Das Double-Cross System oder XX System war eine Täuschungsaktion des britischen Geheimdiensts (meist als MI5 bezeichnet) im Zweiten Weltkrieg. Deutsche Agenten, die in Großbritannien gefasst und umgedreht wurden oder sich selbst meldeten, wurden von den Briten benutzt, um falsche Informationen an ihre Nazi-Auftraggeber zu schicken. Die Operationen wurden vom Twenty Committee unter Vorsitz von John Cecil Masterman geleitet, wobei der Name des Komitees auf der römischen Schreibweise XX (d. h. doppeltes Kreuz) für die Zahl 20 abgeleitet wurde.
MI5 benutzte das System ursprünglich für die Spionageabwehr und erst später für Täuschungsmanöver. Einige deutsche Agenten der Abwehr und des Sicherheitsdiensts (SD) wurden verhaftet, als sie Großbritannien erreichten. Andere wurden aufgedackt, weil sie durch elementare Fehler auffielen, oder sich den britischen Behörden stellten. Außerdem gab es falsche Agenten, die den deutschen Geheimdiensten Agententätigkeit versprachen, wenn sie nach England gebracht würden, z. B. Nathalie Sergueiew (Treasure) und Roger Grosjean (Fido). Später verleitete MI5 Agenten dazu, ohne Wissen der deutschen Abwehr Agenten zu kontaktieren, die im Dienst der Briten standen. Nach dem Krieg wurde festgestellt, dass alle von Deutschland nach England geschickten Agenten entweder aufgegeben hatten oder verhaftet waren, mit Ausnahme eines Selbstmords.[1]
Frühe Agenten
BearbeitenNach einer Konferenz im Juli 1940 in Kiel startete Abwehr, der militärische Geheimdienst der Reichswehr und Wehrmacht, Aktionen gegen England mit dem Ziel der Spionage und Sabotage. Agenten wurden vom europäischen Festland über verschiedene Wege eingeschleust. Einige sprangen mit dem Fallschirm ab oder wurden mit U-Booten vor Ort gebracht; andere reisten mit gefälschten Ausweisen ein oder gaben sich als Flüchtlinge aus.[2] In England hielt sich das Gerücht, dass das Land voll von gut ausgebildeten deutschen Spionen sei, die tief in der Gesellschaft integriert wären. Die spy-mania, wie sie Winston Churchill nannte, war weit verbreitet, obwohl zwischen September und November 1940 weniger als 25 Agenten im Land ankamen. Sie kamen oft aus Osteuropa und waren schlecht ausgebildet und wenig motiviert.[2]
Die Agenten waren leicht zu enttarnen, und das Brechen der Verschlüsselung der deutschen Enigma machte es noch einfacher. Durch die Kenntnis der bevorstehenden Infiltration konnte MI5 fast alle Agenten aufdecken. Sie wurden eingesperrt, getötet oder als Doppelagenten verpflichtet.[2][3] Letztere Maßnahme hatte mehrere Vorteile: Man erfuhr, an welchen Informationen Abwehr interessiert war, konnte sie mit Ablenkungsmanövern durch falsche Informationen irreführen, und hielt sie vom Einschleusen weiterer Agenten ab, solange sie vom Funktionieren des operativen Netzwerks überzeugt war. Schon 1941 „betrieb“ das MI5 sozusagen das deutsche Agentensystem im Vereinigten Königreich.[2][4]
Operative Methoden
BearbeitenVorzugsweise kommunizierten die Agenten mit ihren Führern durch Steganographie. Briefe wurden durch die staatliche Zensur abgefangen und so einige Agenten festgenommen. Später setzten die Deutschen Funkgeräte ein. Schließlich wurden Übertragungen, die Doppelagenten sendeten, durch die Verlegung des Betriebs der Anlage in das MI5-Hauptquartier erleichtert. Schriftliche Anweisungen der Abwehr und des SD konnten bald dechiffriert werden, und die Entschlüsselung von Enigma-Nachrichten folgte schon 1940. Das Abhören erlaubte eine genaue Einschätzung, ob die deutsche Seite den Doppelagenten wirklich vertraute und was die Informationen bewirkten.
Ein entscheidender Aspekt des Double-Cross Systems war die Notwendigkeit, sowohl echte Informationen als auch Täuschungen zu verschicken. Anfänglich sträubte man sich gegen die Freigabe von Information, auch wenn es sich um wenige relativ unbedeutende Geheimnisse handelte. Später im Krieg, als das System besser organisiert war, wurden echte Informationen in das Material eingebettet. Es wurde benutzt, um das GEE-Funknavigationssystem für die allierten Bomber zu verschleiern.[5]:ch 25 Einer der Agenten sandte echte Informationen über die Operation Torch an die Abwehr. Der Bericht wurde vor der Landung abgestempelt, aber aufgrund von Verzögerungen, die von den britischen Behörden absichtlich herbeigeführt wurden, erreichte die Information die Deutschen erst, nachdem die alliierten Truppen in Nordafrika an Land gegangen waren. Diese Information beeindruckte die Deutschen, da sie anscheinend aus der Zeit vor dem Angriff stammte, obwohl sie militärisch nutzlos war.
Operationen außerhalb Großbritanniens
BearbeitenDas System wurde nicht nur in Großbritannien angewandt. Eine Anzahl von Agenten wurden im neutralen Spanien und in Portugal platziert. Einige hatten sogar direkten Kontakt mit den Deutschen im besetzten Europa. Einer der berühmtesten Agenten was Dušan Popov (Tricycle). Joan Pujol García (Garbo) überzeugte als unabhängiger Agent von Portugal aus auf der Basis von Reiseführern, Karten und einer sehr lebhaften Vorstellkraft seine Führer in der Abwehr davon, dass er vor Ort in Großbritannien spionierte. Er erfand ein Netzwerk von Phantom-Agenten und überzeugte schlueßlich die britischen Behörden von seiner Nützlichkeit. Er und sein fingiertes Netzwerk wurden in das Double-Cross System eingebunden, so überzeugend, dass die Abwehr nach 1942 keine weiteren Agenten mehr nach Großbritannien einschleuste und von den gefälschten Nachrichten Garbos und anderer Doppelagenten abhängig wurde.
Operation Fortitude und Landung der Alliierten am D-Day
BearbeitenDie Briten nutzten ihr Netzwerk von Doppelagenten. um die Operation Fortitude zu unterstützen, mit dem sie die Deutschen über den geplanten Ort der Landung der Allierten (D-Day) in der Normandie täuschten (Operation Overlord). Ein Doppelagenten hätte mit der Behauptung, Dokumente mit Beschreibungen der Invasionspläne gestohlen zu haben, hätte Verdacht erzeugt. Stattdessen meldeten die Agenten nur Kleinigkeiten wie Abzeichen an den Uniformen der Soldaten und Einheitsmarkierungen an Fahrzeugen. Die Beobachtungen in den südlich-zentralen Gebieten Englands lieferten weitgehend genaue Informationen über die dort befindlichen Einheiten. In Berichten aus Südwestengland wurden nur wenige Truppensichtungen angegeben, während in Wirklichkeit viele Einheiten dort untergebracht waren. In Berichten aus dem Südosten wurden tatsächliche und fiktive Kräfte dargestellt.
Jeder militärische Planer ging davon aus, dass für eine Invasion Europas von England aus die alliierten Streitkräfte im ganzen Land verteilt werden mussten, wobei die Einheiten, die zuerst landen sollten, am nächsten zum Invasionspunkt platziert werden mussten. Der deutsche Nachrichtendienst erstellte aus den Agentenberichten eine Schlachtordnung für die alliierten Streitkräfte, die den Schwerpunkt der Invasion gegenüber Pas de Calais, dem Punkt an der französischen Küste, der England am nächsten lag, annahm. Die Täuschung war so effektiv, dass die Deutschen 15 Divisionen in der Nähe von Calais in Reserve hielten, auch nachdem die Invasion in der Normandie begonnen hatte, weil sie diese als Ablenkung von der Hauptinvasion in Calais vermuteten. Frühe Gefechtsberichte über Abzeichen der alliierten Einheiten bestätigten die Informationen, die die Doppelagenten übermittelt hatten, und stärkten das Vertrauen der Deutschen in ihr Netzwerk. Nach der Invasion wurde Agent Garbo in Funksprüchen aus Deutschland darüber informiert, dass er mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet worden war.
Täuschung beim Einsatz der V-1 und V-2
BearbeitenDie Briten bemerkten während der V-1-Flugbombenangriffe im Sommer 1944, dass die Waffen 3–5 km vor dem Trafalgar Square einschlugen, während den Briten die tatsächlichen Ziele der Luftwaffe wie die Tower Bridge unbekannt waren.[6][7] Duncan Sandys, Mitglied der Regierung im War Office, wurde angewiesen, von MI5 kontrollierte deutsche Agenten wie Eddie Chapman (Zig Zag) und Wulf Schmidt (Tate) dazu zu bringen, die V-1-Einschläge an Deutschland zurückzumelden.[6] Um die Deutschen dazu zu bringen, zu kurz zu zielen, nutzten die Briten diese Doppelagenten, die Anzahl der in Nord- und West-London fallenden V-1 zu übertreiben und diejenigen im Süden und Osten zu untertreiben.[1][5]:ch 44 Um den 22. Juni 1944 wurde nur einer von sieben Einschlägen südlich der Themse gemeldet, obwohl 75 % der V-1 dort eingeschlagen waren. Obwohl eine Stichprobe mit Radio-Transmittern der Einschläge der V-1 zeigte, dass sie zu kurz geflogen waren, wurden die Telemetriedaten zugunsten der Berichte der Agenten ignoriert.[7]
Als die Deutschen einen falschen Bericht über beträchtliche Schäden in Southampton – das jedoch kein Ziel war – erhielten, wurden die V-1 vorübergehend auf die Häfen der Südküste gerichtet. Die Täuschung durch das Double-Cross System führte nicht nur zu ungenauem Zielen, sondern löste auch eine „Umstellung“ der Zielvorgabe aus. Als V-1, die am 7. Juli 1944 von Heinkel He 111 abgefeuert wurden, ungenau in Southampton einschlugen, empfahl der britische Berater Frederick Lindemann, dass die Agenten schwere Verluste melden sollten, um Hunderte von Londonern pro Woche zu retten, jedoch auf Kosten nur weniger Leben in den englischen Häfen. Als das Kabinett am 15. August 1944 von der Täuschung erfuhr, lehnte Innenminister Herbert Stanley Morrison sie ab und erklärte, dass sie nicht das Recht hätten, zu entscheiden, dass jemand sterben sollte, damit andere überleben sollten.[7] Reginald Victor Jones weigerte sich jedoch, den Plan ohne schriftliche Anweisungen abzubrechen. Da sie ausblieben, ließ er die Täuschung fortsetzen.[5]:p. 422
Als die Angriffe mit V-2-Raketen begannen, bei dem nur wenige Minuten zwischen Abschuss und Einschlag lagen, wurde die Täuschung verstärkt. Die durch die Bombardierung beschädigten Orte, die durch Luftaufklärung als Einschläge im Zentrum Londons verifiziert werden konnten, wurden jeweils einem früheren Angriff zugeordnet, der 8–10 km vor dem Zentrum Londons eingeschlagen war.[6] Von Mitte Januar bis Mitte Februar 1945 verlagerte sich der mittlere Punkt der V-2-Einschläge mit einer Rate von einigen Kilometern pro Woche nach Osten, wobei immer mehr V-2 kurz vor dem Zentrum Londons einschlugen.[1] Von den auf London gerichteten V-2 landete mehr als die Hälfte außerhalb der Londoner Zivilschutzregion.[5]:p. 459
Literatur
Bearbeiten- Terry Crowdy: Deceiving Hitler: Double-Cross and Deception in World War II. Osprey Publishing, 2011, ISBN 978-1-84603-135-9 (englisch).
- David Irving: Die Geheimwaffen des Dritten Reiches. Sigberth Mohn, Gütersloh 1965 (englisch: The Mare's Nest. 1964. Übersetzt von Jutta Knust, Theodor Knust).
- Ben Macintyre: Double Cross: The True Story of The D-Day Spies. Bloomsbury Publishing, 2012, ISBN 978-1-4088-1990-6 (englisch).
- John C. Masterman: The Double-Cross System in the War of 1939 to 1945. Australian National University Press, 1972, ISBN 978-0-7081-0459-0 (englisch).
- Frederick I. Ordway, Mitchell R. Sharpe: The Rocket Team. Thomas Y. Crowell, New York 1979 (englisch).
- R. V. Jones: Most Secret War. Hamish Hamilton, 1978, ISBN 0-241-89746-7 (englisch).
- Carolinda Witt: Double Agent Celery: MI5's Crooked Hero. Pen and Sword Books, 2017, ISBN 978-1-5267-1614-9 (englisch).
- Daniel Silva: Double Cross – Falsches Spiel. Piper, München 1967, ISBN 3-492-03868-9.
Siehe auch
BearbeitenEinzelnachweise
Bearbeiten- ↑ a b c John Cecil Masterman: The Double-Cross System in the War of 1939 to 1945.
- ↑ a b c d Ben MacIntyre: Double Cross: The True Story of The D-Day Spies.
- ↑ Referenzfehler: Ungültiges
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-Tag; kein Text angegeben für Einzelnachweis mit dem Namen Macintyre4. - ↑ Terry Crowdy: Deceiving Hitler: Double-Cross and Deception in World War II.
- ↑ a b c d Reginald Victor Jones: Most Secret War 1978.
- ↑ a b c Referenzfehler: Ungültiges
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-Tag; kein Text angegeben für Einzelnachweis mit dem Namen Ordway. - ↑ a b c Referenzfehler: Ungültiges
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-Tag; kein Text angegeben für Einzelnachweis mit dem Namen Irving.