Joseph Leopold Stiger (Vorname auch Josef, getauft Josef Franz Leopold; * 15. Februar 1816 in Graz; † 20. Jänner 1880 in Zürich) war ein österreichischer Jurist und Publizist. Er beteiligte sich an vorderter Front an der Revolution von 1848/1849 und musste mach dem Scheitern des Wiener Oktoberaufstandes ins Ausland flüchten.

Biographie

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Familiärer Hintergrund und Ausbildung

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Joseph Leopold Stiger wurde in Graz als drittes von sechs Kindern des Augenarztes Johann Evangelist Stiger (1776 – 1846) und seiner Gattin Klara (geb. Prett) geboren. Die Familie besaß mehrere repräsentative Immobilien in Graz, der hoch angesehene Vater wurde unter anderem 1817 zum städtischen Augenarzt und 1837/38 zum Rektor der Universität Graz ernannt.[1] Der Sohn Joseph Leopold meldete sich nach seinem Rechtsstudium in Graz 1839 als Auditoriatspraktikant, der erste Schritt einer Laufbahn in der Militärjustiz. Anscheinend aufgrund eines Zerwürfnisses mit der Familie suchte Stiger um Stationierung in den weit entfernten Garnisonen Brünn oder Lemberg an. In den folgenden Jahren lies er sich nach Wien und nach dem Tod des Vaters 1846 nach Graz versetzen, die überfällige Prüfung zum Militärrichter legte er aber an keiner der Stationen ab. Nach dem Tod des Vaters kam es zu einem langwierigen Erbstreit mit seinen Geschwistern und Schwägern, in dem Stiger auch gegenüber den zuständigen Behörden und Gerichten als sehr streitbar und prinzipientreu auftrat. Während eines Kuraufenthaltes in Jeseník (damals deutsch Bad Gräfenberg) erreichten ihn 1848 die Berichte über Märzrevolution, woraufhin er am Folgetag über Wien zurück nach Graz reisete.[2]

Wirken in der Revolutionszeit

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Plakat mit Informationen zur Reichstagswahl und Kandidatenliste,

In Graz gründete Stiger den Grazer Demokratischen Verein, als dessen Aufgabe er rückblickend[3] die „allgemeine Aufklärung über das Wesen einer konstitutionellen Staatsform“ sah. In den Statuten des Vereines war festgelegt, dass die Mitglieder sich „von allen Straßendemonstrationen und Katzenmusiken, welche damals an der Tagesordnung waren“ fernhalten sollten, doch ist die Teilname Stigers an versuchten Gewaltakten gegen den Gubernator Matthias Constantin Capello von Wickenburg aktenkundig. Unter dem Pseudonym Der kropfige[4] steirische Jokel verfasste er Plakate und Flugblätter, die die politischen Entwicklungen kommentierten und seine steirischen Landsleute für die Anliegen der Revolutionäre begeistern sollten, manchmal aber auch an die Wiener Bevölkerung gerichtet waren. Sein engagiertes, durch großen Einsatz privater Finanzmittel gestütztes Auftreten brachte Stiger in Kontakt mit Vinzenz Benedikt von Emperger und anderen führenden Köpfen der Revolution in Graz sodass das Komittee zur Überwachung der Wahlen ihn in die steirische Kandidatenliste für die Wahl des Reichstages im Juni 1848 aufnahm. Er wurde jedoch nicht in den Reichstag gewählt.[5]

 
In Wien verteiltes Flugblatt der steirischen Revolutionäre

Joseph Leopold Stiger gilt als einer der Initiatoren jenes 400 bis 500 Köpfe starken Hilfskorps, das sich am 10. Oktober 1848 auf den Weg nach Wien machte, um die dortigen Revolutionäre anlässlich des Oktoberaufstandes zu unterstützen. Kaiser Ferdinand I. war am 7. Oktober geflohen, die Stadt befand sich in Händen der Aufständischen, ein Rückeroberungsversuch durch die kaiserlichen Truppen war zu erwarten. Stiger wirkte erneut als Verfasser von Flugblättern sowie als Verbindungsmann zwischen dem Wiener Demokratischen Zentralverein und der Grazer Deputation. So kam er in Kontakt mit Robert Blum und anderen führenden Protagonisten des Aufstands und stimmte bei Sitzungen des Zentralausschusses der Aufständischen mit. Ab dem 26. Oktober wurde Wien durch die kaiserliche Armee beschossen und am 31. Oktober mit der Inneren Stadt schließlich der letzte Bezirk zurückerobert. Als eine Patrouille in Stigers Unterkunft (einem Gasthaus am Hohen Markt) nach diesem suchte, fand sie nur noch sein Gepäck und einen Packen belastender Schriften vor. Für die folgende Anklage bedeutsam war unter anderem eine Eidesformel des Schützenkorps. Sie beginnt mit den Worten: „Ich schwöre vor Gott und meiner Ehre, als freier, gleichberechtigter Staatsbürger die Rechte des Volkes und des konstitutionellen Thrones zu wahren...“ Stiger war jedoch die Flucht aus Wien gelungen.[6]

Anfang Dezembember 1848 war der flüchtige, steckbrieflich gesuchte Stiger offenbar im Judenburger Kreis gesehen worden, dann taucht er erst in der Schweiz wieder auf. Von dort aus versuchte er erfolglos, über einen Grazer Anwalt das gegen ihn laufende Verfahren zu beeinflussen und die Konfiszierung seines Vermögens rückgängig zu machen. Laut Anklageschrift gehöre Stiger „durch seine Aufrufe und durch sein Wirken als Demokrat unter die Zahl der Aufwiegler, wenn auch unter die minder gefährlichen, weil ihm jene Persönlichkeit abging, durch die allein sich ein solcher Verbrecher zu höherer Wirksamkeit emporschwingen kann…“ Stiger wurde von der Justiz also nicht zu jener ersten Riege der Aufständischen gezählt, die für ihre Überzeugung mit dem Tod bezahlen sollten, das Gericht verurteilte ihn in Abwesenheit zu zehn Jahren Kerkerhaft. Aus dem Militärjustizdienst war er bereits im November 1848 entlassen worden. Nach mehrmonatigen Aufenthalten in der Schweiz, Deutschland und Spanien wanderte Stiger im April 1851 von Frankreich in die Vereinigten Staaten aus.[7]

Amerikanische Träume

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In den Vereinigten Staaten wurde Stiger nach mehreren Ortswechseln in Buffalo sesshaft. Er betrieb dort eine Arztpraxis, offenbar hatte er die bei seinem Vater erlernten Medizinkenntnisse im Selbststudium erweitert. Auch hier blieb Stiger seiner „radikal-demokratischen“ Einstellung treu und beteiligte sich am öffentlichen Diskurs. Schon 1852 hatte er in Cleveland ein deutschsprachiges Monatsmagazin namens Der Kommunist herauszugeben und eine Art Leseverein gegründet, der seinen Mitgliedern Zugang zu vorrangig politischen Schriften ermöglichte. Der deutschamerikanische Historiker Carl Frederick Wittke (1892 – 1971) kategorisiert Stiger in seiber Publikation über die „Forty-eighters in America“ als einen „exponent of Utopia“[8] (vgl. Frühsozialismus). Stiger korrespondierte in dieser Zeit mit Hans Kudlich und Carl Schurz, aber auch mit dem General und späteren Präsidenten Ulysses S. Grant. In einem Brief an einen Grazer Freund aus dem Jahr 1853 bedauert er, dass sein Kampfgenosse Vinzenz von Emperger immer noch inhaftiert sei und bietet finanzielle Unterstützung für dessen Befreiung an. Mit Ausbruch des Amerikanischen Bürgerkrieges verfasste er als entschiedener Gegner der Sklaverei mehrere deutschsprachige Broschüren, die Lesern in Europa die Anliegen der Nordstaaten verständlich machen sollten. Die Broschüre Nieder mit der Sklaverei! widmete er Harriet Beecher Stowe, mit dem Erlös seiner Schriftenunterstützte er üblicherweise karitative Organisationen.[9][10]

Während seiner Zeit im Ausland hielt Stiger im Geist der Revolution von 1848 stets sein deutsches Nationalbewusstsein (im Sinne des Deutschen Reiches 1848/1849) aufrecht. Wem es in der Heimat gut gehe, der solle nicht auswandern. Anderen jedoch eröffne Amerika große Möglichkeiten. „Ein energischer, für die Hebung der deutschen Nation begeisterter Patriot [könne] dort mehr Gutes leisten, als in Deutschland.“ Seiner Überzeugung nach seien die deutschen Auswanderer jedoch berufen, einen entscheidenden Beitrag zur Entwicklung der jungen Nation zu leisten.[11] In einer Broschüre mit Ratschlägen für Auswanderer, aus der auch das vorherige Zitat stammt, schreibt er:

„Hat die frühere deutsche Einwanderung durch ihre materielle Arbeit den Grund zu dem großen Weltreiche gelegt, so hat die jetzige deutsche Einwanderung die geistige Arbeit zu verrichten, durch Einführung guter Gesetze, humaner Sitten und Gebräuche dem Werke die Krone aufzusetzen, und das Mutterland wird früher oder später seine Söhne dafür segnen, wenn sie die schöne Columbia, von dem Schmutzflecken der Sklaverei, der Herrschsucht und Geldgier gereinigt, der alten Frau Germania als ihreSchwiegertochter zuführen.“

Joseph Leopold Stiger: Ist die Auswanderung nach den Vereinigten Staaten Nordamerikas unter den jetzigen Verhältnissen anzurathen? Selbstverlag, Zürich 1864, S.11

Zurück in Europa

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1861 kehrte Stiger in die Schweiz zurück, wo er 1863 den ersten Band seiner Autobiographie veröffentlichte. Die beiden anderen Teile des dreibändig angelegten Werkes erschienen nie. Wohl um die österreichischen Behörden, von denen er sich eine Begnadigung erhoffte, nicht zu verärgern, ist das Werk politisch gemäßigt. Erst nach mehreren Gnadengesuchen, die auch Fürsprecher im Landtag gefunden hatten, wurde Stiger 1865 die Rückkehr nach Graz ermöglicht. Er bezog eine Wohnung in der Sporgasse (im Areal der Stiegenkirche). Stiger war weiterhin ein kritischer Kommentator des politischen und gesellschaftlichen Geschehens, jedoch nicht mehr in einer Art, die den Behörden einen Anlass zum Einschreiten gegeben hätte. Er verfasste Artikel für die Tagespost und war einer der Meinungsführer im Grazer Deutschkatholischen Verein. Neben Unterstützung für diese freireligiöse Bewegung trat er unter anderem mit Forderungen zur Abschaffund der Todesstrafe und für ein liberales Schulgesetz öffentlich in Erscheinung. Zudem gründete er einen „Auswanderungsverein,“ der (wie die Behörden beruhigt feststellten) nicht zum Auswandern aufforderte, sondern Auswanderungswillige vor Betrügereien warnte. Als 1868 zum wiederholten mal die Errichtung einer Pferdebahn in Graz diskutiert wurde (siehe Straßenbahn Graz), berichtete er in einer einschlägigen Publikation lobend über die Vorzüge des öffentlichen Verkehrs, wie er sie in den Vereinigten Staaten kennengelernt hatte. Im Oktober 1872 bat die Wiener Polizeidirektion in Graz um Informationen über einen verdächtig erscheinenden Mann namens Stiger, der in Wien die Absicht geäußert habe, in die Schweiz oder die Vereinigten Staaten auszuwandern. Offenbar stand er weiterhin unter behördlicher Beobachtung. Die Antwort aus Graz war beschwichtigend: Stiger habe ein anständiges Vermögen, lebe zurückgezogen und verbringe den Sommer zumeist in den Bergen. Trotz seiner „von jeher etwas überspannten Ansichten“ werde er von niemandem für gefährlich gehalten.[12]

Seine letzten Lebensjahre verbrachte Stiger in der Schweiz, wo er in gewohnter Weise weiterpublizierte.

Erwähnenswert ist sein Engagement für die Rechte von Frauen, der in mehreren Schriften zutage kommt und in einer 1877

Stiger verstarb kinderlos sein explizit geäußerter Wunsch, in Graz eine Ehefrau zu finden, war unerfüllt geblieben.

Veröffentlichungen

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Commons: Schreckgespenst/Werkstatt5 – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Literatur

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Einzelnachweise

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  1. Daniela Angetter: Stiger, Johann Ev. (1776–1846), Mediziner. In: Österreichisches Biographisches Lexikon 1815–1950 (ÖBL). Band 13, Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wien 2010, ISBN 978-3-7001-6963-5, S. 261.
  2. Oskar Meister: Leopold Stiger, ein Grazer Achtundvierziger und Philanthrop. In: Historischer Verein für Steiermark (Hrsg.): Zeitschrift des Historischen Vereines für Steiermark. Band 27. Graz 1933, S. 152–154.
  3. So in seinem Buch Zehn Jahre in Amerika, zitiert bei Oskar Meister, Leopold Stiger, ein Grazer Achtundvierziger und Philanthrop
  4. Vgl. Artikel Die kropferten Steirer im Austria-Forum
  5. Oskar Meister: Leopold Stiger, ein Grazer Achtundvierziger und Philanthrop. In: Historischer Verein für Steiermark (Hrsg.): Zeitschrift des Historischen Vereines für Steiermark. Band 27. Graz 1933, S. 154–156.
  6. Oskar Meister: Leopold Stiger, ein Grazer Achtundvierziger und Philanthrop. In: Historischer Verein für Steiermark (Hrsg.): Zeitschrift des Historischen Vereines für Steiermark. Band 27. Graz 1933, S. 156–158.
  7. Oskar Meister: Leopold Stiger, ein Grazer Achtundvierziger und Philanthrop. In: Historischer Verein für Steiermark (Hrsg.): Zeitschrift des Historischen Vereines für Steiermark. Band 27. Graz 1933, S. 158–160. Nach mehrmonatigen Aufenthalten in der Schweiz, Deutschland, Frankreich und Spanien wanderte Stiger im April 1851 in die Vereinigten Staaten aus.
  8. Carl Frederick Wittke: Refugees of Revolution: The German Forty-eighters in America. University of Pennsylvania Press, Philadelphia 1952, S. 171.
  9. Oskar Meister: Leopold Stiger, ein Grazer Achtundvierziger und Philanthrop. In: Historischer Verein für Steiermark (Hrsg.): Zeitschrift des Historischen Vereines für Steiermark. Band 27. Graz 1933, S. 161 f.
  10. Günter Cerwinka: Zwei steirische "Forty-eighters." Zur Erinnerung an Titus Mareck und Joseph Leopold Stiger. In: Historischer Verein für Steiermark (Hrsg.): Blätter für Heimatkunde. Band 72. Graz 1998, S. 92 f.
  11. Günter Cerwinka: Zwei steirische "Forty-eighters." Zur Erinnerung an Titus Mareck und Joseph Leopold Stiger. In: Historischer Verein für Steiermark (Hrsg.): Blätter für Heimatkunde. Band 72. Graz 1998, S. 94.
  12. Oskar Meister: Leopold Stiger, ein Grazer Achtundvierziger und Philanthrop. In: Historischer Verein für Steiermark (Hrsg.): Zeitschrift des Historischen Vereines für Steiermark. Band 27. Graz 1933, S. 163 f.


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