Sprache lebt
Sprache lebt und Sprache wandelt sich, nicht nur allmählich im Laufe der Jahrhunderte, sondern fast ständig. Manche Redewendungen und Begriffe, die lange Zeit kaum jemand gebrauchte, sind plötzlich in aller Munde. Oft sind es Modeerscheinungen wie das vor Jahren vermeintlich schicke und gebräuchliche „apropos“, um einen weniger wichtigen Gesprächsbeitrag einzuleiten. Inzwischen ist „apropos“ nicht mehr oder nur selten zu hören.
Vorübergehend gab es kaum einen Text ohne das gehoben klingende „geschuldet“. Ein Verlust zum Beispiel war nicht etwa „die Folge von Risikobereitschaft“, sondern „der Risikobereitschaft geschuldet“, und sogar Positives wie ein Erfolg war nicht „dem Fleiß zuzuschreiben“ oder „zu verdanken“, sondern „dem Fleiß geschuldet“. Mittlerweile ist es um „geschuldet“ ruhig geworden, zumindest gehört es nicht mehr zu den Top Ten, um es mit einem modischen Anglizismus zu sagen.
Immer noch aktueller Hit ist der „Fokus“; er scheint nach wie vor auf Platz eins zu liegen. Nichts steht mehr im „Brennpunkt“, „Mittelpunkt“ oder „Blickfeld“, ist „Schwerpunkt“ oder „erfährt besondere Aufmerksamkeit“ usw. – nein, „es ist im Fokus“. In einer bekannten Wochenzeitung hieß es kürzlich: „Lage des Waldes stand im Fokus“. Zur gleichen Zeit war in der Zeitung zu lesen, dass einige Persönlichkeiten „nicht ganz so sehr im Fokus der Öffentlichkeit“ stehen; paar Seiten weiter rückte „Torwart Timo Horn in den Fokus“ und auf einer der letzten Seiten stand im Berner Oberland „der Berg im Fokus“. Wenn wir uns zeitgemäß ausdrücken wollen, arbeiten wir nicht mehr auf ein Ziel hin, sondern „fokussieren uns“ darauf. Möglicherweise läuft der „Kontext“ aber dem „Fokus“ schnell den Rang ab, er erscheint in fast jedem Zusammenhang, wo dann passend „konzipiert“ statt geplant und entworfen wird, damit ständig neue „Konzepte“ entstehen. Und die Konzepte werden nicht etwas verwirklicht, sie werden umgesetzt, wie überhaupt kaum noch etwas erledigt, ausgeführt oder verwirklicht wird, zum Beispiel ein Plan, ein Vorhaben, ein Entwurf oder die Zeichnungen in einem Comic, die „mit flottem Strich umgesetzt“ worden waren, wie es in einer Beschreibung hieß.
Manche Neuigkeiten, die uns Presse, Funk und Fernsehen vermitteln, die also anspruchsvoll ausgedrückt „mediale Rezeption֧“ gefunden haben, gehen heutzutage „viral“ beziehungsweise verbreiten sich in Windeseile oder sehr schnell, wie wir bis vor Kurzem wahrscheinlich noch gesagt hätten. Ein weiterer aufgehender Stern am Sprachhimmel scheint das „Narrativ“ zu sein, statt „Erzählung“, „Schilderung“, „Darstellung“ ober „Vorstellung“. Man erzählt nicht mehr beispielhaft die Geschichte vom bösen Wolf, sondern bemüht das Narrativ des bösen Wolfs. Auch das Verb „narratieren“ wird schon häufiger gebraucht als vielleicht gedacht; mithilfe von Google findet sich zum Beispiel der Frankfurter Stadtführer, der die Sehenswürdigkeiten der Stadt narratiert.
Ein keineswegs neues Wort, das zunehmend an Bedeutung zu gewinnen scheint, ist der „Zeitraum“. Es heißt nicht mehr „Mittagspause von 12 bis 13 Uhr“, sondern korrekt und präzise „Mittagspause im Zeitraum von 12 bis 13 Uhr“. Das Gegenstück ist der „Zeitpunkt“, genau genommen ein Augenblick, aber im derzeitigen Sprachgebrauch erstreckt er sich mitunter über hundert Jahre.
Ist außerdem schon aufgefallen, dass kaum noch etwas anfängt oder beginnt, sondern fast nur noch gestartet wird? Die Mittagspause beginnt nicht etwa um 12 Uhr, sondern sie „startet“. So hieß es in der Zeitung auch: „Mit Blick auf den Start der neuen Legislaturperiode …“
Ungebrochen beliebt ist das Demonstrativpronomen „dieser“ und ebenso das kurze „dies“. Kaum jemand gebraucht noch ein Personalpronomen. Modisch korrekt heißt es zum Beispiel: „Der Knabe war derart betrunken, dass dieser schwankte“ und nicht etwa „dass er schwankte.“ Und wer sagt noch „Das war gut so“? Heute heißt es „Dies war gut so“, was allerdings besser ist als das seinerzeit vornehme, aber sprachlich falsche „Dem war gut so.“
Der eine oder andere erinnert sich wahrscheinlich an die Buchreihe „Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod“, eine anscheinend voreilig geäußerte Sorge. Der zweite Fall oder Genitiv ist nämlich nicht totzukriegen und zurzeit lebendiger denn je. Oder öffnet noch jemand eine Flasche „mit“ einem Korkenzieher? Das geschieht selbstverständlich „mittels eines Korkenziehers“, wie man auch „mittels eines Füllfederhalters schreibt“, „mittels Messer und Gabel isst“ oder – jetzt wieder aus einem Zeitungsartikel – „mittels Drahtnetzen weitere Abstürze des Geländes verhindert werden“ sollen.
Ebenso gut lässt sich ein Genitiv mit (oder mittels) „aufgrund“ einleiten. Jemand fällt nicht durch seine Freundlichkeit auf, sondern „aufgrund seiner Freundlichkeit“, und niemand leidet an einer Krankheit, sondern „aufgrund …“ Dieses „aufgrund“ lässt sich durch „Tatsache“ oder „Umstand“ verstärken. Also nicht schreiben: „Weil ich mich verspätet hatte, …“, sondern „aufgrund der Tatsache, dass ich mich verspätet hatte …“
Oft zu lesen sind Wendungen mit „handelt es sich um“ und „stellt dar“. Es heißt nicht einfach „Erika ist Werners Frau und Jessica ist die Tochter der beiden“, sondern „bei Erika handelt es sich um Werners Frau und Jessica stellt die Tochter der beiden dar“.
Eine nur kurze Karriere dürfte den Modewörtern „mittig“, „zeitnah“ und „zeitgleich“ beschieden sein. Bald wird ein Tisch wieder „mitten“ und nicht „mittig“ im Raum stehen. Demnächst beantworten wir wahrscheinlich wie früher einen Brief statt „zeitnah“ wieder „schnell“, „kurzfristig“ oder „bald“ und Adolph Kolping lebte nicht „zeitgleich mit“, sondern „zur gleichen Zeit wie“ der Mainzer Bischof und Gründer der Katholischen Arbeitnehmerbewegung Wilhelm Emmanuel Freiherr von Ketteler.
Ein Dauerbrenner ist „zuvor“. Schon Goethe ließ Faust vor über 200 Jahren sagen: „Da steh’ ich nun, ich armer Thor! Und bin so klug als wie zuvor.“ Vielleicht ist das der Grund, weshalb „vorher“, „damals“, „einst“, „bisher“ usw. auszusterben drohen. „Zuvor“ klingt zugegebenermaßen ungleich geschmeidiger als die genannten Synonyme und wird deshalb oft eingefügt, auch wenn es überflüssig ist. Dem Reporter der Zeitung genügte es nicht zu schreiben, dass einer Tigerin ein Goldzahn eingesetzt wurde, nachdem sie sich das Beißwerkzeug kaputt geknabbert hatte, nein, sie hatte es sich „zuvor“ kaputt geknabbert.
Seit Kurzem fällt mir auf, dass Künstlerinnen und Künstler kaum noch auftreten und immer häufiger „performen“, Sängerinnen singen zum Beispiel nicht mehr, wie jetzt bei der Eröffnung der Olympischen Spiele, über die es in einer Meldung des ZDF unter anderem hieß: „Die kanadische Sängerin performte ‚L'Hymne à l’amour‘ der Chansons-Ikone Édith Piaf und brachte das Publikum damit zum Jubeln.“ Falls jemand die Fernsehübertragung nicht gesehen hat: Die kanadische Sängerin war Céline Dion. Sie stand etwa 50 Meter hoch auf dem Eiffelturm und dürfte bei ihrer Performance (früher hätte man „bei ihrem Auftritt“ gesagt) für die viel Eintritt zahlenden Gäste am Boden nur schwer zu erkennen gewesen sein.
Zuweilen ist es mit der Sprache wie mit der Kleidermode. Manches, das längst in der Mottenkiste verschwunden schien, ist plötzlich wieder da. Inzwischen fällt mir auf, dass es wieder „sprich“ heißt, wo wir allgemein noch „das heißt“ schreiben. Also: „Die Titelrolle, sprich Carmen, sang …“
Achten Sie künftig auch einmal darauf (oder fokussieren Sie sich darauf), ob Ihnen Wörter auffallen, die früher (oder zuvor) nur selten zu hören oder zu lesen waren, derzeit aber umso häufiger anzutreffen sind. Denn Sprache lebt und nichts ist endgültig oder „final“, wie es fast nur noch heißt, selbst wenn der eine oder andere versucht sein mag, eine Erklärung – Entschuldigung: ein Statement – dazu abzugeben.
Lothar Spurzem