Till Pfeifer
Homosexualität in der Sowjetunion
BearbeitenHomosexualität in der Sowjetunion beschreibt die komplexe, zuweilen sehr schwierige Situation von Lesben und Schwulen in dem bis 1991 bestehenden Staat, der UdSSR. Homosexualität war, nach einer kurzen, libertären Phase, in der die Bolschewiki unmittelbar nach der Oktoberrevolution und unter Führung Lenins Homosexualität entkriminalisierten (als erstes Land der Welt!), war diese ab 1934 durch §121 des sowjetischen Strafgesetzbuches verboten und wurde strafrechtlich verfolgt. Dieses Verbot wurde durch Josef Stalin ausgesprochen. Demnach war "мужеложство" (muscheloschstvo, etwa: "Männer liegen mit Männern" oder "Sodomie") mit fünf Jahren Gefängnis zu bestrafen. Dieses Gesetz wurde in erster Linie dazu gebraucht, politische Gegner zu verfolgen und einzusperren.
Später, nach Stalins Ableben im Jahr 1953, wurde dieses Gesetz nicht mehr dazu gebraucht, politische Gegner zu verfolgen, als "homosexuell" zu denunzieren und physisch zu vernichten, aber dennoch, um die Opposition klein zu halten und zu kontrollieren. Das Thema Homosexualität wurde außerdem gesellschaftlich totgeschwiegen und tabuisiert. Es gab keinerlei Aufklärung, es kam zu keiner stückweisen Normalisierung o.ä. (siehe: sexuelle Revolution) wie in vielen westlichen Staaten. Bis zum Ende der Sowjetunion wurden schätzungsweise 60.000 - 250.000 Männer aufgrund von §121 verurteilt.
Erst nach dem Ende der Sowjetunion wurde Homosexualität Schritt für Schritt in den meisten ehemaligen Mitgliedsstaaten entkriminalisiert.
Vorgeschichte: Homosexualität im Zarenreich
Bearbeitensiehe auch: Sodomitenverfolgung
Homosexualität war auf dem Gebiet des heutigen Russlands seit frühester Zeit dokumentiert. Das mittelalterliche Russland (ab 1240 russische Fürstentümer; nach der Zarenkrönung Iwans IV., genannt "der Schreckliche" das Zarentum Russland (ab 1547); siehe Geschichte Russlands) zeigte sich sogar offenbar recht tolerant gegenüber Homosexuellen; der österreichische Gesandte am russischen Hof Sigmund von Herberstein (1486 - 1566) beschrieb in seinem berühmten Reisebericht Rerum Moscoviticarum commentarii seine Beobachtungen bei Reisen nach Moskau 1517 und 1526. Er stellte fest, dass Homosexualität in allen sozialen Schichten vorkam. Der englische Dichter George Turberville besuchte Moskau im Jahr 1568 während der blutigen Regentschaft Iwans des Schrecklichen. Er zeigte sich nicht schockiert über das Gemetzel, sondern vielmehr über die offene Homosexualität der russischen Bauern. Auch der deutsche Gelehrte Adam Olearius (1599 - 1671) berichtete, dass Homosexualität zwischen Männern über alle gesellschaftlichen Stände hinweg vorkam und nicht als Verbrechen behandelt wurde. Zar Iwan der Schreckliche selbst wurde von seinen Gegnern beschuldigt, homosexuell zu sein, um ihn politisch zu diskreditieren.
Der erste Versuch zur Kriminalisierung von Homosexualität passierte unter Zar Peter I., genannt "der Große" im Zuge der Modernisierung des russischen Kaiserreichs und der Annährung an Europa. 1716 wurde Homosexualität in den Streitkräften verboten.
Einführung der Strafbarkeit 1832
BearbeitenIm Jahre 1832, unter Zar Nikolaus I. , wurde der §995 im russischen Strafgesetzbuch hinzugefügt. Er verbot erstmals die "Sodomie", welche von Gerichten als "Analverkehr zwischen Männern" definiert wurde. Hier tauchte erstmals der Begriff "muscheloschstvo" auf (Männer liegen mit Männern), was laut Gesetz mit fünf Jahren Verbannung nach Sibirien geahndet wurde. Die Anwendung des Gesetzes war jedoch nicht so streng, und um die Jahrhundertwende (19./20. Jahrhundert) begann sich die Lage sogar zu entspannen, die gesellschaftliche Toleranz wuchs und Homosexuelle wurden sichtbarer (insb. in den Großstädten).
Um die Jahrhundertwende (19./20. Jhd.)
BearbeitenDurch die Industrialisierung und Verstädterung kam es zu einer "Auflockerung" bzw. "Entspannung" der Sitten in den Städten Moskau und St. Petersburg, wo sich bald regelrechte homosexuelle Communitys bildeten, die eigenen Regeln folgten sowie eigene Räume frequentierten. Es gab mit großer Wahrscheinlichkeit lesbische Prostitution und auch lesbische Liebesaffären, allerdings ist über lesbische und bisexuelle Menschen in jener Epoche nicht so viel bekannt wie über homosexuelle Männer. Die Homosexualität des Großfürsten und Generalgouverneurs von Moskau Sergej Alexandrowitsch Romanow (1857 - 1905) war in ganz Moskau bekannt[1]. Homosexualität wurde gegen Ende des Zarenreiches nur sehr selten geahndet, es gab keine systematische Verfolgung.
Ab der Oktoberrevolution 1917 - 1934
Bearbeiten→ Hauptartikel: Oktoberrevolution
Mit der Machtübernahme der Bolschewiki (25. Oktoberjul. bzw. 7. Novembergreg. 1917 und der darauffolgenden Errichtung des Kommunismus in Russland bzw. einer Diktatur der KPR(B) änderten sich die gesellschaftlichen Verhältnisse radikal. Um ihren Bruch mit der althergebrachten Ordnung zu zeigen bzw. um das Ideal der (umfassenden) Emanzipation des Menschen zu verwirklichen, legalisierten die Bolschewiki, mit der Einführung ihres neuen Strafgesetzbuches im Jahr 1922 Homosexualität sensationell als erstes Land der Welt. Im neuen Strafgesetzbuch war der alte Paragraph 995 nicht mehr enthalten. Dies war ein radikaler Schritt, da Homosexualität in den meisten westlichen Ländern (siehe Frankreich, Deutschland, Großbritannien) erst Jahrzehnte später legalisiert wurde. Die Bolschewiki waren somit den westlichen Ländern um ein halbes Jahrhundert voraus. Zudem setzen Revolutionäre wie Alexandra Kollontai, die als die erste Frau als Ministerin der jüngeren Geschichte gilt, in ihrem Amt als "Volkskommissarin für soziale Fürsorge" weitere Rechte durch, die heute als "äußerst revolutionär und progressiv" gelten können: sie setzte durch, dass der Mutterschutz verbessert, das Eherecht gelockert sowie ein Recht auf Schwangerschaftsabbruch eingeführt wurde. Außerdem schlug sie Errichtung von "Volksküchen" und kollektive Kindererziehung vor. Alexandra Kollontai blieb jedoch nur rund ein Jahr (1917/18) Volkskommissarin, danach musste sie aufgrund von Spannungen in der Kommunistischen Partei und Differenzen mit der Parteiführung zurücktreten.
Homosexualität wurde jedoch weiterhin gesellschaftlich stigmatisiert, ja gar geächtet. Es existierte nichts vergleichbares, was heute der LGBT-Bewegung nahe kommt, ja es gab keine einzige Organisation, die sich für Homosexuelle einsetzte. Homosexuelle blieben, trotz ihrer Legalisierung durch die Bolschewiki, eine gesellschaftliche Randgruppe. Außerdem galt diese Legalisierung von Homosexualität nur in der russischen RFSR und der ukrainischen SSR. In den übrigen sozialistischen Teilrepubliken blieb Homosexualität ein Teil des Strafgesetzbuches und wurde auch bestraft.
In der Kommunistischen Partei schwankte man auch einerseits zwischen der Forderung nach gleichen Rechten und sozialer Teilhabe für Homosexuelle, und andererseits einer offenen Feindschaft, die sich bspw. in Vorhaben niederschlug, Homosexualität als eine "psychische Krankheit, die behandelt werden müsse", zu klassifizieren. Es gab in der KPR(B) bzw. dann ab 1925 in der KPdSU die ganze Bandbreite an Einstellungen, und Divergenzen zwischen einzelnen Funktionären waren üblich.
Außerdem hoben die Bolschewiki auch die zaristischen gesetzlichen Verbote der bürgerlichen und gesetzlichen Verbote von Homosexuellen auf, so wurde Georgi Wassiljewitsch Tschitscherin, ein Mann, der im Zarenreich noch seine Homosexualität verstecken musste, zum Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten ernannt. Diesen Posten hielt er von 1918 bis 1930.
Anfang der 1920er: steigende Neugier an Homosexualität
BearbeitenNikolai Semaschko, der von Juli 1918 bis 1930 amtierende und erster Volkskommissar für Gesundheit, zeigte großes Interesse an der damals noch jungen Forschung zu Homosexualität und hatte Sympathien für die homosexuelle Emanzipation "als Teil der sexuellen Revolution". Während manche Teile der Bolschewistischen Partei Homosexualität als "Krankheit, die man heilen müsse" oder als "Überbleibsel bürgerlicher Entartung" wahrnahmen, glaubten andere Bolschewiki wiederum, Homosexualität müsse in der neuen sozialistischen Gesellschaft legal sein und sozial akzeptiert werden.
Im Januar 1923 sandte das Volkskommissariat für Gesundheit, eben unter der Führung von Nikolai Semaschko, eine Delegation an das "Institut für Sexualwissenschaft", welches von Magnus Hirschfeld gegründet und in Berlin-Tiergarten ansässig war. Die Delegierten brachten ihre Unterstützung für die Legalisierung von - privaten, einvernehmlichen -homosexuellen Beziehungen - unter Erwachsenen - zum Ausdruck sowie die Forderung nach Verbesserung der Rechte von Homosexuellen in allen Nationen. Darüber hinaus wurden auch noch Delegationen an verschiedenen internationalen Konferenzen zur menschlichen Sexualität 1921 - 1930 entsandt, dort wurde jeweils die Unterstützung für Homosexualität im Allgemeinen bekundet.
1923 und 1925 verfasste der Vorsitzende des "Instituts für soziale Hygiene Moskau", Grigorii Batkis, jeweils ein Pamphlet mit dem Titel "Die Sexualrevolution in Russland", welches im Berliner Verlag "Der Syndikalist" erschien. Dort beschrieb er Homosexualität als "vollkommen natürlich", außerdem sollte selbige gesetzlich und sozial respektiert werden. In der Sowjetunion selbst entwickelten sich in den 1920er Jahren ernsthafte sowjetische Forschungen zur Sexualität im Allgemeinen, die manchmal die fortschrittliche Vorstellung von Homosexualität als natürlichem Teil der menschlichen Sexualität unterstützten, wie etwa die Arbeiten von Dr. Batkis vor 1928. Die Delegationen wie auch die Forschung wurde stets vom Volkskommissariat für Gesundheit, unter seinem Vorsitzenden Nikolai Semaschko, autorisiert bzw. durchgeführt.
Der langsame Wandel der Einstellungen ab 1927
BearbeitenAb 1934 - erneute Kriminalisierung unter Stalin
BearbeitenAb 1953 bis 1991
BearbeitenSiehe auch
BearbeitenEinzelnachweise
Bearbeiten- ↑ Anastasiia Fedorova, Nikita Adriyanov, Maria Akhmetzhanova: Celebrating the gay russian celebrities history books tried to erase. In: Young Russia. 12. Juni 2020, abgerufen am 22. März 2023 (englisch).