt, um in den Genuss des Kompensationsangebots zu kommen. Doch von rund 99.000 Kokabauern habe bisher noch nicht einmal die Hälfte Geld gesehen. Wird dieses Versprechen nicht eingelöst, droht ein ungebremster weiterer Koka-Anbau im Land. In vielen Regionen fehlt schlicht staatliche Präsenz, auch Schulen, Strom und Wasser. Und Koka kann mehrfach im Jahr geerntet werden – man verdient damit weit mehr als mit Bananen. So kommt eine alte, hochumstrittene, für die Zivilbevölkerung mit viel Leid verbundene Bekämpfungsmethode aus den Zeiten des US-„War on drugs“ wieder ins Spiel: Für US-Außenminister Mike Pompeo ist das Besprühen der Plantagen „ein wichtiges Instrument“. Und dann käme ein Produkt der Bayer-Tochter Monsanto ins Spiel: Glyphosat.

Wie sehen internationale Organisationen den Prozess?

Sehr kritisch. Denn diverse militarisierte Gruppen erstarken wieder, auch die rechten Paramilitärs, die früher die linke Guerilla bekämpft haben. „Trotz der großen Amnestie und Entwaffnung unter der Regierung von Uribe – die Strukturen im Hintergrund sind offenbar nie verschwunden“, sagt der Kolumbienexperte von Misereor, Stefan Tuschen. Mancherorts fühlen sich die Menschen um 10, 20 Jahre zurück versetzt, weil plötzlich wieder Soldaten mit unbekannten vermummten Bewaffneten auftauchen. Die Hauptkonfliktlinien der neuen Auseinandersetzungen seien die Landrückgabe, Ersatz des Koka-Anbaus und die Kontrolle der Drogenrouten.

Aber auch Menschen, die sich für Umweltschutz oder gegen Großprojekte wie den Ausbau des Hafens Buenaventura oder Wasserkraftwerke engagieren, bezahlten mit ihrem Leben. „Insgesamt stellt sich die Frage, was mit den ganzen Geldern, die derzeit in Kolumbien investiert werden, tatsächlich passiert“, betont Tuschen. „Die Bundesregierung hat 2018 ihre Zusagen für die bilaterale Zusammenarbeit verdoppelt. Trotz der vielen Morde und trotz der schleppenden Umsetzung des Friedensvertrages.“ Daher sollte viel genauer hingeschaut werden, ob die Zusagen auch erfüllt werden. „Die Regierung Duque stellt sich im Ausland als die großen Umsetzer des Friedensvertrages dar. In Kolumbien selbst sprechen die Fakten eine andere Sprache.“

Was kann der Triumph von Bernal bewirken?

Einerseits lastet nun auf seinen Schultern viel Druck – viele werden versuchen, sich in seinem Erfolg zu sonnen. Zumindest für einen Moment ist all die Zerrissenheit im Land vergessen, bis hin zu Präsident Duque erschallt ein lautes „Gracias, Egan“. Drei Kolumbianer unter den Top 10 der Tour. „Ihr seid ein nationaler Stolz“, so Duque. Wenn nun vom Staat gezielt mehr Mittel in die Nachwuchsförderung gesteckt werden, könnte es hier gerade unter Jugendlichen einen Rennradboom geben – und im Sport eine echte Alternative zum Abdriften in illegale Tätigkeiten gesehen werden.

So wie in Peru Starköche wie Gastón Acurio dazu geführt haben, dass überall Kochschulen entstehen und junge Peruaner von Dubai bis Moskau einer der weltbesten Küchen zu internationaler Expansion verhelfen. Und ein wichtiger, vielerorts zu spürender Effekt des Friedensprozesses, bei allen Problemen ist, dass Kolumbien sicherer geworden ist. Ein Indikator sind die enormen Zuwächse im Tourismus. Die Zahl der ausländischen Touristen kletterte 2018 nach Angaben des Handelsministeriums um rund 9 Prozent auf 4,27 Millionen. Und dank Egan Bernal dürfte auch für Radfahrer aus dem Ausland ein neuer Reiz entstehen, mal einen der „Hausberge“ des Tour-Siegers zu erklimmen.