Kontrollmädchen ...

Vorgeschichte

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Im Mittelalter galt Prostitution als „unehrliches Gewerbe“, d.h. sie war zwar stigmatisiert, war aber als notwendig anerkannt. Mit der Ausbildung des bürgerlichen Staates im 19. Jahrhunderts wandelte sich die Auffassung, was ein Gewerbe darstellt. Damit war die Prostitution nicht mehr als Erwerbstätigkeit im offiziell rechtlichen Sinne denkbar (Gleß 11).

Nach dem Preußischen Strafgesetzbuch von 1851 (PStGB) § 146 Abs. 1 waren „Weibspersonen, welche den polizeilichen Anordnungen zuwider gewerbsmäßige Unzucht“ trieben, strafbar. Damit wurde erstmals eine gesetzlich ungeregelte Polizeiüberwachung des Prostitutionsgewerbes mit Hilfe eines Straftatbestandes festgeschrieben. Prostituierte, die gegen die Auflagen verstießen, drohte Gefängnis bis zu acht Wochen gefolgt von der Unterbringung in einem Arbeitshaus. Während das Gesetz Prostitutierten die Prostitution erlaubte, wenn sie die Polizeiordnungen befolgten, war das Betreiben von Bordellen nicht zugelassen. § 146 StGB war ein Straftatbestand, wurde aber allgemein als Vorschrift zur Gewerbereglementierung angesehen. Da das Gesetz die polizeilichen Anordnungen nicht definierte, waren Prostituierte einer gesetzlich nicht begrenzten Polizeigewalt unterstellt.[1]

Gesetzliche Regelungen

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1871 wurde die preußische Gesetzgebung von 1851 (PStGB) (§ 146 Abs. 1) in das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich als § 361 Nr. 6 RStGB übernommen. Frauen machten sich strafbar, wenn sie sich prostituierten, ohne dabei den polizeilichen Anordnungen zu folgen. Als Strafe war Haft sowie die Überweisung an die Landespolizeibehörde vorgesehen, die die Frauen dann im Rahmen einer korrektionellen Nachhaft bis zu zwei Jahre in einem Arbeitshaus einweisen oder zu gemeinnütziger Arbeit heranziehen konnte.[2]

Fünf Jahre später wurde der Paragraph novelliert. Mit der neuen Fassung von 1876 mussten Prostituierte, um sich nicht strafbar zu machen, nicht mehr nur den polizeilichen Anordnungen folgen, sie mussten sich zudem der polizeilichen Aufsicht unterstellen. Mit dieser Regelung wurde die formale Einschreibung der Prostituierten durch die Polizei in Inskriptionslisten eingeführt.[3] De facto und de jure waren Prostituierte damit von der „anständigen“ Gesellschaft getrennt. Durch die Unteraufsichtstellung wurden die inskribierten Prostitutierten stigmatisiert.[3] Für sie wurde allgemein der Begriff „Kontrollmädchen“ verwendet.[2] Alternativ wurde gesagt, sie ständen „unter Kontrolle“.

Mit diesen Strafgesetzen enthielt das Reichsstrafgesetzbuch zwei Tatbestände, die ausschließlich für Frauen galten: zum einen die Strafe bei Verstoß eines Kontrollmädchens gegen polizeiliche Auflagen, zum anderen die Strafe bei gewerbsmäßiger Unzucht.[4]

Praxis der Sittenpolizei

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Die polizeilichen Anordnungen für die Prostituierten waren durch § 361 Nr. 6 RStGB weder definiert noch begrenzt.[2] Die Ausgestaltung oblag den örtlichen Polizeibehörden. Die Praxis der Sittenpolizei unterschied sich in verschiedenen Teilen des Deutschen Reichs beträchtlich. Außerdem wandelte diese sich im Laufe der folgenden Jahrzehnte, ohne dass die zugrundeliegenden Gesetze geändert wurden. Dies betraf die Einschreibung von Prostitutierten, die von ihnen einzuhaltenden polizeilichen Vorgaben, den Umgang bei Verstößen wie auch die Verfahren, mit denen Prostitutierte aus der polizeilichen Unteraufsichtstellung entlassen wurden.

Die regional unterschiedlichen Vorgehensweisen der Sittenpolizei lassen sich in drei Gruppen einteilen:[5]

  • Klassisches System der Reglementierung: Vor allem im nord- und mitteldeutschen Raum wurden die Polizeivorschriften so gestaltet, dass möglichst alle Prostitutierte erfasst wurden. Hierzu gehörten Zwangseinschreibungen und zwangsärztliche Untersuchungen. In Berlin und Hamburg war die Reglementierung besonders spürbar und ist historisch am besten untersucht.[6]
  • Verzicht darauf, Polizeivorschriften zu erlassen: Wenn es keine Polizeivorschriften gab, die prostitutionswillige Frauen befolgen konnten, war jegliche Prostitution strafbar. So verfuhr die Stadt Duisburg und auch die Berliner Vororte Charlottenburg und Schöneberg. Letztere wechselten im Jahr 1900 auf das Reglementierungssystem.[7]
  • Unteraufsichtstellung nur weniger Prostituierte: Nur einem Teil der Prostituierten wurde ermöglicht, sich einzuschreiben. Die anderen wurden damit in die Illegalität gedrängt. Dieses vor allem in Süddeutschland praktizierte Vorgehen führte zu einem geschönten Bild in der amtlichen Statistik.

Wie der Polizeihistoriker Dirk Götting zusammenfasste ging es bei allen drei Varianten nicht darum, die Prostitution zu unterbinden, sondern im öffentlichen Raum unsichtbar zu machen.[5]

Die polizeilichen Anordnungen griffen tief in die Privatsphäre der sich prostituierenden Frauen ein. Sie verpflichteten zum Beispiel Prostitutierte zu ärztlichen Kontrolluntersuchungen. Eingeschriebene Prostituierte mussten für ihre Polizeiakte jeweils ein aktuelles Bild zur Verfügung stellen, ihre Wohnung auf Aufforderung der Polizei jederzeit öffnen sowie sicherstellen, dass die Polizei ihre Wohnung auch in ihrer Abwesenheit betreten konnte. Sie durften keine öffentlichen Tanzveranstaltungen besuchen, sich nicht auffällig benehmen und in gesperrten Bezirken nicht wohnen, selbst wenn ihnen Wohnungen im Sperrbezirk selbst gehören sollten. Auch mit ihrem Zuhälter durften sie die Wohnung nicht teilen. Die Straßenprostitution wurde auf bestimmte Straßenzüge beschränkt.[2]

Die herrschende Rechtsauffassung nach der Novellierung von 1876 war, dass die einzige Voraussetzung dafür, dass eine Frau unter polizeiliche Aufsicht gestellt werden konnte, die war, dass sie der gewerbsmäßigen Unzucht überführt worden war. Das bedeutete, dass eine Frau gegen ihren Willen als Prostitutierte eingeschrieben werden konnte und dass die Entscheidung allein bei der örtlichen Polizeibehörde, konkret der Sittenpolizei, lag. Gegen die Entscheidung der Polizeibehörde konnte eine Frau vor Gericht nur vor dem Oberverwaltungsgericht Klage erheben. Wenn eine „unter Kontrolle gestellte“ Frau den Wohnort wechselte, informierte die Polizeibehörde die Behörde des neuen Wohnortes über den Zuzug des „Kontrollmädchens“.[2]

Frauen, die unter Verdacht gerieten, Prostitutierte zu sein, wurden zum Polizeirevier mitgenommen und dort in einer Gemeinschaftszelle eingeschlossen, was als Sistierung bezeichnet wurde. In Preußen war dies selbst dann zulässig, wenn die Voraussetzungen für eine reguläre polizeiliche Festnahme nicht gegeben war. Am Tag nach der Festnahme mussten sich die verdächtigten Frauen in den Räumen der Sittenpolizei einer ärztlichen Untersuchung unterziehen. Wenn eine Frau sich der Untersuchung verweigerte, dann wurde ihre Freilassung solange hinausgezögert, bis sie schließlich der Untersuchung zustimmte. In Berlin wurden im Jahr 1886 14.438 Frauen einer Sistierung unterworfen.[8]

Für die Entlassung aus der polizeilichen Unteraufsichtsstellung gab es keine normierte Verfahren. Die örtlichen Polizeibehörden gingen unterschiedlich vor. Teils reichte der Nachweis einer sogenannten „ehrlichen“ Beschäftigung, teils eine Heirat. In den ersten Jahren entschieden die Behörden hier eher restriktiv, ab den 1890er Jahren sollen die Entscheidungen großzügiger gehandhabt worden sein.[2]

Ärztliche Untersuchungen

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Das Ziel der ärztlichen Untersuchungen sollte die Entdeckung von Geschlechtskrankheiten sein. Die ärztlichen Untersuchungen wurden in Berlin ab 1878 von sechs männlichen Ärzten durchgeführt, die dafür täglich jeweils zwei Stunden bezahlt wurden. Pro Stunde führten sie 20 bis 25 Untersuchungen durch, wobei sie von zwei „Bedienungsfrauen“ unterstützt wurden, die auch für die Reinigung der Instrumente zuständig waren. Allerdings galt die Entdeckungsrate bei diesen Untersuchungen als schlecht. 1886 sollen in Berlin über 96.000 Untersuchungen durchgeführt worden sein. Dabei wurden bei 1174 Frauen Geschlechtskrankheiten diagnostiziert.[8]

Kontrollmädchen in Belletristik und Sachbüchern

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Im 19. Jahrhundert wurden in der Literatur Prostituierte in der Regel als hübsche und junge Hure dargestellt, die für den Untergang des männlichen Protagonisten verantwortlich ist oder sich für ihn opfert oder ihm lebensweise und uneigennützig Ratschläge für das Leben gibt. Mit der tatsächlichen Lebenswirklichkeit der Prostituierten befasste sich die Literatur nicht. Um 1900 änderte sich die Darstellung. Als Mastererzählung etablierte sich nun die verführte Frau, die als Dirne endete. Bestimmend war nun die Sicht auf die Prostituierte als Opfer.[9]

Besonders bekannt wurde in dieser Hinsicht der Roman Der heilige Skarabäus von Else Jerusalem, der 1909 im Fischer Verlag erschien, sich im gleichen Jahr 20.000-fach verkaufte und medial einen Sturm auslöste. Jerusalem schilderte das Alltagsleben von Prostituierten, die Praxis der Reglementierung und den Mädchen- und Frauenhandel. Die Handlung zeigte anhand des Protagonisten Theodor Sucher, eines Polizeibeamten, und der Lebenswirklichkeit eines Wiener Bordells, dass die Geschäfte der Prostitution nur Profit brachten - wenn auch nicht den Prostitutierten selbst -, weil das Reglementierungssystem der Polizei die Freier wie auch die Zuhälter und Zuhälterinnen schützte.[10][9]

Ein weiteres Beispiel ist der Hans Ostwald

Literatur

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  • Sabine Gleß: Die Reglementierung von Prostitution in Deutschland (= Kriminologische und sanktionenrechtliche Forschungen. Band 10). Duncker & Humblot, Berlin 1999, ISBN 3-428-09466-2.
  • Dirk Götting: Das Aufbegehren der bürgerlichen Frauenbewegung gegen die Sittenpolizei des Kaiserreichs und der erste Versuch weiblicher Polizeiarbeit in Deutschland (1875 - 1914). Frauen im Polizeidienst zwischen "Rettungsarbeit" und "Sittenschnüffelei" (= Schriftenreihe der Deutschen Gesellschaft für Polizeigeschichte e.V. Band 10). Frankfurt am Main 2010, ISBN 978-3-86676-105-6.
  • Andreas Roth: Kriminalitätsbekämpfung in deutschen Großstädten 1850-1914. Ein Beitrag zur Geschichte des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens (= Quellen und Forschungen zur Strafrechtsgeschichte. Band 7). E. Schmidt, Berlin 1997, ISBN 3-503-03760-8.
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Einzelnachweise

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  1. Sabine Gleß: Die Reglementierung von Prostitution in Deutschland (= Kriminologische und sanktionenrechtliche Forschungen. Band 10). Duncker & Humblot, Berlin 1999, ISBN 3-428-09466-2, S. 47–51.
  2. a b c d e f Sabine Gleß: Die Reglementierung von Prostitution in Deutschland (= Kriminologische und sanktionenrechtliche Forschungen. Band 10). Duncker & Humblot, Berlin 1999, ISBN 3-428-09466-2, S. 53–55.
  3. a b Sabine Gleß: Die Reglementierung von Prostitution in Deutschland (= Kriminologische und sanktionenrechtliche Forschungen. Band 10). Duncker & Humblot, Berlin 1999, ISBN 3-428-09466-2, S. 58–63.
  4. Dirk Götting: Das Aufbegehren der bürgerlichen Frauenbewegung gegen die Sittenpolizei des Kaiserreichs und der erste Versuch weiblicher Polizeiarbeit in Deutschland (1875 - 1914). Frauen im Polizeidienst zwischen "Rettungsarbeit" und "Sittenschnüffelei" (= Schriftenreihe der Deutschen Gesellschaft für Polizeigeschichte e.V. Band 10). Frankfurt am Main 2010, ISBN 978-3-86676-105-6, S. 67.
  5. a b Dirk Götting: Das Aufbegehren der bürgerlichen Frauenbewegung gegen die Sittenpolizei des Kaiserreichs und der erste Versuch weiblicher Polizeiarbeit in Deutschland (1875 - 1914). Frauen im Polizeidienst zwischen "Rettungsarbeit" und "Sittenschnüffelei" (= Schriftenreihe der Deutschen Gesellschaft für Polizeigeschichte e.V. Band 10). Frankfurt am Main 2010, ISBN 978-3-86676-105-6, S. 69–70.
  6. Andreas Roth: Kriminalitätsbekämpfung in deutschen Großstädten 1850-1914. Ein Beitrag zur Geschichte des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens (= Quellen und Forschungen zur Strafrechtsgeschichte. Band 7). E. Schmidt, Berlin 1997, ISBN 3-503-03760-8, S. 355–366.
  7. Andreas Roth: Kriminalitätsbekämpfung in deutschen Großstädten 1850-1914. Ein Beitrag zur Geschichte des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens (= Quellen und Forschungen zur Strafrechtsgeschichte. Band 7). E. Schmidt, Berlin 1997, ISBN 3-503-03760-8, S. 350, 366–371.
  8. a b Dirk Götting: Das Aufbegehren der bürgerlichen Frauenbewegung gegen die Sittenpolizei des Kaiserreichs und der erste Versuch weiblicher Polizeiarbeit in Deutschland (1875 - 1914). Frauen im Polizeidienst zwischen "Rettungsarbeit" und "Sittenschnüffelei" (= Schriftenreihe der Deutschen Gesellschaft für Polizeigeschichte e.V. Band 10). Frankfurt am Main 2010, ISBN 978-3-86676-105-6, S. 74–76.
  9. a b Kerstin Wolff: Anna Pappritz 1861-1939. Die Rittergutstochter und die Prostitution. Helmer, Sulzbach/Taunus 2017, ISBN 978-3-89741-399-3, S. 126–128.
  10. Kerstin Wolff: Anna Pappritz 1861-1939. Die Rittergutstochter und die Prostitution. Helmer, Sulzbach/Taunus 2017, ISBN 978-3-89741-399-3, S. 56.