Das Parfum nach der Interpretation „Der verführte Leser“ (R. Scherf)

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Der lügende Erzähler: ein Gipfel unzuverlässigen Erzählens

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Man sollte tatsächlich mit der 'Message' dieses Textes beginnen: Schlagt tot, wen ihr nicht riechen könnt! So verhindert ihr, dass der, den ihr nicht riechen könnt, Morde begeht - und am besten wäre es, dieses nicht riechende - und eben auch nicht menschliche, nicht zu uns gehörige Etwas gleich bei seiner Geburt umzubringen. Der in Dienst genommene liebe Gott in einer Welt der Gottlosen - siehe Eingangsbefund des Erzählers - will das so! Ist das Patrick Süskind, Autorenstandpunkt, Autorenbotschaft? Es versteht sich von selbst, dass es das nicht ist - doch das heißt nicht, dass diese Message nicht genau so im Buche stünde. Es ist 'nur' die Message seines Erzählers - und der spart sie aus, legt sie nur nahe, lässt seine Leser - wie sich das gehört - von ganz alleine auf diese Botschaft kommen! Und ein Satz aus dem Hauptartikel der Wikipedia, in dem es zum Beispiel um die Mutter Grenouilles geht, zeigt, dass diese Lesergemeinde ihren Auftrag, sich im 'Leute-nicht-riechen-Können' einzuüben, sehr ernst nimmt: Hier verteufelt 'man' bereitwillig über das gesetzte Maß hinaus.

"Seine Mutter, eine Fischhändlerin, will ihn mitsamt den Fischresten in der Seine entsorgen, wie sie es mit ihren vier anderen Neugeborenen schon getan hat. Grenouille jedoch stößt einen derart durchdringenden Schrei aus, dass Passanten auf ihn aufmerksam werden und er dadurch entdeckt und gerettet wird. Seine Mutter hingegen wird wegen mehrfachen Kindsmords zum Tode verurteilt und enthauptet."

Nein, "ihn mitsamt den Fischresten in der Seine entsorgen" hat sie nicht 'gewollt'! Und das hat sie entsprechend auch nicht "mit ihren vier anderen Neugeborenen schon getan": Die Frage, ob diese Frau tatsächlich eine Mörderin sei, wird durch ein Detail, das Un-Menschlichkeit zeigen soll, und dessen Über-Interpretation nur Leser-Unmenschlichkeiten zeigt, regelrecht verschüttet: Wie Fischabfälle will sie ihr Neugeborenes entsorgen, 'das' - dieser menschliche Abfall (?) - kennt nicht einmal elementarste Menschlichkeit, 'das' hat das bereits bei vier anderen Neugeborenen getan'. Im Text stand hier - zu erörtern wäre, warum - nicht 'Neugeborene' sondern "Tot- oder Halbtotgeburten", wobei die Frage, was eine 'Halbtotgeburt' ist, die Frage, ob sie zu Recht wegen "mehrfachen Kindsmords zum Tode verurteilt" wird, doch zumindest betreffen müsste: Die Kindsmörderin wird ja sozusagen schlimmstenfalls zu einer 'Halbtotgeburten-Mörderin'! Die Richtung, die bewusst im Halb-Dunkel gelassenen Formulierungen des Erzählers ins Eindeutige zu biegen, ist völlig falsch: Diese Frau ist - maximal, nicht nur ein bisschen - unschuldig am Tod ihrer Kinder - und maximal bedeutet hier, das eine Wende um 180 Grad vollzogen werden muss. Sie ist nicht die Täterin, sie ist Opfer eines Justizskandals! Sie hat niemanden umgebracht, sondern ihre Kinder verloren: Aber sie gesteht doch, könnte man einwenden - und müsste recht viele Widersprüche dabei schlicht übersehen. Nein, sie gesteht nicht, sie kommt nicht einmal auf die Idee, dass man ihr vorwerfen könnte, ihre Kinder umgebracht zu haben. Sie wirft sich vor, dass sie sie 'habe verrecken lassen' - und sagt das genau so, weil sie sich dieses Säuglingssterben zum Vorwurf macht. Und jeder, der anderes behauptet, bringt hier - quasi im Nachhinein - jemanden um, den er nicht riechen konnte! Eine faschistische Darstellungsstrategie hat - wieder einmal - wunderbar geklappt. Verschüttet gingen alle Fragen, die mit den 'wirklichen', also den von Patrick Süskind erfundenen Details dieser Geschichte zu tun haben - und die unübersehbar in unglaubliche Widersprüche führen müssen: Eine Mörderin muss hier ja geradezu versessen darauf sein, sich umbringen zu lassen - als ein Kind überlebt, erzählt sie, sie habe vier andere, von denen keiner auch nur das Geringste wusste, "verrecken lassen": Es gehört schon eine superlativische Dummheitsannahme dazu, ihr sozusagen soviel Geilheit darauf zu unterstellen, auf der Guillotine zu landen. Das ist kein Geständnis! Die Kindsmörderin, die sich den öffentlichsten aller denkbaren Plätze aussucht, um ihre Kinder umzubringen, ist Humbug - den man dann natürlich Süskind unterstellen müsste. Bereits dass diese Frau - als gäbe es keinerlei Schamschwellen - auf einem Marktplatz gebiert, ist erklärungsbedürftig: Die Standard-Kindmörderin geht in Wälder, Keller, an Flüsse oder Teiche. Hier sollte die Tatsache, dass sie ihre toten Kinder ganz einfach und ohne die geringste Gefahr auf den nahen Friedhof bringen kann, weil es für arme Leute ohnehin keine Beerdigungen oder Ähnliches gibt und weil in dieser Zeit der hohen Säuglingssterblichkeit viele Kinder starben, auch auffallen. Warum also soll sie auch noch das Risiko eingegangen sein, dass Leute, die bereits auf das Schreien des Kindes sehr sensibel - wenn auch nicht unbedingt 'kindsmordsversessen' - reagiert haben, eine Kinderleiche zwischen Fischabfällen entdecken konnten? Und was wirft sie sich vor, wenn sie beklagt, dass sie ihre Kinder hat "verrecken lassen"? Sie ist von Krankheiten so ausgezehrt, dass sie nach der Geburt ohnmächtig wurde: Konnte sie sich um das Kind kümmern? Wie war das vorher, bei vier andern 'Halbtot- oder Totgeburten': Nach einer Geburt sind Frauen topfit, voll zurechnungsfähig - zumal, wenn sie alleine, ohne die geringste Hilfe gebären mussten? Wie gesagt - tapfer, tapfer: Der Humor in dieser Geschichte wird im Lexikon-Artikel ja gar nicht erwähnt, dass sie "noch hübsch" sei, obwohl sie kaum noch Haare hat, und so weiter... Was vergisst 'man' nicht alles, wenn man - sozusagen nach Anleitung durch den Erzähler - Asoziale beschimpfen, Asoziale als Nichtmenschen darstellen kann - und sie dann als moderner Mensch - so spricht uns der Erzähler ja mehrfach an - den 'gerechten Strafen' zugeführt sehen kann! In allen Texten zum Kindsmord werden die Kindsmörderinnen als Opfer einer Gesellschaft gesehen - hier soll sie gewesen sein, was sie geboren haben soll: Dreck, Abfall, Kopf ab! Aber wenn man dergleichen postmordern nennt, geht eben alles - das ist dann "unterhaltsam" - Neuerdings die Hauptsache im Leseprozess - ist "herrlich zynisch", ist ja nur ein - womöglich schönes, weil schön einfaches - Märchen und so weiter... Das Problem an diesem Roman sind tatsächlich seine Leser! Und der Haupt-Artikel in seinem jetzigen Zustand ist tatsächlich 'grottenschlecht'! Ich habe Schülern einer neunten Klasse am Gymnasium die Aufgabe gegeben, die Inhaltsangabe im Artikel in der Form zu kritisieren, dass sie nachweisen, wo Lügen und falsche Aussagen übersehen worden sind. Im Roman selbst betrifft das sozusagen eine falsche Aussage pro Seite!

Der lügende Erzähler im Text eines ‚erfindenden’ Autors ist, vom literarischen Handwerk her betrachtet, ein Problem, das das Lügnerparadox vom Kreter berührt, der sagt, das alle Kreter lügen. Dieses Paradox suggeriert eine Nichtentscheidbarkeit dessen, was fiktional als Wahrheit zu gelten hätte. Doch in einem realistischen Text gibt es eben eine zweite Instanz, die seine Lügen kenntlich werden lässt: Die beschriebenen Wirklichkeiten, hier also die Wirklichkeiten des 18. Jahrhunderts im vorrevolutionären Frankreich, aber auch schlichte Alltags- und sozusagen überzeitlich geltende Wirklichkeiten widersprechen dem, der sie verzerrt. Man muss kein Experte sein, um zu erkennen, dass eine Frau, die vierundzwanzig Kinder zu über 90 Prozent vor dem sicheren Tod rettet, eben nicht ist, was der Erzähler aus ihr macht: Eine geldgierige 'Frauenmumie'! Jeder der hier von einem 'auktorialen' oder - wie gewohnt - einem 'allwissenden' Erzähler spricht, beleidigt den Autor: als Faschisten, als Dummkopf, als religiösen Fanatiker. Hier wird noch zu beweisen sein, dass er darüber hinaus ein Mörder ist: All das ist also gerade nicht Patrick Süskind, der sehr genau zu dieser Geschichte recherchiert hat – sondern sein angeblich allwissender Erzähler. Und der ist eben nicht als ‚auktorial’ zu betrachten, also einem Autor nahestehend, der postmoderne Alles-geht-Schreibweisen erschlösse. Dieser Erzähler ist das Gegenteil dazu: Er ist des Autors ‚antiauktorialer’ Gegenspieler.

In diesem Roman verbirgt sich hinter dem Erzähler die so harmlos scheinende Figur des Pater Terrier. Er ist der angeblich ‚Allwissende’ in diesem Roman – ein Wiedergänger, der nach seinem Tode, den er jenem Teufel anlastet, der in einem unschuldigen Säugling verkörpert gewesen sein soll, keine Ruhe findet. Seine Botschaft ist mit der eines Inquisitors zu vergleichen. Da er, als Figur aus dem 18. Jahrhundert, ‚uns moderne Leser’ anspricht, ist die Verlängerung dieses ‚toten Geistes der Erzählung’ hin zum Faschisten in parabolischer Form mitgemeint: Der Nachweis dieser These ist, verbunden mit einer Umwertung der scheinbaren Harmlosigkeit und der positiven Darstellung dieser Figur ein wenig kompliziert. Gegen den Geist dieses ‚toten Erzählens’ soll der in üblen Formen verführte und manipulierte Leser hier zu einer kritischen Lesart dieses Kunstwerks ge- und verführt werden. Die Kehrseite dieser Lesart: Sie steht geradezu zwangsläufig unter dem Verdacht einer Interpreten-Überheblichkeit, weil ja sozusagen eine ganze Welt ihren ‚Weltbestseller’ schlicht ‚falsch’ gelesen haben soll. Die Lektüre eines Lügners ist in dieser Form jeweils mit dem Problem verbunden, dass ‚man’ in jeder Einzelgeschichte auf ihn hereingefallen ist. Das stellt alle bekannten Interpretationsmethoden in Frage: Was traditionell am einfachsten scheint - die kritische, von Lügen bereinigte Inhaltsangabe, erweist sich vor allem in einer Zusammenfassung als sehr schwierig. Diese Inhaltsangabe folgt dabei der Regel einer Umwertung der Schwarz-Weiß-Zeichnungen der Figuren – und verlangt recht viel Hintergrundwissen zum Frankreich des 18. Jahrhunderts, das allerdings in den meisten Fällen auch textimmanent erschließbar ist: Süskind hat die historischen Kerninformationen in den Roman seines antiauktorialen Gegenspielers einfließen lassen.

Grenouilles Mutter - ein völlig unschuldiges Opfer einer unmenschlichen Justiz und Zeit

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Wie kann sie unschuldig sein? Sie gibt doch zu, "daß sie das Ding bestimmt würde haben verrecken lassen, wie sie es im übrigen schon mit vier anderen getan habe (...)" (S.9, Tb-Ausgabe).

  1. Die Mörderin, die sich ganz bereitwillig - weil das so geil ist - unters Henkerbeil legt, wäre in jedem Krimi superlativischer Blödsinn: Hier übernimmt man dergleichen als Erzählbasis. Jeder Leser müsste doch ein kleines Einmaleins der Mordgeschichten kennen: Wenn sie überhaupt nichts sagte, müsste man sie freilassen, weil ihr jetziges Kind, Grenouille, überlebt hat. Von den anderen vier weiß niemand: Warum also ist sie so blöde und sagt, was jeder einigermaßen gescheite Richter nie als Geständnis hätte nehmen dürfen, selbst wenn er bei ihr eine unendliche Blödheit ansetzt? Kein Mensch wüsste von diesen 'Tot- oder Halbtotgeburten' - und die Wortwahl sollte dringend ernst genommen werden. Warum ist es ihr nicht klar, dass sie ein höchst gefährliches Feld mit dieser Formulierung betritt? Sie erst bringt ihre Richter auf Kindsmords-Ideen, sie redet sich um Kopf und Kragen: Es gibt nur eine Erklärung dafür! Sie fühlt sich in einem auf Mordabsichten zielenden Sinne - zu Recht - völlig unschuldig; und sie fühlt sich - in einem Sinne, dass sie ein Verrecken ihrer Kinder zugelassen hat - zu Unrecht schuldig. Dieses vermeintliche Geständnis kann nur die Selbstanklage einer Mutter sein, die ihre Kinder verloren hat, obwohl sie bei genauem Hinsehen alles ihr Mögliche für ihr Überleben getan hat!
  2. Säuglingssterblichkeit: Sie gibt hier also gar nichts zu, sie schreit förmlich um Hilfe: Schon viermal musste sie ein Kind 'verrecken lassen'. Diese Formulierung ist das einzige, was überhaupt für eine Anklage taugen könnte. Angeklagt wird sie also, weil sie nicht reden, sich nicht unmissverständlich ausdrücken kann. Und es sollte alle Leser, die sie in die Pfanne hauen wollen, nachdenklich stimmen, dass genau der hier ins Moderne gegossene Vorwurf, sie sei eine üble Schlampe, die einfach ihre Kinder 'entsorgt', damals, in den Zeiten hoher Säuglingssterblichkeit, für viele unschuldige Opfer unter den armen Frauen des dritten Standes gesorgt hat. Man muss sich doch klarmachen, dass der ganze Roman nicht hätte geschrieben werden können, wenn sie hier ganz simpel gesagt hätte: "Natürlich werde ich den Jungen versorgen!" - auch wenn das bei ihren Krankheiten und ihrer Lebenserwartung als einer Frau "Mitte zwanzig" eher ein frommer Wunsch geblieben wäre. Nebenbei: Die amtlichen Kindsmörder von Paris wären mit dieser Aussage eine Sorge los gewesen, hätten sich nicht um diesen 'Bastard' kümmern müssen.
Viele Frauen 'mussten' damals ihre Kinder 'verrecken lassen' - sie hätten es wohl nur nicht so ausgedrückt. Die Säuglingssterblichkeit war enorm hoch: Die gewiss nicht arme Mutter Goethes brachte zwei von acht Kindern durch, bei Christiane Vulpius-Goethe überlebte eins von fünf Kindern die Geburt: Sie hätten wohl nie gesagt, dass sie dieses Kinder hätten 'verrecken lassen': Doch ganz gleich, was sie zu diesen Totgeburten gesagt hätten - niemand hätte hier andere Motive als Trauer oder Verzweiflung angenommen!     
  1. Kindsmord auf dem Marktplatz?

Jeder Mörder meidet die Öffentlichkeit - hier soll der Mord auf dem belebtesten Platz dieser alten Welt stattgefunden haben. Dass Marktbesucher das geglaubt haben mögen, weil sie ein Messer in der Hand und Blut an der Schürze hat, mag ja so sein: Bei einer Geburt und einer Fischmagd gäbe es für beides indes sehr viel einfachere Erklärungen - und man sollte zur Kenntnis nehmen, dass sie mit dem Messer das Kind abnabelt - und ihm nicht etwa die Kehle durchschneidet. Haarsträubend dumm ist jedoch über die Unterstellung hinaus, dass eine Frau mit Mordplänen den belebtesten Marktplatz der Zeit aufgesucht haben soll, dass eine Frau für eine Geburt den Marktplatz wählt. Nun gut: Krankenhaus und Hebamme scheiden aus. Sie ist zu arm. Doch sie könnte sich, wenn nicht im Wald, dann irgendwo an einem abgelegenen Ort auf diese Geburt einlassen: Die Frage ist doch, warum sie nicht schon aus Schamgründen einen absolut menschenfernen Ort aufsucht.

  1. Natürlich gab es Kindsmörderinnen:
Aber doch nicht auf dem Marktplatz - und eines der Probleme in diesem Roman ist, dass es den tausendfachen geheimen Kindsmord gibt - und niemand sich darüber aufregt, während hier eine Justizopfer gesucht wurde - und leider bei unseren Lesern immer noch gesucht wird! Die wirkliche Frage ist doch: Wie arm muss sie sein, dass sie unter solch entwürdigenden Umständen gebiert? Haben alle, die sie so schnell zu verurteilen bereit sind, vergessen, welche Strapaze eine Geburt für eine Frau ist? Was es bedeutet, dass sie nicht einmal schreien darf, um nicht aufzufallen? Wie lange ihre Wehen dauerten, wie schmerzhaft sie waren? Und dass sie mittlerweile so krank ist, dass sie nach dieser Strapaze ohnmächtig wird? Wenn das 'auktorial', also 'autornah' erzählt sein soll, dann wäre Süskind nicht nur ein grottenschlechter Erzähler, er wäre ein Monster! Sein Erzähler ist ein solches Monster - und mancher unter seinen Lesern sollte sich fragen, ob gewisse Lesarten nicht einfach 'monströs' - und nicht etwa postmodern - genannt werden sollten. Süskind hat die Lügen und Monstrositäten seines lügenden Erzählers eigentlich unübersehbar gestaltet: Bisweilen sollte ein 'sapere aude' so weit gehen, dass man die Zitatkraft eines angeblichen Geständnisses hinterfragt - auch wenn "das so im Text steht"!
  1. Arbeitsausfall bedeutet Arbeitsplatzverlust: Die Konkurrenz muss sehr groß sein, weil schon ihre erste Geburt am Fischstand stattfand - und das Kind damals als "Halbtotgeburt" oder "Totgeburt" bereits starb. Damals war sie wohl tatsächlich, was der lügende und unmenschliche Erzähler, dem so viele so gerne lauschen, nun so überaus zynisch bespottet: "noch hübsch". Bei ihrer fünften Geburt ist sie nicht nur übers Maß hässlich - sie hat auch sehr ansteckende Krankheiten wie die Syphilis und die Schwindsucht. MJitleid gibt es für sie jedoch nicht einmal in der Schar der ach so kritischen Leser: Dass sie ein Justizopfer ist, dass sie die ärmste Frau unter den Ärmsten der Armen sein muss, kommt - als Superlativ für eine Mitleidbedürftigkeit - bei manchen dieser ach so kritischen Leser überhaupt nicht in Betracht! Dass sie diese Arbeit überhaupt noch besitzt, ist ein Wunder: Es ist ihrem Arbeitgeber wohl noch nicht aufgefallen, dass sie so krank ist und bereits fünfmal schwanger war. Er muss mit ihrer Arbeit zufrieden gewesen sein.
  2. Fünf Schwangerschaften: Wie steht's um ihre Sexualmoral? Der Erzähler macht sich in sehr zynischer Form lustig über ihren Traum vom 'verwitweten Handwerker', mit dem sie 'wirkliche Kinder' haben könnte. Dieser Traum ist auf zwei Ebenen sehr kritisch zu betrachten: Frauen im dritten Stand durften nur dann überhaupt heiraten, wenn sie eine Familie ernähren konnten. Die Fischweiber gehörten zu diesen 'sozial kastrierten' Armen im 3. Stand. Für Männer galt: Heiraten darf, wer eine Familie ernähren kann - wozu er zumindest eine Gesellenausbildung benötigte; umgekehrt war 'eheliche Abkunft' eine Zunftrechtsvoraussetzung für diese Ausbildung (vgl. Grenouilles Schwierigkeiten bei Baldini, S.138). Für eine Frau aus dieser Schicht kam nur ein Witwer mit noch zu versorgenden Kindern in Frage, der innerhalb seiner Zunft keine Frau finden konnte, weil die eben besseres als die Versorgung fremder Kinder erwartete. Nur da hatten diese Ärmsten der Armen überhaupt eine Chance: Und der "verwitwete Handwerker" weiß das! Eben dieser Traum dürfte Grenouilles Mutter also die Syphilis eingebracht haben: Ältere Männer dürften diese Jungmädchenträume ausgenutzt haben.
  3. Friedhof oder Fluss: Der Erzähler schafft über zynische, entfernt an Gottfried Benn erinnernde Kommentare eine Gleichheit von Mensch und Fischabfall. "(...) das blutige Fleisch, das da herauskam, unterschied sich nicht viel von dem Fischgekröse, das da schon lag,(...)und abends wurde alles mitsammen weggeschaufelt und hinübergekarrt zum Friedhof oder hinunter zum Fluß" (S.8): Auch hier sind beispielsweise die Verfasser des Artikels auf einem menschenverachtenden Holzweg. Wenn Grenouilles Mutter die - unversehrte, vielleicht nur erwürgte - Leiche ihres neugeborenen Kindes auf den Cimetière des Innocents gebracht hätte, wie sie es mit Sicherheit bei den anderen Kindern getan haben muss, droht ihr keinerlei Gefahr: Es sterben viele Neugebornen. Fischabfälle kamen natürlich nicht auf diesen völlig überfüllten, ohnehin schon bestialisch stinkenden Friedhof, so, wie umgekehrt Kinderleichen nicht in den Fluss geworfen werden, weil sie dann eben eindeutig als Beweis für Mordabsichten gegolten hätten. Nur der Erzähler stiftet - und die ihm folgenden, so gerne belogenen Leser vermuten - hier Pietätlosigkeit. In einem anderen Sinne pietätlos ist jedoch vor allem die königliche Stadtverwaltung, die den Armen nur diesen heillos überfüllten und bestialisch stinkenden Cimetière des Innocents und diese Massengräber überlässt.-- SchR 14:41, 21. Feb. 2012 (CET)Beantworten

Tausendfacher Kindsmord als Routinehandlung: Wie Paris seine 'Bastarde' umbringen oder verrecken ließ

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  1. Die angebliche Kindsmörderin leidet an der damals unheilbaren Syphilis. Der Parfumeur Baldini umreißt eine vor allem von der Kirche forcierte Strategie, diese Krankheit zu bekämpfen: In seiner Tirade gegen die Aufklärer betrachtet er sie weiterhin als eine „Strafe Gottes“ (S.74). Diese gesteigerte Sexualfeindschaft der Kirche war eine Reaktion auf die aus Amerika eingeschleppte Krankheit; umgekehrt entstand durch diese Sexualitätsverteufelung aber auch ein regelrechtes Bedürfnis nach überführten Kindsmörderinnen. Der moralische Druck erhöhte die Zahl der Kindsmorde; doch gerade bei den ‚sozial kastrierten’ armen Frauen wurde auch Säuglingssterblichkeit ein großes Problem: War das Kind bei der Geburt bereits tot oder nicht lebensfähig – oder wurde es ermordet?
  2. Süskind liefert hier Zahlen, die das Problem verdeutlichen: Bezeichnend ist, dass sie in einem Kontext stehen, in dem sein Erzähler mit diesen Daten nichts anderes als die Geldgier von Madame Gaillard belegen will, die sich in höchstem Maße gegen das Elend dieser Kinder engagierte.

„Paris produzierte im Jahr über zehntausend neue Findelkinder, Bastarde und Waisen.“ (S.27) Und: „Sechs-, siebenhunderttausend Menschen lebten in Paris.“ (S.148). Auch das erfährt man erst, als Grenouille diese größte Stadt der damaligen Welt verlässt; wichtig wäre es jedoch, dies zu seiner Geburt zu wissen. Im damaligen Paris gab es also eine lokale Bevölkerungsexplosion – in einer Welt, deren Bevölkerung erst im Jahre 1804 die erste Milliarde überschritt. Schon die unehelich geborenen und ausgesetzten Kinder - 10.000 pro Jahr - brächten eine jährliche Zuwachsrate von 1,7 Prozent. Zeitgleich mit dieser Suche nach Kindsmörderinnen, der wohl häufiger auch Frauen mit totgeborenen Säuglingen zum Opfer fielen, löst die Stadt dieses Problem durch einen kaum kaschierten Mord an solchen Kindern - und das steht genau so im Text. ‚In den großen staatlichen oder kirchlichen Findelhäuser betrug die Verlustquote oft neun Zehntel’ (vgl. S.27): Diese hohen Verluste waren wohl erwünscht. Und ganz am Anfang berichtet der Erzähler nicht eben deutlich von einem unerhört brutalen Umgang mit solchen Säuglingen, den man schlicht als Mord bezeichnen muss: Täglich fanden Kindertransporte zum Großfindelheim Rouen statt. Anscheinend schlägt dann niemand nach, um solche Informationen abzusichern: Dass Rouen etwa 130 Kilometer entfernt liegt, lässt sich ja herausfinden. Bis zu vier Säuglinge wurden „aus Rationalitätsgründen“ in Bastkiepen gesteckt, sodass „die Sterberate unterwegs außerordentlich hoch war“: ‚Außerordentlich hoch’ ist also außerordentlich untertrieben - und ist eine Formulierung, die das Kindsmord vermeidet, wo es bei der angeblichen Kindsmörderin allzu freigiebig vergeben wurde. Die Rate betrug 100 %, denn selbst durch ein Wunder hätte ein Säugling diesen Todesmarsch, der vermutlich ohne oder mit sehr wenig Nahrung, Flüssigkeit und Windeln stattfand und bei einer hohen Marschleistung von 40 km pro Tag mindestens drei Tage dauerte, nicht überleben können. So etwas akzeptieren erwachsene Leser, die den Transportaufwand für nur ein Kind - Flaschen, Windeln, usw. - kennen, ohne es zu hinterfragen!

Die Rolle der Kirche - oder besser: einer Kirche, eines Klosters - bei diesen Transporten: Nur nach außen hin wahrte man den Schein: Die Säuglinge wurden getauft und „mit einem ordnungsgemäßen Transportschein versehen“. Wenn täglich nur bis zu vier Kinder so zu Tode transportiert wurden, war die Stadt Paris, wenn man nur die Tage im Jahr mal vier rechnet, eine mehr als tausendfache, offizielle Kindsmörderin! Die restlichen etwa 9000 Kinder pro Jahr wurden dann im Verhältnis eins zu zehn in Waisenhäusern umgebracht. Dass für Grenouille eine Amme gesucht wird, ist also mehr als erklärungsbedürftig. Er ist eine Ausnahme, die dem für diese Transporte zuständigen Polizeioffiziers Lafosse – der Name bedeutet Grab oder Grube – große Schwierigkeiten bereitet. Warum? Lafosse kann es sich nicht leisten, auch ihn einfach nur verschwinden zu lassen: Die Hinrichtung seiner Mutter hat Furore gemacht; es steht also zu befürchten, dass Aufklärer sich nach dem Schicksal dieses Kindes erkundigen – und dabei die Praxis der tausendfachen offiziellen Kindsmorde entdecken könnten. Daher ist es auch kein großes Geheimnis, warum der Prior von St. Merri, dem Kloster, in dem Pater Terrier lebt, so „gute Laune“ (S.10) hatte, dass er dieses eine unter jährlich zehntausend Kindern unter Vormundschaft nahm: Vermutlich stellte eben gerade dieses Kloster die Taufscheine zu den Mordtransporten aus. Und vermutlich ist das historische Tatsache.

Die Ammen und Jeanne Bussie

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Für Grenouille suchte erst Lafosse, dann das Kloster, was nur reichere Frauen sich leisten konnten: eine Amme. Man musste, weil keine ihn lange behielt, dafür immer höhere Preise zahlen. Warum? Jeanne Bussie werden am Ende gar 5 Franc in der Woche angeboten. Das ist sehr viel mehr als ein guter Nebenverdienst, da Grenouille etwa als ausgebildeter Geselle bei Madame Arnulfi zwei Franc erhält. Und deshalb gehört es bereits zu den vom Erzähler kritiklos übermittelten Ammenmärchen, dass Grenouille besonders gierig sei: Er ist, was es sonst eben per definitionem nicht geben kann: Der „Bastard der Kindsmörderin“ (S.11). Die Ammen fürchten um ihren Ruf, sie nähren die Kinder reicher Menschen – und dieses Kind wollen sie nicht nähren.

Die Geruchlosigkeit Grenouilles: Ammenmärchen oder surrealistische Basis?

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Süskinds Spiegelsszenentechnik

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Die Geruchlosigkeit des Protagonisten wird ja in einer Spiegelszene auf dem Plomb du Cantal noch einmal entdeckt – und zwar vom Geruchsexperten schlechthin, von Grenouille selbst, wobei allerdings auch da eine Erzähler-Unzuverlässigkeit vorherrscht. Es ist daher problematisch, diesen surrealistischen Bestandteil der Figur komplett zur Lüge einer Figur, eben zum ‚Ammenmärchen’, das die ganze Fiktion beträfe, zu erklären. Das heißt jedoch umgekehrt nicht, dass die Amme nicht gelogen hätte: Schon der Aufwand, den Grenouille als ‚beste Nase’ dieser und aller möglichen Welten betreiben muss, um das geruchliche Nichts an sich zweifelsfrei aufzuspüren, widerspricht dem sehr fragwürdigen Geruchsexperiment, mit dem die vermeintliche ‚Teufelseigenschaft’ als Ammenmärchen eingeführt wird.

Jeanne Bussie – Geruchsexpertin? Eine Expertin für Kindererziehung? Oder einfach nur: eine Beinahe-Kindsmörderin! ?
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Die hämmernde Dauerwiederholung der Formel „Es stanken“ im „Zooming-in“ des Erzählers (vgl. S.5 f.), das über eine Welt der stinkenden Städte und Menschen an den Ort der Handlung, den Cimetière des Innocents, führt, hat einen Nebeneffekt: Der Leser sollte sich daran erinnern, wenn er das von Amme und Pater durchgeführte, in seinen Konsequenzen so weitreichende Geruchsexperiment zu beurteilen hat. Diese Experiment fand in gestanksübersättigter Luft statt und wurde von stinkenden Geruchsforschern durchgeführt; spiegelbildlich dazu hat der größte Geruchsexperte des Romans, Grenouille selbst, größte Schwierigkeiten, auf dem Plomb du Cantal, dem menschen- und menschengeruchsfernsten „Pol“ des Landes, eine von Störgrößen befreite Atmosphäre für das Erriechen seines Eigengeruchs herzustellen. Es mag also sein, dass die Amme Recht hatte – und Grenouille tatsächlich in der Basisfiktion des Romans als ‚geruchlos’ zu betrachten ist. Bei ihr wäre das allerdings bestenfalls ein Zufallstreffer – und die Frage, wie diese Eigenschaft dann zu interpretieren ist, welche Folgerungen sie nach sich zöge, sollte auch nicht vorschnell beantwortet werden: In einer der Hauptquellen zu diesem Roman, in Alain CorbinsPesthauch und Blütenduft“ steht die moderne Welt unter dem Signum der ‚uns umgebenden Geruchlosigkeit’, der Frucht aller Fortschritte in der Hygiene und im Sozialen, die ‚uns modernen Menschen’ nicht mehr bewusst sei. Auch der moderne Leser wäre also, rückversetzt in dieses stinkende Jahrhundert, ein als ‚geruchlos’ geltender Mensch, ein Fremder, der sich mit Todschlagewünschen und Verteuflungen konfrontiert sähe. Außerdem wird das Ergebnis des Experiments dadurch getrübt, dass der nach Essig riechende, in seinem Kloster ‚versauernde’ Pater die vordergründig nach Wolle und Milch riechende Amme übers Maß ‚gut riechen’ kann - und ein recht großes Interesse für ihre Brüste entwickelt, das weiter reichende Folgerungen nach sich zieht. Die Amme hingegen wird als naturverbunden, ‚unverdorben’ und kinderlieb dargestellt: Sie ist jedoch eine sehr üble Figur. Schon dass sie eine katastrophal schlechte Nase besitzt, steht – immer wieder gern überlesen – im Text. An den Füßen, also an einer genau bestimmten Stelle, sollen Kinder riechen „wie ein glatter warmer Stein - nein eher wie Topfen ... oder wie Butter“ (S.17) Selbst der völlige Geruchslaie erkennt hier: Diese eine Stelle an den Füßen soll zugleich ‚nach nichts’ (Stein), streng säuerlich (Topfen oder Quark) und mild (nach Butter) riechen. Im Gegensatz zu dieser Stümperin, die nicht einmal Hauptgerüche im Spektrum unterscheiden kann, riecht Grenouille im eng abgesteckten Geruchsspektrum des Getränks ‚Milch’, „wie warm es war, von welcher Kuh es stammte, was diese Kuh gefressen hatte“ (S.33). Dass Säuglinge nachweislich bis heutzutage nicht nach „Karamel“ riechen – und sie überhaupt nicht wissen kann, wie dieser sagenumwobene „Karamel“ riecht, weil sie in diesem „großen Hotel in der Rue Saint-Honoré“ (vgl. S.18) als eine nach Milch und Wolle stinkende Bäuerin bestenfalls bis zu einem Dienstbotenbereich zugelassen wurde, ist dann nur ein weiteres Ammenmärchen: Sie lügt! Auch als Expertin für Säuglingserziehung hat sie sich – unbemerkt - gerade völlig diskreditiert: Der Satz „Er frißt alles, der Bastard.“ (S.11) zeigt ja nur, dass sie ein im Höchstfalle etwa zwei Monate altes Kind unvertretbar früh abgestillt und wohl schon länger „mit Ziegenmilch, mit Brei, mit Rübensaft“ in eine direkte Lebensgefahr hineingefüttert hat: Der Leser sollte wenigstens soviel von Kinderernährung wissen, dass dies unvertretbar früh ist. Er muss nicht wissen, dass das deutsche Wort "himmeln" für 'etwas zerstören' von genau diesem Verfahren kommt, ungewünschte Kinder durch ein zu frühes Füttern mit unverträglicher Nahrung loszuwerden. Sie kann dieses Kind – in übertragenem Sinne – nicht riechen und macht sich nicht einmal die Mühe, seine volle Windel zu wechseln. Und dies dürfte die Hauptstörgröße zum Geruchlosigkeits- und Teufelsnatur-Experiment gewesen sein: Da riechen zwei selbsternannte Experten an einem mit ungeeigneter Nahrung gequälten Säugling mit voller Windel herum – und dann wundert sich ein angeblich Kinder liebender Pater, dass ‚dieser Teufel’ nicht aufhört zu schreien. Aufgrund solcher Fragwürdigkeiten sollte in allen Fällen, in denen im Roman von der Geruchlosigkeit dieses Kindes, Jugendlichen oder Mannes die Rede ist, zunächst einmal die Erklärung bei der anderen, ebenfalls von der Amme gefundenen Formel gesucht werden: Grenouille war von Anfang an der „Bastard der Kindsmörderin“: Dieses Paradox – entweder ist die Frau eine Mörderin und ihr Kind tot, oder ihr Kind lebt und sie ist keine Mörderin – erklärt sehr viel besser, warum man dieses Kind ‚nicht riechen konnte’. Es ist nichts Teuflisches im Spiel, wenn etwa die ‚Bastarde’ oder unehelichen Waisen der Madame Gaillard ihn umbringen wollen: Sie haben jemanden gefunden haben, der noch unter ihnen steht - und projizieren allen Hass, dem sie als ‚Bastarde’ ausgesetzt waren, auf ihn, den Bastard der Kindsmörderin, den angeblich sogar seine Mutter umbringen wollte.

Umwege zu Pater Terrier

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Der angeblich allwissende Erzähler, dem solche Widersprüche anscheinend überhaupt nicht auffallen, diskreditiert sein ‚Allwissen’ unterschwellig also in höchstem Maße. Dass er auf einem anderen Felde, dem Felde der Gerüche, ‚uns modernen Menschen’, seinen Lesern gegenüber, völlig neue Erkenntnisse und ein völlig neues, theologisch oder geruchsmystisch fundiertes Denksystem zu bieten hat, sollte dann auch nicht unhinterfragt bleiben. Dieses Denken ist in höchstem Maße mit sehr alten Ratschlägen zum Umgang mit Menschen verbunden, die man ‚nicht riechen kann’: Wenn sich hier bereits abzeichnet, dass es der zentrale Fehler gewesen sein soll, den ‚geruchlosen Säugling’ nicht umzubringen und dadurch fünfundzwanzig Mädchenmorde zu verhindern, so will diese Theologie an äußerst alte Muster eines Umgangs mit Außenseitern erinnern.

Das Bild vom Zeck und andere Schmarotzerbilder

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Das Bild vom Zeck, das immer wieder im Text mobilisiert wird, ergänzt solche heimlichen, unausgesprochen bleibenden Ratschläge. Mancher Deutschlehrer, der dieses Bild nach den üblichen Mustern einer Gegenüberstellung vom Bildbereich „Eigenschaften eines Zecks“ hin zum Sachbereich „Eigenschaften Grenouilles“ behandelt, könnte an der Stelle, an der die Konsequenz solcher Verbildlichung, dass man ‚die Schmarotzer’ hüben wie drüben eben einfach umbringen müsse, erschreckt feststellen, dass sein Tafelbild etwa in einem Deutschunterricht der dreißiger Jahre seinen Platz hätte: Man müsste das Wörtchen ‚Grenouille’ nur durch ‚der Jude’ ersetzen. Solche Bilder stammen eben aus dem Wörterbuch des Unmenschen – und zumindest ein Erzähler sollte in Deutschland kritisiert werden, wenn er sie immer noch verwendet. Es ist nicht der Autor Süskind, der das Zeckenbild, die vielen Spinnenvergleiche zu Grenouille und Ähnliches entwarf: Im Interesse des Autors ist es, solche Bilder zu kritisieren.

Eine psychoanalytische Bildkritik: Die 'Überführung' von Pater Terrier als Erzähler

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Der Erzähler verwendet solche Bilder – und dass seine Bilder und Vergleiche sehr problematisch sind, wird bereits in der Geschichte der angeblichen Kindsmörderin deutlich. In einem fast unüberbietbar schlechten Vergleich motiviert der Erzähler die Ohnmacht dieser Frau, die durch die stinkende Umgebung, die Hitze, ihre Krankheiten und die Geburt bereits übers Maß motiviert ist, zusätzlich durch einen für sie ganz besonders unerträglichen Geruch, „den sie (...) als etwas Unerträgliches, Betäubendes - wie ein Feld von Lilien oder wie ein enges Zimmer, in dem zuviel Narzissen stehen“ wahrgenommen haben soll (vgl. S.8).

Man muss sich hier verdeutlichen, dass ein auktorialer Erzähler hier die Regel, seine Texte durch Vergleiche oder Bilder anschaulich zu gestalten, maximal schlecht erfüllen würde. Die Vergleichsbasis, dass es hier ein Zuviel des Guten gibt, passt weder zu dieser Situation, in der es ‚des Schlechten zuviel’ gab, noch überhaupt zum Denken dieser Frau, die wohl weder Narzissen noch ein Feld von Lilien kennen dürfte. Zudem ist der Vergleich auch in einer Welt der gutbürgerlichen oder wie auch immer jenseits der Asozialenschwelle anzusiedelnden Wohnzimmer völlig unsinnig: Wenn man ein Zimmer mit Narzissen schmückt und die angenehm duften, wäre das sinnvoll - doch wer stellt sich schon so viele Narzissen in ein so enges Zimmer, dass der Geruch ‚unerträglich’ werden kann? Und der Erzähler tut ja so, als wäre dieses Verhalten als Vergleichsbasis kommunizierbar, als hätten seine Leser ähnliche Erfahrungen. Aus dem Wikipedia-Artikel zur Narzisse erfährt man zum Beispiel, dass diese Blume tatsächlich etwas mit 'Betäubung' zu tun hat: "Die Bezeichnung Narzisse leitet sich von dem griechischen Wort νάρκειν narkein ab, welches „betäuben“ bedeutet (vgl. Narkose). Die Dichternarzisse, die auch in Griechenland wächst, strömt tatsächlich einen sehr intensiven und betäubenden Geruch aus". Doch auch da wäre die Menge und die Zimmergröße zur betäubenden Wirkung zu beachten. Und was wäre umgekehrt an einem Feld von Lilien so ‚unerträglich’: Lilien sind schwach oder gar nicht duftend - und bei einem ganzen, dem Wind ausgesetzten Feld kann es ja nicht der olfaktorische, sondern müsste der optische Reiz sein, der dieses 'Zuviel des Schönen' so unerträglich macht. Es ist untertrieben, wenn man behauptet, dass beide Vergleiche in einer traditionellen Interpretationsform zu einem auktorialen Erzähler unübersehbar hinken würden: Hier versucht jemand, den unterirdischen, den maximal schlechten Vergleich aufzubieten - oder aufbieten zu lassen. Süskind hat diese Stelle also markiert! Denn was hier so unlogisch erscheint, folgt einer psychoanalytischen Logik. Die Narzissen tauchen in der erlebten Rede wieder auf, mit der Gedanken des Paters Terrier zur Geruchslosigkeitsthese der Amme wiedergegeben werden. Der Pater zitiert – ausgerechnet – Horaz, also jenen Schriftsteller, der vor allem in Klöstern eher als verlotterter Trunkenbold und Venusritter galt. „Es böckelt der Jüngling, es duftet erblühend die Jungfrau wie eine weiße Narzisse ...“? (vgl. S.21) Diese Verbindung erklärt, wieso zu viele Narzissen in einem engen Zimmer so unerträglich sein sollen: Der Herr Pater versammelt sich zu viele 'erblühende Jungfrauen' in seiner engen Klosterzelle, es sind Onaniephantasien des Paters, Schwierigkeiten mit dem Narziss oder dem ‚böckelnden Jüngling’ in sich, der von Zeit zu Zeit in der engen Zelle diese 'selbstverliebte', narzisstische Liebesform praktiziert. Das sie ihm unerträglich ist, ist auch kein Wunder: Onanie gilt ihm als Todsünde. Dass er seine sexuellen Schwierigkeiten für so transportabel hält, dass sie zum 'Narzissenvergleich' für alle taugen, ist eine Seite solcher unbewussten Vergleichsrichtungen: Schlimmer ist jedoch, dass er seine sexuelle Sünde auf die angebliche Kindsmörderin projiziert, die ja nachweislich Sex hatte - mindestens fünf Mal - und dafür den zur Sünde zugehörigen Tod zu erleiden haben soll - was dann im Gerechtigkeitsgefühl der Leser bisweilen ähnliche Wege einzuschlagen scheint! Wichtiger als diese Sünde ist jedoch die Übertragung, die sich im anderen Bereich dieses Vergleichs, dem ebenfalls unerträglichen Lilienfelde abzeichnet. Lilien sind Todesblumen, sind Bilder für Unschuld, für die Jungfrau Maria etwa, mehr aber noch für das unschuldige Kind, das ein jeder Mensch einmal war; das Lilienfeld, die unerträgliche Vielzahl dieser Blumen, ist also ein Bild für den Cimetière des Innocents, der das Leid der Armen und etwa das der unehelich geborenen Kinder in Paris zusammenfasst. Dieser Pater wäre als Christ und eben auch als Verwalter des „klösterlichen Karitativfonds“ (vgl. S.11) in hohem Maße gefordert: Doch er tut nichts, seine Klosterpforte bleibt den Armen gegenüber verschlossen – und vermutlich ist das Kloster eben auch an der Ausgabe der Taufscheine für die Kindsmordtransporte beteiligt. Scheinbar verlässt der Pater an dieser Stelle den Roman: Nachdem er diesen schreienden Teufel in seinem ganz persönlichen kleinen Kindertransport nur ans andere Ende von Paris, zu Madame Gaillard, transportiert hat, und wohl am eigenen Leibe spüren durfte, was diese Kindertransporte tatsächlich bedeuteten, vollzieht er eine unerhörte religiöse Waschung, die man nicht mit der heute üblichen Abendtoilette verwechseln sollte. Er will sich den Teufelskontakt wegwaschen. Dann „entschlief“ er (vgl. S.25): Er starb also! Und sein Tod eröffnet im Roman eine Reihe von angeblich von Gott gewollten Toden, die dem Muster folgen, dass der, der diesem Teufel auch nur im Geringsten Gutes tat, dafür von Gott gestraft wird. Das Muster gilt zum Beispiel nicht für die Amme, obwohl sie ihn genährt hat. Sie blieb verschont, weil sie ihn genau benannt und eben bei der für die Teufel zuständigen Instanz, eben bei dem Pater, abgegeben hatte. Es kann also im Falle des Paters nicht ausreichen, dass er ihn auch abgeschoben hat: Wenn man dieser Teufelslogik folgt, hätte er ihn umbringen müssen. Schon seine Mutter hatte dies also angeblich versäumt – und deshalb hat er sie angeblich mit seinem teuflischen ersten Schrei ermordet. Dieses neue Denken garantiert also, dass alles, was Grenouille jemals tat, angefangen bei einem unschuldigen ersten Schrei, Werk eines Teufels zu sein hat. Der ‚entschlafene’ Pater findet eben keine Ruhe, weil er seine angeblich von Gott gewollte Aufgabe nicht erfüllt hat, weil er das Kind nicht umgebracht hat. Er ist der Erzähler dieses Romans, der nun den angeblichen Fehler, dieses Kind nicht getötet zu haben, nachträglich im Erzählen vollbringen muss. Alle theologischen Überlegungen zu diesem Roman stehen unter diesem Signum: Ein Inquisitor klagt sich der Schwäche der Nächstenliebe gegenüber einem ‚Teufel’ an; doch seine tatsächlichen Sünden liegen eben im Bereich der Nächstenliebe-Versäumnisse, die er jeweils auf andere Figuren projiziert.

Ist Geruchlosigkeit das Zeichen einer ‚unbefleckten Empfängnis’?

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Wie nebenbei hat Süskind den Pater im Anschluss an die verräterische Horaz-Stelle eine andere Interpretation der Geruchlosigkeit eines Säuglings erörtern lassen: „Der Menschenduft ist immer ein fleischlicher Duft - also ein sündiger Duft. Wie sollte also ein Säugling, der doch noch nicht einmal im Traume die fleischliche Sünde kennt, riechen? Wie sollte er riechen? Duziduzi? Gar nicht!“ (S.21) Der Pater übersieht hier etwas: Dass Säuglinge ‚gar nicht’ röchen, weil sie noch völlig sündenfrei sind, widerspricht seiner Theologie, weil jeder Säugling von der Erbsünde betroffen wäre, also zumindest ein wenig Geruch aufweist. Der ‚geruchlose’ Säugling wäre demnach ein Kind ohne Erbsünde, ein ‚unbefleckt empfangenes Kind’. Zu diesem ‚Personenkreis’ gehört im Katholizismus (Konzil von Trient) nur die Mutter des Gottmenschen Christus, also Maria. Diesem theologischen Denken folgend wäre Grenouille ja das Gegenteil eines Teufels; er wäre ein von Gott ausgezeichneter Mensch. Dass ein solcher Mensch dann ein Serienkiller wird, wäre wohl nur dann denkbar, wenn Süskind etwa die Kleist-Allusion in seinem ersten Satz, die Verbindung Grenouilles zu Michael Kohlhaas als einem ‚der rechtschaffendsten zugleich und entsetzlichsten Menschen seiner Zeit’, in einer Konstruktion vom unschuldigen Serienmörder überbieten wollte. Gerade der erste Mord und vor allem der Schluss bieten Ansätze für dieses Denken. Süskind folgt in dieser Basisfiktion zu einem ‚toten’ allwissenden Erzähler dem postmodernen Gedankenmuster vom ‚Tod des Autors’. Die Denksysteme dieses ‚toten Denkens’ haben in Formen überlebt, die eben auch die Gegenwart betreffen: Wer in diesem Roman also postmoderne Gedankenstrukturen untersuchen möchte, sollte den Kernbegriff dieses Denkens, den Wechsel der Epistemen oder der Denksysteme, nicht übersehen. Hier werden eben in Anachronismen Konflikte zwischen einem unbewussten, für selbstverständlich gehaltenen modernen Denken und dem Denken des 18. Jahrhunderts provoziert. Neben den auffälligen Anachronismen wie etwa dem „Karamel“ betrifft diese Zugehörigkeit zu einem nicht mehr verstandenen Denken oder Denksystem gerade die selbstverständlich scheinenden Begriffe: Die Begriffe „Kind“, „Mann“ und „Frau“ in dieser Zeit sind in hohem Maße von den gleichlautenden modernen Begriffen unterschieden, weil sich die Lebensverhältnisse grundsätzlich geändert haben.

Madame Gaillard – und das Findelkinder-Problem

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Die zweite Figur, die der Erzähler aufs Gründlichste denunziert, ist dann Madame Gaillard. Süskind hat diesen Namen wohl in Analogie zum Abbé Gaillard gewählt, der etwa 80 Jahre später, also im Jahre 1837, die Reformen in den Waisenhäusern beschrieb und die ersten verlässlichen Statistiken zum Überleben solcher Kinder geliefert hatte. Er ist ein heimlicher klerikaler Gegenspieler seines scheinbar so gottesfürchtigen Erzählers, der – als Fondsverwalter – nur die völlig falschen Rechnungen präsentiert. Süskind übertreibt die anzusetzende moralische und karitative Leistung dieser Figur maßlos, um dem Leser gegen die Denunziationen zu dieser Frau den Weg zu zeigen: Seine Madame Gaillard versorgt jeweils zwei Dutzend Kinder, von denen in strengen Wintern bisweilen zwei sterben. Als errechnete Lebensleistung zu diesem Ein-Frauen-Waisenkinderhaushalt ergäbe das etwa fünf Kindergenerationen, also insgesamt 120 überlebende Kinder - die sie vor dem allzu sicheren Tod im Waisenhaus oder eben den Rouen-Transporten gerettet hätte. Sie behandelt alle Kinder gleich: Also betreute sie auch die anderen in etwa so lange, bis sie, wie Grenouille, mit acht oder neun Jahren als arbeits- und überlebensfähig gelten konnten. Und es müsste eigentlich jedem Leser auffallen, dass die Idee, vierundzwanzig Kinder aus Geldgier zu versorgen, hirnrissig ist. Sie hat ja keine anderen Geldquellen als ihre Konkurrenz: Die Stadt dürfte ihr pro Kind zahlen, was die Waisenhäuser mit ihrer 10-prozentigen Überlebensquoten eben auch bekommen - und im Text wird das Kloster der Filles de la Croix als unterstützende Instanz genannt. Wie erklären sich ihre Überlebensquoten, die sogar besser sind, als etwa die der ehelich geboren Kinder der Zeit? Angeblich ist diese Frau nur geizig, legt sich die Hälfte des Kostgeldes für sich selbst und für harte Zeiten zurück, gibt den Kindern dünnste Suppen und verdorbene billigste Nahrungsmittel (vgl. S.27) – doch so kann man bestenfalls erklären, warum in staatlichen und kirchlichen Waisenhäusern neun von zehn Kindern starben. Bei einem völlig anderen Thema, als es darum geht, die ersten Geruchserfahrungen eines Geruchsgenies von einem normal-sprachlichen, auf theoretische und letztlich auch religiöse Erfahrungen abzielenden Lernen abzugrenzen, wird dann deutlich, dass es in den vom Erzähler unter Geiz-Vorzeichen dargestellten täglichen "drei Mahlzeiten - und keinen Happen mehr" frische Milch, Fisch und Gemüse – und als Seelennahrung darüber hinaus Blumen - aus dem eigenen Garten gab. Im Winter diente Holz als Heizmaterial (vgl. etwa S.32); jedes Kind hatte ein eigenes Bett – sodass die normalen ‚Bastarde’ genügend Decken finden, um einen ‚Bastard der Kindsmörderin’ ersticken zu wollen. Nicht überlesen werden sollte auch, dass Madame Gaillard in Zusammenarbeit mit dem genannten Kloster und einer Kirche sogar für einen Schulbesuch all ihrer Kinder sorgt. Lange vor einer allgemeinen Schulpflicht werden bei ihr also sogar die, die – wie Grenouille – als ‚schwachsinnig’ galten, betreut: Der Schwachsinn erklärt sich allerdings wiederum eher daraus, dass auch hier der "Bastard der Kindsmörderin" gequält wurde. Das Arbeitspensum, das sich für diese Betreuung sehr kleiner und fast in keiner Weise arbeitsfähiger Kinder ergibt, ist also geradezu übermenschlich: Drei Mahlzeiten vorbereiten und begleiten, die Kleinen dreimal am Tag windeln, bei der Wäsche und der Reinigung des Hauses könnten die Größeren vielleicht helfen, doch der Garten, die Gespräche zu Vermittlungen in Arbeitsverhältnisse usw. usw. sind doch Basis solcher Erfolge. Der Autor legt eben nur einen Grundstein für diese Umwertung eines verzerrten Bildes: die übers Maß guten Überlebensquoten. Alles andere muss der Leser sich gegen die Verzerrungen des Erzählers zusammenreimen, der ein solch unerhörtes, von Süskind fiktional eingesetztes Musterunternehmen im Rahmen seiner Zeit durch das Maß der selbstverständlich gewordenen Fortschritte der Moderne denunziert. Hat nun tatsächlich Gott diese Frau dafür bestraft, dass sie, die zeit ihres Lebens soviel Nächstenliebe praktizierte, zwischenzeitlich auch dem vom Erzähler verteufelten Grenouille geholfen hatte? Einerseits ist in dieser Fiktion der Verlust ihres kleinen Vermögens und ihrer Rente durch die Assignaten-Inflation begründet, die vor allem von bürgerlichen Spekulanten ausgelöst worden war, andererseits jedoch soll Madame Gaillard dann, nach eines strafenden Gottes Willen ins Hôtel Dieu geraten sein, an jenen Ort also, den sie am meisten in ihrem Leben fürchtete, weil damals schon ihr Mann dort an der Cholera gestorben war – und der Leser ergänzen darf, dass man ihr verboten hatte, ihn zuhause zu pflegen. Im Falle von Männern gab es also bei solchen Zwangseinweisungen in dieses Todeskrankenhaus wenigstens noch das Argument einer Ansteckungsgefahr; Witwen und alte Frauen jedoch wurden zwangseingewiesen und in Gemeinschaftsbetten geradezu wie menschlicher Müll entsorgt. Das gilt allerdings längst nicht mehr für die Zeit, als Madame Gaillard, im Jahre 1799, an diesen Ort kam. Denn da war das Hôtel Dieu zu einem Musterkrankenhaus geworden, mit Einzelbetten, hellen, gut gelüfteten Zimmern und geregelten Wäschewechseln – und der bestmöglichen medizinischen Versorgung der Zeit. Pierre-Joseph Desault und sein Schüler Marie François Xavier Bichat begründeten etwa eine neue Form der Chirurgie, die sich in der Sociéte Médicale d´Émulation de Paris, einer wissenschaftliche Vereinigung progressiver Ärzte manifestierte. Corbin beschreibt ausführlich, dass gerade dieses Krankenhaus eine Vorreiterrolle in der Verbreitung der neuen Hygienevorstellungen innehatte. Und ein Verscharrtwerden in einem Massengrab gab es auch nicht mehr. Einen ähnlichen Fortschritt gab es eben auch im Bereich der Friedhöfe: Madame Gaillard wurde nicht in einem „Massengrab“ beerdigt; auf dem „neubegründeten Friedhof von Clamart“ (vgl. S.40) befanden sich Einzelgräber – und gerade von den vorher so pietätlos verscharrten Ärmsten der Armen wurde dies als unerhörter Fortschritt empfunden. Auch von dieser Entwicklung erscheint im Text nur das unkommentierte, zu Fehlannahmen verführende Schlüsselereignis: In einer sehr aufwändigen Form wurde der Cimetière des Innocents noch „am Vorabend der Französischen Revolution“ (vgl. S.7) geschlossen und der pietätlosen Menschenverachtung, die sich mit diesem Ort verband, ein Ende bereitet. Madame Gaillard wird als innerlich tote „Mumie eines Mädchens“ beschrieben, sie wirke ‚knapp dreißig Jahre alt’, „zugleich“ aber doppelt und dreimal, ja hundertmal so alt: Das wären dann ‚dreitausend’ Jahre. Durch diese expressionistische Bildtechnik lässt sich die Figur buchstäblich ‚mit einem Schlag’ denunzieren: Durch den Schlag ihres Vaters mit dem Feuerhaken sei sie ‚gefühllos’ und ‚innerlich abgetötet worden’ (vgl. S.25). Solche Eigenschaftszuschreibungen, die es bei einem Menschen nicht geben kann, eignen sich allerdings bestens, einen Menschen zu einem Unmenschen zu machen: Solche Bildtechniken sind unter anderem charakteristisch für nationalsozialistische Expressionstechniken - Süskind scheint sich also die Frage gestellt zu haben, ob es möglich ist, einen Menschen 'mit einem Schlag' zu einem Unmenschen zu machen - und siehe da: Die meisten Interpreten sehen in dieser Denunziationsform einer Heiligen nur die alles erklärende Metapher. Der Hintergrund dieser Beschreibung dürfte allerdings sein, dass diese junge Frau tatsächlich ein eher starres, um Beherrschung bemühtes Gesicht gezeigt hat, als Pater Terrier, die spätere ‚Mumie eines Erzählers’, ihr dieses Kind, das sich fast zu Tode geschrieen hatte, überbrachte und es möglichst schnell loswerden wollte. Sie versorgt alleine zwei Dutzend – doch dieser Pater und dieses Kloster ist mit der Betreuung eines einzigen Kindes überfordert. Und nicht einmal die Windel hat man gewechselt... Solche kühnen Bilder des Erzählers sind also durchaus rückbezüglich: Ein Allwissender, der nicht weiß, wie man ein ganz gewiss nicht verwöhntes Kind beruhigen kann!

Grimal – oder die wirtschaftlichen Voraussetzungen eines Gerberbetriebs

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Auch der Gerber kommt sehr schlecht weg: Ist er ein Arbeitgeber, der für gefährliche Tätigkeiten vor allem „arbeitsloses Gesindel, Herumtreiber oder eben herrenlose Kinder“ sucht (vgl. S.37), der Kinder „bei der geringsten Unbotmäßigkeit zu Tode“ prügelt? Dann ‚vergisst’ der Erzähler, Belege dafür zu erwähnen: Grimal wird nicht einmal prügelnd gezeigt – und keiner seiner Arbeitskräfte scheint in der Zeit zu sterben, in der Grenouille dort arbeitet. Der Haken an dieser Geschichte ist, dass Grimals Betrieb sehr groß ist: Der Meister hat beinahe alle handwerklichen Arbeiten delegiert; er kümmert sich – wie die Verhandlungsgeschichte mit Baldini indirekt zeigt – um Aufträge, die Finanzen und um die Qualitätskontrolle. Die Gerberei war damals sehr zeit-, kapital-, personal- und raumintensiv; erst nach Jahren war das in Lohgruben hergestellte Leder gereift. Grimals Betrieb in der 600 000-Seelen-Großstadt Paris floriert – 16 Stunden lang arbeitet eine recht große Zahl von Gesellen und Hilfskräften im Sommer, im Winter acht. Vor der Entdeckung von Gummi und Kunststoff war die Gerberei eine Schlüsselindustrie des 18. Jahrhunderts Dass ‚man’ so lange und unter solch großen Infektions- und anderen Gefahren arbeitet, dürfte jedoch im Betrieb eines ‚Patron’ – das ist der französische Terminus für den ‚väterlichen Arbeitgeber’ – nicht bedeuten, dass ein achtjähriges Kind so arbeiten muss. Die Gesellen behandeln ihn so – eben weil er ‚der Bastard der Kindsmörderin’ ist: Mit anderen Kind-Arbeitern würden sie nicht so verfahren. Grimal bekam davon nichts mit: Das ist die einzig mögliche Erklärung für seinen Tod! Ein erstes Mal fiel ihm dieses Kind wieder auf, nachdem er es von Madame Gaillard für „fünfzehn Franc Provision“ (S.38) - recht teuer, wohl weil er diesen Waisenkinderbetrieb unterstützen wollte – erworben hatte. Grenouille hatte Milzbrand bekommen. Da erst sorgte vermutlich Grimal selbst dafür, dass er nicht mehr „auf der nackten Erde“ schlief – und dieses Verhalten ist in einem an Qualität orientierten Betrieb, in dem Lumpen und fehlerhafte Lederstücke massenhaft vorhanden sein dürften, wohl auch nur dadurch zu erklären, dass Grenouille vom Mordversuch der Kinder der Madame Gaillard her eine Aversion gegen ein Schlafen in einem Bett und gegen diese Arme-Leute-Bettwäsche hatte, mit der man ihn damals fast erstickt hätte. Dass er anfangs eingesperrt wurde, war wohl auf seine Schulschwänzereien zurückzuführen: Das dürfte Madame Gaillard Grimal geraten haben. Erst nach der Milzbrand-Geschichte wurden ihm begrenzte Freiheiten eingeräumt. Warum also besäuft sich Grimal so sehr, dass er in den Fluss stürzt? Der Erzähler bietet als Motiv an, er habe mit den „zwanzig Livres“, die Grimal sofort und ohne Feilschen akzeptierte, das „Geschäft seines Lebens“ (vgl. S.113) gemacht. Der heutige Leser vermutet, dass die Livre dann eine höhere Währungseinheit als der Franc sei: Doch die Bezeichnungen sind Synonyme – und solche Täuschungen mit falschen Rechnungen weisen indirekt wieder auf den ‚Fondsverwalter’ im Kloster Saint-Merri, eben auf Pater Terrier, zurück. Mit 15 Franc Provision ist das achtjährige Kind wohl bewusst teuer, mit 20 Franc oder Livres hingegen ist der sich bewährt habende Arbeiter bewusst sehr billig ‚eingetauscht’ worden. Geld spielte – wie gerade die folgende Sauftour in teuren Lokalen zeigt – für Grimal überhaupt keine Rolle; er machte sich Vorwürfe, dass er diesem Kind ein sehr schlechter ‚Patron’ war. Weil er von solchen, jeweils mit Wein verbundenen Verhandlungen her, sehr trinkfest war, dürfte diese Sauftour ein Vielfaches dieses ‚Geschäftes des Lebens’ gekostet haben.

Grenouilles erster Mord

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War Grenouilles erstes Opfer hübsch? Ein Teil dieser Frage ist vorweg beantwortet: Ihre sehr arme Familie, die in der ‚Straße der Sümpfe’, der Rue des Marais, wohnte, hielt sie nicht dafür. In diesem flussnahen Bereich, in dem sich bei Regen der ganze Kot und Dreck der Stadt versammelte, wohnten nur die Ärmsten der Armen im dritten Stand – und sie ist sogar unter ihnen ein Aschenputtel: Ihre „weißen Arme“ bedeuten, dass sie kaum an die Sonne darf – und während alle anderen zum Feuerwerk anlässlich des Jahrestages der Thronbesteigung Ludwig des XVI zogen, musste sie zuhause bleiben, dort zwar keine Erbsen sortieren, doch Mirabellen entkernen. Sie hat rote Haare, ein sommersprossenübersprenkeltes Gesicht – und ‚man’ gestand ihr ein „graues Kleid ohne Ärmel“ (vgl. S.55 f.) zu. Ansonsten gewinnt dieses rothaarige Aschenputtel eher über eine Beschreibung, die sehr an das Hohelied der Bibel erinnert. Das Verhalten des Mädchens während dieser Mordszene will weder zur Erzählerbeschreibung, noch im Geringsten zu einem Mord passen: Der Erzähler beschreibt ein „banges Gefühl“ – doch als nächstes legt sie das Messer, ihre einzige Möglichkeit sich zu wehren weg. Sie sei „starr vor Schreck“: Diese Starre müsste sich spätestens dann lösen, wenn Grenouille ihren Hals umfasst – doch: Sie versuchte keinen Schrei, rührte sich nicht, tat keine abwehrende Bewegung. (S.56) Es ist ihr ‚himmlischer Bräutigam’, der sie hier besucht, ihr Märchenprinz: Sie gibt sich ihm hin! Mord als die Kurzschlussform einer Liebe bis zum Tode? Die Szene erinnert entfernt an Kleists Konstrukt einer unbewussten Vergewaltigung in der Marquise von O, an den berühmten Gedankenstrich. Süskind überbietet es: Er hat diese sehr problematische Szene mit einem hohen, geradezu surrealistischen Aufwand vorbereitet: Es ist ‚der Himmel’, der diese Liebenden zusammenführt. Ausgerechnet im ‚Schwefel-, Öl- und Salpetergestank’ des Feuerwerks wird hier eine ‚religio’, eine himmlische Liebesverbindung, entwickelt, die diese beiden Außenseiter verknüpft – und von der Grenouille nur ‚das Duftband’ wahrnimmt, das bei ‚weniger als einem Duftatom’, also im Nichts, beginnt. Dass Menschen sich lieben, dass diese Szene ihm ein Paradies erschließen könnte: Er begreift es nicht. Er reagiert wie ein Kind, das das greifen will, was es nicht begreift: So bringt er, in einer kindlichen Unschuld, fern aller sexuellen, fern aber auch aller zwischenmenschlichen Liebeswünsche – denn woher sollte er sie kennen? - dieses Mädchen um, und bemerkt es in seiner Geruchsergriffenheit wohl überhaupt nicht. Und in der gleichen Unschuld wird er dann, als geniales Künstlerkind in seinem Medium, dem des Geruchs, die hier entstandene Konstellation eines perfekten Geruchs, die sehr viel mehr war als das, die Konstellation der toten ‚Wunderschönen’ (Mirabella) inmitten der Mirabellenkerne in seinem Parfum nachbilden – und erst dort merken, dass er alles, was seinem Leben Wert und Sinn hätte geben können, für diesen Abglanz davon geopfert hatte.

Baldini - und die Geschichte der Parfumerie

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Süskind hat eine zeitgenössische Parfumtechnik und Parfumgeschichte in hohem Maße in seinen Roman eingepasst. In seinem Parfumeur Baldini konzentrieren sich sehr unterschiedliche Entwicklungen in der Geschichte der Parfumerie. Baldinis frühe Erfolge basieren darauf, dass er, als Italiener, bestehende Zunftrechtsregelungen am Pariser Hof missachtete. Mit einem Bauchladen und einer Unmenge von Kosmetikartikeln verdrängte er auf der Basis der bereits damals zweihundert Jahre alten Erfindung Frangipanis seine Konkurrenten in diesem eng begrenzten Markt der Adligen und reichen Bürger von Versailles und Paris. Frangipani hatte Alkohol als Lösungsmittel verwandt – Parfums wurden dadurch komponierbar: Hier entstanden Rezepte für genaue Dosierungen, die unter anderem eben auch eine Unterteilung des Parfums in Kopf-, Herz- und Basisnote ermöglichten. Baldini indes war kein Kompositeur: Er hatte ein Rezept übernommen und eines gekauft - und dennoch große Anfangserfolge, weil die beiden Parfums wohl sehr viel besser waren, als nicht mit Lösungsmitteln hergestellten Duftstoffgemische. Diese Erfolge verschafften Baldini die Möglichkeit, im Stadtzentrum, auf dem Pont au Change, einen festen Laden zu errichten. Doch die Strategie, alle möglichen Wünsche erfüllen zu können und auch noch die Ingredienzien selbst herzustellen, verwandelten diesen Laden ins das beschriebene Düftechaos. Baldinis Laden ist ein Beispiel dafür, dass eine vormals erfolgreiche Strategie dann, wenn sie nicht reformiert wird, zu einem Geschäftshindernis wird. Pélissier, sein neuerdings erfolgreicher Konkurrent, repräsentiert eine fortschrittlichere Form der Herstellung und des Vertriebs von Parfums im nach wie vor noch engen Markt. Als Sohn eines Essigsieders ist er einerseits gewohnt, ein Produkt, das wenig Unterschied bietet, durch Werbung aufzuwerten: Ein Pélissier’scher Essig war wohl schon durch wohlklingende Namen als etwas Besonderes angepriesen worden. Zudem ist er gewohnt, in der Lagerung effektiver zu arbeiten: Der Essigsieder leert seine Lager, die Produktion des Vorjahres wird jeweils schnell vertrieben. Und als Nichtfachmann hält er sich überhaupt nicht mit einer eigenen Herstellung der Ingredienzien auf: Er kauft wohl in den Zentren, die sich auf die Herstellung hochwertiger Parfumbestandteile spezialisiert haben. Grasse und der in diesem Buch beschriebene Betrieb von Madame Arnulfi ist hier ein Muster für die Arbeitsteilungen in dieser neuen Stufe der Parfum-Herstellung. Hier wie dort, in der Herstellung wie in der Kombination der edelsten Duftstoffe konzentriert man sich auf das Wesentliche. Bei Pélissier ist dies eben die Komposition eines nur für eine Saison jeweils neuen Parfumsortimentes - denn auch die Kundenseite ist nun Besseres gewohnt und verlangt jeweils Neues. Baldini kann da nicht hinterherkommen: Und so überlegt er in der Deutung eines angeblichen Gotteszeichens – die untergehende Sonne lässt „eine gleißende Flut von purem Gold“ gegen die Strömung auf ihn zufließen – nach Italien zurückzukehren, um dort ‚das Gold’ eines ruhigen Lebensabends genießen zu können. Die Interpretation dieses ‚Gotteszeichens’ ändert sich jedoch, als Grenouille zu ihm kommt – und adhoc ein Meisterstück vollbringt, das ihn zum besten Parfumeur aller Zeiten machen könnte. Er kopiert und verbessert ein gegebenes Parfum. In der Folge wird er, gebremst von einem die Formeln mitschreibenden Meister, innerhalb von drei Jahren 600 Spitzenparfums entwickeln: Dieser Vorrat würde reichen, um einem Haus Baldini (oder Baldini-Grenouille?) bis in die Gegenwart die Marktführerposition zu sichern. Süskind übertreibt hier maßlos – Sophia Grojsman, die als eine der weltbesten Parfumeurinnen gilt, hat etwa 50 erfolgreiche Parfums und etwa acht Spitzenparfums entwickelt. Grenouille überbietet also die nächste Stufe in der Geschichte der Parfumerie, die Entwicklung von Parfums mit Chemielabor-Methoden und –Analyseverfahren. Umgekehrt hat die Chemie zur Entwicklung ihrer Methoden in der Zeit der Aufklärung auch ihre Anleihen bei solchen Handwerken gemacht. Es ist also notwendig, dass Süskind, um diesen Rahmen einer Parfumeriegeschichte nicht zu sprengen, ein solch zukunftsträchtiges Haus Baldini-Grenouille im Keim ersticken muss. Dazu verbindet es diese erfundene Geschichte mit der realen Geschichte des Pont au Change.

Kritische Anmerkungen

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Sind Märchen „verlogen“?

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Welchen Ertrag bringt die Frage, ob etwas „wirklich“ so sein kann, wie es der Erzähler behauptet? Diesen Ertrag gibt es dann, wenn Ironie im Spiel ist, d.h. wenn der Autor etwas ganz anderes mitteilen will als der Erzähler (z.B. dass Grenouille eigentlich „ein armes Schwein“ ist, mit dem man eher Mitleid haben müsste, als dass man ihn als „Scheusal“ verachtet, und dass eigentlich die dargestellte Gesellschaft Verachtung verdient).
Die Frage danach, ob Grenouille „wirklich“ geruchlos ist, hat aber mit diesem Komplex wenig zu tun (≠ ironische Form zu sagen: „Und er hat doch einen Eigengeruch!“).

Einschub Scherf: Dann sollte man - beim Punkte Ironie - wahrnehmen, dass Süskind für die Verkündung dieser Geruchlosigkeitsthese die Geruchsstümperin hoch zehn antreten lässt. An einem Punkt bei den Kindern riecht die Amme 1. Nichts - und erklärt das geruchsimpotent aber - sozusagen - sprachgewaltig, zu Ammenmärchen fähig, als "glatter Stein", 2. streng Säuerliches - der bayrische Pariser nennt das "Topfen" - und 3. angenehm Milchiges, die "in Milch schwimmende Galette": Man sollte diese Details doch wenigstens zur Kenntnis nehmen, bevor man hier glaubt, große Ironie- und Wahrheit-von-Literaturthesen gegen meine Interpretationen bemühen zu müssen: Sie sagen schlicht, dass es so, wie Sie es hier in Ihrem Ironie- und 'Weder-Wahr-noch-Falsch'-Krempel unterbringen wollen, nicht (!!) sein kann! Dass fiktionale Aussagen weder wahr noch falsch seien, ist - auch wenn ein Logiker wie Frege es behauptete - übrigens falsch!

Die Antwort ist eigentlich ganz einfach: Die Fiktion, Grenouille sei geruchlos, ist für die Erzählung eine tragende Säule, wie auch die Fiktion eines Menschen, der über einen besseren Geruchssinn verfügt als ein Hund, und die Fiktion, Frauen, die noch nie von einem Mann penetriert worden sind (gemeinhin „Jungfrauen“) röchen anders als Frauen mit sexueller Erfahrung.
Die Frage nach der „Wahrheit“ dieser Aussagen stellt sich gar nicht, weil Märchen (und die Handlung von Das Parfum ist auch märchenhaft, trotz der genauen Zeit- und Ortsangaben) ihre eigene Wahrheit in sich bergen.
Schließlich hängt auch die Wirksamkeit des Jungfrauenkults nicht von der Antwort auf die Frage ab, ob es Frauen geben kann, die als Jungfrauen Mütter werden: In gewisser Weise erscheint die eigene Mutter immer als asexuelles Wesen, obwohl sie es in der Realität nicht sein kann.--CorradoX, 10:42, 4. Dez. 2011 (CET)Beantworten

„Ein Mann, der erst mit 25 Jahren bemerkt, dass er keinen Eigengeruch hat, bildet sich das wohl bloß ein.“

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Wirklich?
Grenouille ist ein „Geruchs-Genie“, das schon früh alles mögliche an Gerüchen in sich aufsaugt und bereits als Kind zu katalogisieren versteht. Das ist aber die höchste Stufe der Abstraktion, zu der er in der Lage ist. Die Abwesenheit von Gerüchen kann er sich nicht vorstellen. Folglich erfährt er erst bei seinem Weggang aus Paris, mit 18 Jahren, dass es so etwas wie relative Geruchslosigkeit, insbesondere die Abwesenheit des Geruchs von Menschen, gibt.
Auch zu der „Einsicht“, dass er selbst keinen Geruch hat, kommt er nicht durch logische Schlussfolgerungen. Mit der Kategorie „mein eigener Geruch“ kommt er erst durch einen Traum in Berührung.
Abgesehen davon, dass (s.o.) der fehlende Eigengeruch zum Kern der Geschichte Süskinds gehört wie die Schattenlosigkeit Schlemihls zum Kern von Chamissos Geschichte, muss man nicht den Verdacht haben, hier handele es sich um ein „Ammenmärchen“ – Grenouilles „Schwachsinn“, der noch bei der Aufforderung des Todeskandidaten, an Gott zu denken, zum Ausdruck kommt (den er naiv-arrogant für einen „Stinker“ hält), reicht als Erklärung dafür völlig aus, warum er sich erst spät des Nicht-Vorhandenseins eines Eigengeruchs bewusst wird. --CorradoX, 11:28, 4. Dez. 2011 (CET)Beantworten

Stimmt, irgendeiner muss hier blöd sein: Aber wenn Sie Grenouille Schwachsinn zugewiesen sein lassen, sollten Sie auch merken, dass zum Beispiel die Phantasien auf dem Berge - mit Eichendorff, mit der Schöpfungsgeschichte, mit Bildbereichen wie dem gepflegten Weinkeller - auch nicht in Ansätzen aus diesem - nicht ganz schwachsinnigen, aber eben: ungebildeten - Kopf stammen können? Und dann kommt ja dieser famose Traum, der eben gerade die 'Gottähnlichkeit' des Geruchsweltenschöpfers im Kern betreffen, ihr den Garaus machen sollte... Was ist er denn jetzt? Schwachsinnig? Übermensch à la Nietzsche und Krönung der anfangs angedrohten 'Gottlosigkeiten' in der Naturgenie-Version? Der allwissende, die Innenwelt seines 'schwachsinnigen' Erzählthemas so genau kennende Erzähler - geht irgendwie nicht, oder?

Na ja, die Blöden sterben dann auch in der Folge nicht aus: Grenouille kommt - übermenschenmäßig - vom Berge und erzählt, blöd, wie nur Schwachsinnige blöd sein können, in Montpellier, Räuber hätten ihn sieben Jahre lang ernährt, weil der gemeine Räuber dergleichen tut... Und eine ganze Stadt glaubt ihm, wie der allwissende Erzähler zu wissen glaubt... Gibt es eigentlich irgendetwas, was Ihre seltsamen Ironiebegriffe anfressen könnte, weil es so ironisch ist, dass hier der 'allwissende Erzähler' als Quelle solcher Blödheiten ausgemacht werden könnte??


Habe ich das so geschrieben, dass sich Grenouille das bloß einbilde? Kann eigentlich nicht sein!

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Es ist schon seltsam, dass sich nach Jahren noch irgendjemand auf meiner Benutzerseite für diese halbe Zusammenfassung meines Buches interessiert. Mir wäre lieb, Sie würden mein Buch lesen, das es in den meisten Bibliotheken gibt - weil ich mich arg oft in verschiedenen Bereichen wiederholen muss:

1. Die Bezeichnung, dass die Geruchlosigkeit ein "Ammenmärchen" sei, beruht auf der fiktionalen, also romaninternen Tatsache, dass die Amme das als erste erzählt hat, dass sie sich in einer Geruchsprobe als völlig unfähig erwiesen hat - ohne dass dies den meisten ach so kritischen Deutschlehrern auffällt - und dass damit eben sehr viel mehr verbunden ist: Diese Geruchlosigkeit ist 'Teufelszeichen', ist die Basis einer durchgehenden Verteufelung Grenouilles. Diese Zeugin einer Geruchlosigkeit ist also mehr als zweifelhaft!

2. Ob Grenouille tatsächlich geruchlos ist, ist dann - eben auf der Basis der Plomb-du-Cantal-Geschichte - eine ernsthafte romaninterne Frage: Aber dann sollte man bemerkt haben, dass auch für diesen Fall die 'Verlängerungen' ins Teuflische oder Unmenschliche via religiöse oder mystische Aufladung dieser an sich nicht nachweisbaren Tatsache nur in einem Gegensatz-Sinne zum 'Ammenmärchen' möglich ist. Grenouille ist dann ein besonderer, eben geruchloser Mensch, weil er ein Engel, ein nicht von der Erbsünde betroffener Mensch ist - das war Pater Terriers erste Folgerung, als er noch das Ammenmärchen als unmenschlich und verteufelnd ablehnen wollte. In meinem Buch habe ich das ausgeführt: Grenouille opfert sich am Schluss, wie Christus nimmt er eine Schuld auf sich, die nicht die seine ist - und lässt sich eben in einer barbarischen Kommunion auffressen, um das Parfum, die Wunderwaffe, von der jeder Faschist träumen mag, aus dieser Welt zu schaffen.

2. Zu Ironie und so weiter: "Das Parfum" ist ein Deutschlehrer-Verarsche-Buch! Es ist nicht unbedingt so, dass Süskind das gewollt hat - so etwas ist jedenfalls dabei herausgekommen. Da gibt es eben die Deutschlehrer, die zum Beispiel die Geruchlosigkeit als Basis der Geschichte mit Zähnen und KLauen verteidigen[1], aber nicht merken, dass sich hier eine ganz simple faschistische Botschaft des Erzählers dahinter verbirgt: Schlagt die tot, die ihr nicht riechen könnt! Bevor sie zum Beispiel Massenmörder werden! Und der liebe Gott hat all die, die diesem Typ, den man nicht riechen kann, weil er der Teufel ist, ja bestraft!

Soll ich jetzt hierhin schreiben, dass Sie mit ihren kritischen Anmerkungen ihre heimlichen Faschismustendenzen[2] verteidigen wollen? Das ist eben der Kern dieses Experiments: Es ist deswegen ein Bestseller geworden, weil dieser Erzähler alles auffährt, was der schwarzen Seele Spaß macht - und doch nur selbst ein Mörder ist. Tiervergleiche, der geruchlose Mensch, der einer 'nichtmenschlichen' Rasse angehört, ... das ist doch Goebbels life: Die Juden müssen vernichtet werden, weil sie nicht so sind wie andere Menschen. Sie sind weder gut noch böse - sie sind nur anders, wie ja auch Zecken nur anders sind - und ihrer Natur folgen. Dass es hinter den 'märchenhaften' und 'schlehmil'-parallelen Konstruktionen dieses Buches eben diese üble Erzähler-Lesart gibt, dass hier ein Faschist und Inquisitor seine besonderen Menschen bastelt, ein Mörder in der anderen Lesart von "Geschichte eines Mörders", der am historischen Basisverbrechen dieses Buches, dem alljährlichen Kindsmord an Tausenden von Pariser Kinder beteiligt war, und nun als Wiedergänger, der nicht sterben konnte, diesen Roman schrieb - das sollten Sie schon wahrgenommen haben, wenn Sie meine Methoden kritisieren. Und wie gesagt: Ich hatte mein Buch nicht "Der verführte Leser" sondern "Der verarschte Deutschlehrer" nennen sollen, vielleicht wäre es dann gelesen worden! Rainer Scherf -- SchR 13:03, 24. Dez. 2011 (CET)Beantworten

Schon Marcel Reich-Ranicki hat festgestellt, dass es in dem Roman sehr wohl um Faschismus geht, indem ein (wie auch immer einzuordnender) ungewöhnlicher Mensch die Massen bei ihrem Unbewussten zu packen und zu verführen verstehe. ([1])
Bereits 2002 hat Claudius Seidl die anmaßende Fehlinterpretation vieler Kritiker aufgegriffen:
„War es eigentlich auch ein Skandal, daß da einer, der 1949 geboren wurde, sich hineinbohrte in eine Vergangenheit, die nicht die eigene war; daß er die große Sperre, welche es doch noch immer gibt zwischen der deutschen Gegenwart und allem, was weit vorher geschah, einfach niederriß oder jedenfalls ignorierte; daß er also von einer Vergangenheit erzählte, ohne von deutscher Schuld zu erzählen?“ ([2])
Von den so rezipierten Kritikern wird Süskind allen Ernstes dafür getadelt, dass er sich mit der Verführbarkeit von Franzosen im 18. Jahrhundert anstatt mit der der Deutschen 1933-1945 befasst habe (quasi nach dem Motto, man solle sich lieber mit dem Balken im eigenen Auge statt mit dem Splitter in den Augen anderer beschäftigen).
Überall besteht akute Ausrutschgefahr. Und wenn Brechts Diktum: „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.“ wahr ist, dann würde es an ein Wunder grenzen, wenn es nicht in den Tiefen eines jeden Europäers Faschistoides zu finden gäbe. Denn dass Süskind die dunkle Seite der Aufklärung ausleuchtet, die ein gesamteuropäisches Phänomen ist, muss man nicht erst durch kunstvolle Interpretationen aus dem Text herausarbeiten. Schlimm finde ich hier allenfalls, dass Schüler sofort glauben, dass die Gier, deren Zeuge wir heute in besonderem Maße werden, tatsächlich „allgemein menschlich“ sei, sich die Frage also gar nicht stelle, ob die Menschen im 18. Jahrhundert wirklich so gewesen seien, wie Süskind sie darstellt. --CorradoX 10:08, 25. Dez. 2011 (CET)Beantworten
PS:
  1. Mir persönlich ist es völlig gleichgültig, ob Grenouille „tatsächlich“ völlig geruchslos ist. Da es aber keine völlig geruchlosen Menschen gibt, ist die Aussage, er sei es, entweder eine Lüge oder nur in einem „nicht realistischen Sinn“ wahr. Genau dieser Ansicht scheinen Sie selbst auch zu sein, indem Sie von „Lüge“, „dem Teufel“ und von einer „Christusgestalt“ sprechen. Letzteres verweist auf Mythen.
  2. Die bestreite ich gar nicht. Schließlich kann sich ja eine kulturelle Tradition nicht in Nichts auflösen, von den Abgründen der menschlichen Natur ganz zu schweigen. Aber Ihr Fanatismus ist mir ehrlich gesagt auch nicht geheuer.

Der Süskind-Artikel

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Es ist schlicht ein Interpretationsproblem: Reich-Ranicki sollten Sie hier nicht unbedingt zum Kronzeugen aufrufen, genausowenig wie den Menschen, der behauptet, dass es gut sei, dass Süskind sich ausnahmsweise nicht mit Faschismus-Problemen auseinandergesetzt hat...

Der lügende Ich-Erzähler wirft eben alles (oder sagen wir: beinahe alles!) über den Haufen, was die Deutschlehrer auf allen Ebenen mit gesicherter Literaturwissenschaft verwechseln. Das Problem dabei ist, dass es eben bei der ironischen Äußerung eine neue Eindeutigkeit jenseits der Belegbarkeit im Text gibt. Tertium non datur: Grenouilles Mutter ist keine Kindsmörderin - und Sie sollten die von daher resultierende Schieflage des Buches in Rechnung ziehen.

Ich war in Paris gewesen, um einer Hypothese nachzugehen: Die massenhaften Kindsmorde durch diese barbarische Praxis, die Kinder - über tausend pro Jahr - nach Rouen, 120 km weiter zu transportieren, muss historisches Faktum gewesen sein. Es macht keinen Sinn, wenn das nicht so ist, wenn Süskind einen "Bastard der Kindsmörderin", die keine war, von einem Kindsmörder in Schreibtischtäter-Version - wie gesagt: Tausend pro Jahr, die über Taufscheine im Kloster St. Merri, 'gehimmelt' wurden - in Grund und Boden schreiben lässt: Die Sache mit der Geruchlosigkeit führt ja in dieser 'Mördergeschichte' eben zu dem Pater, der den Christus-Nachfolger in Grenouille verteufelt.

Wie gesagt: Das müsste historisches Faktum gewesen sein! Und es wäre bis heute damit zu rechnen, dass zum Beispiel das Kloster St. Merri sich gegen solche Behauptungen wehrte, dass die Kirche diese übelste Form einer Geburtenkontrolle per Kindsmord weit von sich weisen dürfte... Es ist nicht mehr belegbar, weil - nach dem Erscheinen des Romans - das Pariser Stadtarchiv gebrannt hatte und die Dokumente zu diesen Zeiträumen vernichtet worden sind. Ich wollte Süskind fragen - aber der pflegt halt seine Macke, sich nicht zu seinem Roman befragen zu lassen - ich bin bis dahin nicht vorgedrungen.

Es hilft nichts, hier irgendwelche Mittelwege im Bereich einer Interpretationsliberalität zu gehen: Entweder ist "Das Parfum" - als Frucht des Lügners und 'alten Ungeistes' der Erzählung - ein grottenschlechtes, zum Todschlag der Geruchlosen oder derer, die man nicht riechen kann aufrufendes Machwerk - oder es ist eben in allen Bereichen die fiktionale Wahrheit oder Wahrscheinlichkeit zu den Lügen zu rekonstruieren. Das tun sie in Ihrer Kritik eben auch nicht!

-- SchR 16:54, 25. Dez. 2011 (CET)Beantworten

Eine tiefe Wahrheit, die nichts mit der Frage zu tun hat, ob das Kloster St. Merri in organisierter Kindermord verwickelt war (also mit der Frage, ob der Roman „die Wirklichkeit Frankreichs im 18. Jahrhundert richtig widerspiegelt“, sprich: den Geboten „realistischen Schreibens“ folgt), ist die, dass Süskind den Mythos der Jungfräulichkeit aufgreift, wie er z.B. im Marienkult eine zentrale Rolle spielt. Die Vorstellung „ritueller Reinheit“, die schon zum Vestalinnenkult notwendig dazugehörte, ist der Schwachpunkt, an dem der „Verführer“ Grenouille die Masse auf dem Hinrichtungsplatz zu packen bekommt.
„Wahr“ an dieser Szene ist, dass viele Menschen glauben, Jungfräulichkeit sei etwas Besonderes. Wenn ich Ihre Vorstellung von Realismus aufgreife, dann muss ich an dieser Stelle sagen: Quatsch!!! Es gibt keinerlei Beweis dafür, dass junge Frauen nach der Defloration anders riechen als vorher, geschweige denn, dass man (hier Grenouille) den Unterschied bewusst wahrnehmen könnte bzw. dass die Masse unbewusst auf diese „konzentrierte Jungfräulichkeit“ reagieren könnte.
Entsprechende Gedankengänge sind weder wahr noch falsch, sondern einfach nur phantastisch, mithin einer Sphäre zugehörig, die mit der Frage: „Hat der Text eine Grundlage in der Realität? Spiegelt er diese richtig wider?“ nicht erfasst werden kann. Sie machen IMHO denselben Fehler wie die ersten Aufklärer, die es wagten, ihre Methoden auf die Bibel anzuwenden: Wenn die Welt nicht in sechs Tagen geschaffen wurde, dann muss ihnen zufolge angeblich die ganze Bibel eine Ansammlung von Lügen sein, weil ähnliche Aussagen in ihr in Massen zu finden sind. Die Bibel ist aber weitgehend ein orientalisches Märchenbuch, und Märchen werden nicht dadurch „unwahr“, dass es keine Feen gibt.
Süskind steht halt in der Tradition der Romantik. Romantiker lieben es, Leser durch Ironien aller Art zu verwirren, und lachten sich ins Fäustchen, wenn mal wieder einer von den Neunmalklugen mit ihren neckischen Spielchen nicht klar kam. --CorradoX 11:01, 26. Dez. 2011 (CET)Beantworten

Es hat tatsächlich wenig Sinn, auf dieser Basis weiterzudiskutieren. Meine Vorstellungen von Realismus spielen hier nur insofern eine Rolle, dass die basisfiktionale Realität, also das, was in einer Erfindung Süskinds, des Autoren, als 'tatsächlich' gelten soll, bei einem lügenden Ich-Erzähler jeweils überhaupt erst zu rekonstruieren sind. Ich habe solche Fragen ausführlich bis überausführlich behandelt: Wie Sie darauf kommen, dass ich behaupte, dass der Roman dieses lügenden Erzählers 'Realität' darstelle, ist mir schleierhaft: Man muss sie als Grundlage, die die Lügen entlarvt, rekonstruieren - und realistisch kann sie gar nicht sein, weil Süskind hier übertreiben muss. Eine Madame Gaillard versorgt 24 kleine Kinder und bringt davon fast alle durch: Für die Verhältnisse des 18. Jahrhunderts, die im Roman klipp und klar genannt werden - neun von zehn Waisenkindern sterben, Paris produziert pro Jahr 10.000 sogenannte Bastarde, wäre das nicht nur undenkbar, es ist völlig unrealistisch: Und trotzdem schafft es etwa Werner Frizen und Marlies Spancken, bei dieser Figur von einer schlechten Mutterfigur zu sprechen! Die Realität wird verzerrt, um Lügen deutlich zu machen.

Dass ich glauben würde, Jungfräulichkeit sei etwas Besonderes und dass Frauen nach der Defloration anders röchen: Es wäre tatsächlich gut, wenn Sie das Buch lesen würden... Es ist halt so: Ich habe mich mit diesem Buch literaturwissenschaftlich auseinandergesetzt. Dass es dabei zu gewissen Verbesserungen meines Lesens gegenüber dem Lesen anderer Leute gekommen ist, ist eben eine der Voraussetzungen in einer Literaturwissenschaft, einer Wissenschaft vom Verstehen der Texte. Der lügende Ich-Erzähler war mein Spezialgebiet bereits bei Grass! Süskind ist hier, ohne dass der es wahrscheinlich weiß, ein Nachfolger! Und die gleichen Verfahren, die Grass in einer Psychoanalyse seines Oskar Matzerath nahelegt, gibt es hier; die gleichen Kritiken an unmenschlichen Metaphern, an Ideologie-Strukturen... Das Hauptproblem ist eben tatsächlich, dass der Rekurs auf einen Autor, der hinter einem Lügner steht, dann besonders schwierig ist, wenn dieser Autor sich aller Wertungen enthält, sie dem Leser nur nahelegt. Ein Beispiel vielleicht: Grass wie Süskind problematisieren die auf Menschen angewandte Tiermetaphorik. Und dennoch gibt es, als ein Angebot, dass Süskind dem Leser nahelegt, eine ziemlich üble Tiermetapher zur Amme Jeanne Bussie: Sie riecht nach Wolle und Milch, bietet dem Pater, um ihn zu überzeugen, 'Säuisches' - wäre in diesem Fall halt nicht von mir - an, und hat gerade ein recht übles Ei mit dieser Geruchlosigkeitsstory als Teufelszeichen gelegt: Wenn schon Tiervergleich, dann eben mit einem Tier der hoffentlich nicht eintretenden Genzukunft aus 80er Jahre Sicht, eben mit der eierlegenden Wollmilchsau! Es gibt in diesem Buch jenseits der platten Diskussionen, die sich im Artikeln und in den von mir untersuchten Sekundärbüchern finden, eine komplett andere Kunst, die zu verstehen durchaus schwierig ist. Und es ist eben Aufgabe einer Wissenschaft vom Verstehen, solche Veränderungen mit zu erschließen. Wenn Sie es epochentypisch haben wollen: Grass wie Süskind sind einer Literatur, die sich dem Maßstab Auschwitz stellt, verpflichtet. Und da gibt es zum Beispiel die simple Frage, wie die Menschenmetaphern nach Auschwitz aussehen sollten. Es ist ja das Erstaunliche an diesem Roman, dass er - obwohl es zurück bis ins 18. Jahrhundert geht - sehr viel Gegenwart der 80er Jahre und der späteren Probleme im Spiegel erscheinen lässt. Das erschließt sich halt eben erst, wenn sehr genauer gelesen wird.