Die Wikipedia ist eine Online-Enzyklopädie zum Mitmachen, so lautet die landläufige Auffassung. Doch wie bei so vielen Dinge gibt es auch hier zwei Seiten: die glänzende Oberfläche und das, was sich darunter verbirgt. Man kann die Wikipedia mit einem Bibliotheksgebäude vergleichen, von dem viele Leute nur das kennen, was man von der Straße aus sieht. Wer sich für nichts anderes interessiert als für die vielen Bücherregale, wo es so viel zu lesen, zu ergänzen und zu verbessern gibt, der kann jahrelang achtlos an den Türen vorübergehen, die hinunter in die Kellergeschosse führen. Dort unten liegen die Maschinenräume, wo die Wikipedia gesteuert wird, und dort herrscht Hauen und Stechen!
So erging es auch mir. Es dauerte sehr lange, bis ich begann, mich für die Kellerräume zu interessieren. Natürlich war mir das umfangreiche Regelwerk der Wikipedia bekannt, aber das fand ich so in Ordnung, und auf welche Weise es entstanden war, hatte ich nie hinterfragt und erschien mir für meine Mitarbeit bedeutungslos. Ich ahnte auch nicht, dass dieses Regelwerk ständigen Veränderungen unterworfen ist und dass diese Veränderungen teilweise mit härtesten Bandagen ausgefochten werden. Für mich war selbstverständlich, dass wir alle - von kleinen Meinungsverschiedenheiten abgesehen - am selben Strang ziehen: eine qualitativ hochwertige Enzyklopädie zu schaffen, die keinen Vergleich mit etablierten Werken fürchten muss.
Bis ich eines Tages im Artikel "Geschichte Thailands" lesen musste, dass Sicherheitskräfte massiv gegen Demonstranten vorgegangen waren und dass dabei in der Hauptstadt Bangkok nach Angaben aus Krankenhäusern mindestens fünf Menschen getötet und etwa 300 verletzt worden waren. So ein Unfug, dachte ich, diese Details sprengen einen Artikel, der 5000 Jahre Geschichte darstellen soll, bei weitem. Ich kondensierte ich den Text auf "... was zu Toten und Verletzten führte", was ich für enzyklopädisch angemessen halte. So und nicht anders würde dies im Brockhaus stehen! Denn selbst wenn sich ein Leser für die genauen Zahlen interessieren sollte, warum sollten dann 100 andere darüber hinweg lesen müssen?
Dies entpuppte sich als der folgenschwerste Edit meines Lebens. Mit dem Kommentar "Vandalismus!" revertierte ein detailbesessener User meinen Edit. OK, kleine Meinungsverschiedenheit, glaubte ich damals noch, die kann man vernünftig ausdiskutieren. Von wegen. "Das ist mit Quellen belegt, also bleibt es drin", belehrte mich ein weiterer Informationserbsenzähler. Als leuchtendes Beispiel wurde ich mit einem Artikel - zutreffender: Presseschaubericht - über einen Flugzeugabsturz konfrontiert, den man völlig schadlos auf die Hälfte hätte sublimieren können. "Im Gegenteil", wurde weiteres Unheil angekündigt, "der Artikel gehört noch kräftig ausgebaut!" Ich sah ein, dass jede weitere Diskussion zwecklos war. Mit einem anderen Autor, der meine Position unterstützt hatte, kam ich überein, dass wir Gras über den Artikel wachsen lassen und ihn später auf einen enzyklopädisch relevanten Umfang eindampfen würden.
Währenddessen wurden die minutiösen Schilderungen der Geschehnisse in einen extra Artikel "Unruhen in Bangkok 2010" ausgelagert und dort fleißig weiter aufgebläht. Guido Westerwelle, so wurde uns berichtet, zeigte sich besorgt über die Situation und rief beide Seiten dazu auf, auf Gewalt zu verzichten. Ich stellte mir das bildlich vor: Westerwelle sieht die Geschehnisse in der Tagesschau und sagt am nächsten Morgen zu seiner Sekretärin: "Niemand soll sagen, der deutsche Außenminister hätte das alles ignoriert. Schreiben Sie doch bitte mal kurz das Übliche auf einen Zettel, so mit Besorgnis, Gewaltverzicht und dergleichen, Sie wissen schon... und den faxen Sie dann an die gewohnten Nachrichtenagenturen." Und wahrscheinlich wäre Westerwelle selbst verblüfft, wenn er sehen würde, dass diese banale außenministerliche Pflichtübung - weltweit von Dutzenden anderer Außenminister ähnlich lautend verbreitet - für bedeutend genug gehalten wurde, um sie in die Wikipedia einzubauen.
Bald musste ich feststellen, dass der Wahnsinn Methode hatte. Eine völlig neue Seite der Wikipedia tat sich vor mir auf: Artikel zu tagesaktuellen Ereignissen. Und deren Autoren, die eine völlig andere Auffassung über die Wikipedia hatten, als ich es bisher gewohnt war und für selbstverständlichen Konsens hielt. Auf den Benutzerseiten dieser Autoren entdeckte ich verblüffendste Meinungsäußerungen über Inhalt und Umfang von Wikipediaartikeln - und schließlich stolperte ich über den Begriff "Inklusionist". Was war das? Und: gibt es auch das Gegenstück dazu? Ich forschte weiter und stieß auf Diskussionen aus längst vergangenen Zeiten. Sprich: ich hatte die Kellergewölbe entdeckt und die Kämpfe, die dort ausgefochten wurden und immer noch werden.
Der Streitpunkt ist letztendlich meist die Relevanz: was ist bedeutend genug, um in die Wikipedia Einzug zu halten, und was beibt draußen? Ein langes, ausführliches Regelwerk über Relevanzkriterien zeugt von vergangenen Kämpfen, die ausgefochten wurden, um allzu nichtige Belanglosigkeiten aus der Wikipedia herauszuhalten. Es ist geradezu eine Gretchenfrage "wie hältst du es mit der Religion - pardon - Relevanz?"
Obwohl... das Wort "Religion" scheint gar nicht so verkehrt zu sein. Wenn man die Geschichte der Wikipedia erforscht, stößt man immer wieder auf unterschiedliche Vorstellungen über Inhalt, Form und Mitarbeit, die mit geradezu religiösem Eifer verfochten wurden und letztendlich zu dem führten, was man auch bei den großen Weltreligionen beobachten kann: bestenfalls bilden sich Sekten, die den jeweiligen Religionsvarianten anhängen, schlimmstenfalls - was auch bei der Wikipedia bereits vorgekommen ist - sammelt ein Prophet seine Getreuen zusammen, spaltet sich ab und gründet eine Konkurrenzreligion.
Eine dieser Sekten bilden die bereits erwähnten Inklusionisten. Ihren Widerpart musste ich lange suchen, denn nur wenige nennen sich ausdrücklich Exklusionist. Jeder Seite unterstellt der anderen, Sinn und Funktionsweise der Wikipedia nicht verstanden zu haben, und wahrscheinlich nimmt auch jede Seite in Anspruch, allein die reine, ursprüngliche Lehre zu vertreten.
Die Inklusionisten lehnen jegliche Relevanzkriterien ab. Alles, was nur durch eine einigermaßen renommierte Quelle belegt ist, kann und soll in die Wikipedia eingebaut werden, denn ihr Credo lautet: es gibt ja Platz genug. Wenn die Schülerband einer Dorfschule in einer der großen Tageszeitungen erwähnt wurde, dann ist sie allein dadurch hinreichend geadelt, um einen eigenen Eintrag in der Wikipedia zu verdienen. Dass der Artikel lediglich in einer der vielen Lokalbeilagen der Zeitung zu lesen war und eigentlich die Verabschiedung des Schuldirektors zum Thema hatte, dass der kurze Absatz über die Band nur deshalb in dem Artikel erschien, weil der Schlagzeuger der Band auch Pressereferent der Schule ist und dass dieser Absatz nur deshalb nicht gestrichen wurde, weil der Layouter zufällig noch ein bisschen Platz zu füllen hatte, interessiert nicht: belegt ist belegt und damit auch relevant, basta. Dass die Wikipedia dadurch Schritt für Schritt von einer qualitativ hochwertigen Enzyklopädie zu einer quantitativ hochwertigen Presseschau mutiert, interessiert ebensowenig oder wird wahrscheinlich sogar gutgeheißen.
Eine lange Liste mit aufsteigender Tendenz, in der ein bekennender Inklusionist Gleichgesinnte sammelt, zeugt von stetigem Zulauf zu dieser Sekte. Offensichtlich stellt ein weiteres inklusionistisches Credo ein Erfolgsrezept dar: "Schlechte Artikel können ruhig monatelang in der Wikipedia stehen, vielleicht werden sie ja irgendwann mal verbessert. Voreiliges Löschen vergrault nur neue Autoren."
Für Exklusionisten ist und bleibt die Wikipedia ganz klar eine Enzyklopädie, und genau so soll sie auch aussehen. Enzyklopädischer Stil ist angesagt: prägnant und auf das Wesentliche konzentriert. Inklusionisten glauben, dass herkömmliche Enzyklopädien so knapp formuliert wären, damit sie auf relativ wenig Papier passen. Exklusionisten wissen, dass herkömmliche Enzyklopädien so knapp formuliert sind, damit wichtige Informationen nicht zwischen Bergen von Flachlaberei untergehen. Denn in der Kürze liegt die Würze, weniger ist mehr. Wenn man den Wald nicht mehr sieht, müssen Bäume gerodet werden. Qualität ist oberstes Gebot. Lieber zu viel weglassen oder löschen, als die Wikipedia irgend einem Makel aussetzen, denn jeder Artikel vertritt zu jeder Sekunde das Qualitätsniveau des gesamten Werkes. Eine schlechte Qualität ist nur Wasser auf die Mühlen derjenigen, die ein Interesse daran haben, das Ansehen der Wikipedia zu mindern. Und sie vergrault langgediente Autoren, die ihre eigenen Ansprüche und Ideale nicht mehr vertreten sehen und die sich mit einer Banalitäten-Wikipedia nicht mehr identifizieren können.
Wie viele Exklusionisten es gibt, ist völlig unbekannt. Nur wenige bekennen sich ausdrücklich zu dieser Sekte. Wahrscheinlich ist es den meisten von ihnen gar nicht bewusst, dass sie Exklusionisten sind, denn sie halten ihre Einstellung zur Wikipedia für völlig selbstverständlich und ahnen nicht im geringsten, dass es Andersdenkende gibt.
Wer sich einen Eindruck von dem Sektenkrieg verschaffen möchte, braucht nur hinab in die Kellergewölbe der Bibliothek zu steigen und an den verschiedenen Türen zu lauschen. Hinter vielen hört man Schwerter klirren oder gar Schüsse peitschen. In vielen Räumen zum Beispiel werden Löschungen von Artikeln vorgeschlagen und diskutiert. Ein Dutzend User tippt tausend mal mehr Zeichen, als der diskutierte Artikel lang ist, um seine Irrelevanz bloßzustellen bzw. um seine Existenzwürdigkeit zu verteidigen. In anderen Räumen wird darum gefochten, ob etablierte Artikel mit Banalitäten aufgebläht oder enzyklopädisch gestrafft werden sollen - Beispiele siehe unten. Wiederum in anderen Räumen wird das Regelwerk der Wikipedia selbst zum Ziel, das eine Burgmauer wider eindringenden Inklusionismus bildet: die einen versuchen, Breschen in Lösch- und Relevanzkriterien zu schlagen, die von Exklusionisten erbittert verteidigt werden.