Betzinger Tracht
Die Betzinger Tracht ist eine in Betzingen, heute ein Stadtteil von Reutlingen, getragene Tracht. Durch ihre Bekanntheit wird sie über Betzingen hinaus mit Schwaben assoziiert.[1]
Bestandteile der Frauentracht
BearbeitenFrauen tragen einen Rock, eine Schürze, eine Bluse mit Puffärmeln, ein Mieder, ein Goller und eine Kopfbedeckung.[2] Tendenziell werden die Farbtöne der Tracht dunkler, je älter die Trägerin ist.[1]
Rock
BearbeitenUnverheiratete Frauen (und Mädchen) tragen den sogenannten Schnurrock: einen blauen Faltenrock, mit goldener Borte am Saum.[1]
Schürze
BearbeitenDie Schürze ist in elf Falten gebügelt, mit Bändern oder Spitze verziert und wird mit Bändern gebunden. Sie ist weiß, schwarz – je nach Familienstand oder Anlass[2] – im Alltag auch farbig oder gemustert.[1] Über die Schürze hinab hängen rote oder grüne Seidenbänder, die Schurzbändel.[1]
Mieder
BearbeitenAn den Rock ist ein rotes Schnürmieder befestigt. Es hat eine silberne Borte und ist mit grünen Seidenbändern eingefasst.[1] Geschlossen wird das Mieder mit einer farblich zum Anlass passenden Schnürung, die Breisnestel genannt wird.[1]
Goller und Brustblätz
BearbeitenDas Goller aus dunkelrotem[1], schwarzem[3] oder grün-schwarzem[4] seidenem, besticktem Gewebe[3] liegt über dem Dekolleté, den Schultern und dem Rücken.[1] Gefüttert ist es mit Leinen und wird über dem Mieder getragen.[3]
Weitere Teile der Brust werden mit dem Brustblätz, einem verzierten Stück Samt, gehalten von Breisnestel und Goller, verdeckt.[1] Durch die Variationen an Farben, Stoffen und Stickerei ist es das individuellste Stück der Frauentracht.[5] Werktags wurden andere Farben getragen als bspw. zur Konfirmation oder dem Abendmahl.[5]
Kopfbedeckungen
BearbeitenHeute wird entweder das lila Deckelkäppchen,[1] oder zur Hochzeit ein Brautkrone, genannt Schappel[1] oder Kränzchen getragen; die Florhaube hingegen nicht mehr.[2] Vom Deckelkäppchen seitlich abgehende schwarze Seidenbänder wurden in die Haare der Trägerin geflochten.[1]
Verzierungen und Schmuck
BearbeitenDie Tracht ist mit Moirébändern, die Picot-Zacken haben, verziert.[2] Als Schmuck tragen Frauen den Nuster, oder eine „vergoldete Münze mit eingearbeiteten Ösen, an welchen Schmucksteine befestigt werden können“[1], genannt Geldle.
Nuster
BearbeitenDer Nuster besteht aus 16 Ketten aus dunkelroten Glas-[6] oder Granatperlen,[1] „die in sechzehn größer werdenden Bögen auf der Brust aufliegen.“[6] Die Kettenende sind an einem Stück Samt befestigt, dass sich mit Haken und Öse öffnen bzw. verschließen lässt. Der Nuster wird seit Anfang des 20. Jahrhunderts getragen.[6]
Bestandteile der Männertracht
BearbeitenMänner tragen eine Hose, ein Hemd, eine Weste, eine Kappe und optional einen Kittel.[2]
Hose
BearbeitenIm 19. Jahrhundert verdrängte die heute übliche weiße Leinenhose die Hirschlederhose.[1] Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts wurde teilweise eine Hose aus Cord[2] getragen. Die Leinenhose[1] „wurde nach dem Vorbild französischer Soldatenhosen gefertigt.“[2] Sie wird von bestickten Hosenträgern gehalten. Männer auf Brautschau lassen ein rotes Taschentuch aus der Hosentasche hängen.[2]
Hemd
BearbeitenDas weiße Baumwoll-[2] oder Leinenhemd[1] mit „langen, voluminösen Ärmeln, die sich am Handgelenk eng verjüngen“[1] besitzt einen Stehkragen.[1] Es wird mit einer silbernen Hemdnadel (Fibel) geschlossen. Ein kleiner Anhänger bringt den Beruf des Trägers zum Ausdruck. „Ein kleiner Pflugscharanhänger verwies beispielsweise auf einen Ochsenbauer.“[1] Zum Hemd wird ein schwarzes Halstuch getragen.[2]
Weste
BearbeitenUnverheiratete Männer (und Jungen) tragen eine rote Stoffweste, verheiratete eine schwarze Samtweste – beide jeweils mit 12 silbernen Knöpfen.[2]
Kappe
BearbeitenAls Kopfbedeckung dient die kreisrunde Schmerkappe aus schwarzem Leder, die mit einem Gummiband am Kopf gehalten wird.[2][1]
Kittel
BearbeitenOptional tragen Männer einen knielangen, kragenlosen weißen Leinenkittel mit 12 Messingknöpfen.[1] Für den Winter gibt es einen gefütterten Dicken Kittel mit 16 Knöpfen.[1]
Variationen
BearbeitenFür die Kirchentracht wird eine Lederhose, ein blaues Obergewand, ein rotes oder schwarzes Brusttuch und ein Dreispitz getragen.[1]
Geschichte, Bewertung und Rezeption
BearbeitenDie Mitglieder der 1837 gegründete Betzinger Sängerschaft, einem Männergesangsverein, zogen zu ihren Auftritten „ihre Sonntags- oder Festtagskleidung an und das war das, was man heute als >Betzinger Tracht< bezeichnet“.[7] Seit 1841 wurden Betzinger eingeladen auf Trachtenumzügen ihre Tracht zu präsentieren.[1] 1876 konnten sie für die Teilnahme an Umzügen einen Verdienstausfall einfordern. 1877 holte Wilhelm II. von Württemberg (1848–1921) für sein erstes Kind eine Amme aus Betzingen an den Hof; später auch ihr Kind und ihre Schwestern. Sie gehörten zum königlichen Personal und mussten stets Tracht tragen.[1] „Seither steht die bunte Betzinger Tracht stellvertretend als Tracht der Schwaben.“[2] Oder wie Carmen Anton für das landeskundliche Online-Informationssystem für Baden-Württemberg, schreibt „Was die Gutacher Tracht für den Schwarzwald ist, ist die Barocktracht des seit 1907 Reutlingen zugehörigen Betzingen für Schwaben. Sie wird stellvertretend mit der Region assoziiert und zeichnet sich durch ihre auffällig farbenfrohe Gestaltung aus.“[1]
Auch wenn sich Betzingen gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu einer Arbeitersiedlung wandelte, und die Tracht weniger im Alltag getragen wurde, wurde gerne die traditionelle Dorftracht zur Schau gestellt. Die Betzinger konnten mit der Zurschaustellung eines Bauernidylls Geld verdienen.[1] „Mit der Anbindung an das Schienennetz etablierte sich neben einem regelrechten Trachten-Tourismus auch eine Betzinger Malschule, die sich ganz dem Portrait der bunten Gewänder und eines idealisierten bäuerlichen Idylls widmete.“[1]
Die Tracht in der Kunst des 19. Jahrhunderts
Bearbeiten-
Franz Seraph Stirnbrand Betzinger Tracht in einem Historiengemälde von 1841
-
Heinrich von Rustige: Wirtshausszene von 1849
-
Caspar Kaltenmoser (1851): Württembergerin am Spinnrad
-
Robert Heck (1854): der Bauer Martin Kurtz
-
Jakob Grünenwald (~1861): Trachtenpaar
-
Heinrich Winter (1962): Ländliches Paar
-
Theodor Pixis (1864): Gruppe in Tracht
-
Caspar Kaltenmoser (1865): Wirtshausszene
-
Robert Heck (1867): in einer Kirche
-
Paul Sinner (~1900): Trachtenpaar
Im 19. Jahrhundert war die Betzinger Tracht ein beliebtes Motiv für Maler und Fotografen.[1]
- Franz Seraph Stirnbrand integrierte 1841 eine Frau und ein Mädchen in Betzinger Tracht in ein Historiengemälde.
- Heinrich von Rustige malte 1849 eine Wirtshausszene mit Trägern der Betzinger Tracht
- Caspar Kaltenmoser malte 1851 und 1865 Betzingerinnen und Betzinger in Tracht.
- Robert Heck malte 1854 einen Betzinger Mann in Tracht,[8] und 1867 eine Gruppe von Trachtenträgerinnen.
- Jakob Grünenwald malte um 1861 ein Trachtenpaar und 1867 zwei Betzingerinnen in Tracht.
- Heinrich Winter malte 1862 ein Paar in Betzinger Tracht.
- Theodor Pixis zeichnete 1864 Betzingerinnen und Betzinger in Tracht für Die Gartenlaube.
- Der in Tübingen ansässige Fotograf Paul Sinner (1838–1925) fotografierte oft Betzinger in Tracht.
Die Tracht nach 1900
BearbeitenAls 1909 Frauen im Gesangsverein zugelassen wurden, trugen diese, nicht nur im Alltag, sondern auch bei Auftritten Tracht.[7] In der Zeit des Dritten Reiches wurden die Betzinger Vereine gleichgeschaltet. Lieder-, Trachten- und Tanzgruppe wurden von den Nationalsozialisten vereinnahmt, bspw. beim Weltkongress fur Freizeit und Erholung 1936 in Hamburg.[9]
Ein undatierte Schwarzweißfilm zeigt Frauen in Tracht beim Gang zur Kirche.[10] Farbfilmaufnahmen aus den Jahren 1965, 1972 und 1974 zeigen Hochzeitsgesellschaften in Tracht.[11][12][13] Eine Frau in Tracht war auf den Plakaten für die Landesgartenschau 1984 in Reutlingen abgebildet. Heute wird die Tracht beispielsweise auf den Heimattagen 2009 in Reutlingen,[7] 2014 auf dem Trachten- und Schützenzug des Münchner Oktoberfests,[14] 2018 auf dem Volksfestumzug des Cannstatter Wasens[15] oder dem Uracher Schäferlauf präsentiert.[16]
Weblinks
BearbeitenEinzelnachweise
Bearbeiten- ↑ a b c d e f g h i j k l m n o p q r s t u v w x y z aa ab ac ad ae Carmen Anton: Die Betzinger Tracht. LEO-BW, 8. August 2020, abgerufen am 19. März 2022.
- ↑ a b c d e f g h i j k l m Die Betzinger Tracht. Schwäbischer Albverein Ortsgruppe Betzingen, abgerufen am 19. März 2022.
- ↑ a b c Tracht. Betzingen. Goller. leo-bw.de, abgerufen am 2. April 2022.
- ↑ Tracht. Betzingen. Goller. leo-bw.de, abgerufen am 2. April 2022.
- ↑ a b Tracht. Betzingen. Brustblätz. Konfirmandenbrustblätz. leo-bw.de, abgerufen am 2. April 2022.
- ↑ a b c Tracht. Betzingen. Nuster. leo-bw.de, abgerufen am 2. April 2022.
- ↑ a b c Ingrid Helber: Die Betzinger Tracht. Anmut, Stolz und Selbstbewusstsein. Schwäbischer Albverein Ortsgruppe Betzingen, Betzingen 2015, ISBN 978-3-939775-53-9, Kapitel: Lebende Tradtition.
- ↑ Aquarell. Betzinger. Martin Kurtz. leo-bw.de, abgerufen am 2. April 2022.
- ↑ Ingrid Helber: Die Betzinger Tracht. Anmut, Stolz und Selbstbewusstsein. Schwäbischer Albverein Ortsgruppe Betzingen, Betzingen 2015, ISBN 978-3-939775-53-9, Kapitel: Eingemeindung 1907.
- ↑ Betzinger Tracht. leo-bw.de, abgerufen am 2. April 2022.
- ↑ Hochzeit in Betzinger Tracht 1965. leo-bw.de, 1965, abgerufen am 26. März 2022.
- ↑ Hochzeit in Betzinger Tracht. leo-bw.de, abgerufen am 2. April 2022.
- ↑ Hochzeit in Betzinger Tracht im Reutlinger Rathaus 1974. leo-bw.de, 1974, abgerufen am 26. März 2022.
- ↑ Bayerischer Rundfunk: Oktoberfest Trachten- und Schützenzug 2014 / Wiesn. YouTube, 22. September 2014, abgerufen am 8. April 2022.
- ↑ Der Cannstatter Volksfestumzug 2018. Cannstatter Volksfestverein, abgerufen am 26. März 2022.
- ↑ Lichtstube. Schwäbischer Albverein Ortsgruppe Betzingen, abgerufen am 26. März 2022.