Brigitte Bierlein
Brigitte Theresia Bierlein[1] (* 25. Juni 1949 in Wien; † 3. Juni 2024 ebenda) war eine österreichische Juristin, Verfassungsrichterin und parteilose Politikerin. Sie war vom 3. Juni 2019 bis zum 7. Jänner 2020 als erste Frau Bundeskanzlerin der Republik Österreich.
Von 1990 bis 2003 war Bierlein Generalanwältin der Generalprokuratur beim Obersten Gerichtshof, von 2003 bis 2018 Vizepräsidentin und von 2018 bis 2019 Präsidentin des Verfassungsgerichtshofs der Republik Österreich.
Nach der Veröffentlichung der Ibiza-Affäre um den damaligen Vizekanzler Strache (FPÖ) und der Abwahl der Bundesregierung Kurz I per Misstrauensvotum im Nationalrat beauftragte Bundespräsident Alexander Van der Bellen Bierlein, bis zur Nationalratswahl 2019 und der Angelobung einer neuen Regierung eine Übergangsregierung mit parteilosen Experten zu bilden. Die Bundesregierung Bierlein amtierte bis zum 7. Jänner 2020.
Leben
BearbeitenNach der Pflichtschule besuchte Brigitte Bierlein das Bundesgymnasium Wien III in der Kundmanngasse, an dem sie 1967 die Matura ablegte.[2][3] Anschließend nahm sie das Studium der Rechtswissenschaften an der Universität Wien auf und absolvierte dieses in Mindestzeit. 1971 wurde sie zum Doktor der Rechtswissenschaften promoviert. Nach dem richterlichen Vorbereitungsdienst und der Richteramtsprüfung im Jahr 1975 war Bierlein als Richterin zunächst am Bezirksgericht Innere Stadt in Wien und dann am damaligen Strafbezirksgericht Wien tätig. 1977 wurde sie in Wien Staatsanwältin für allgemeine und politische Strafsachen. Im Jahr 1986 wechselte Bierlein zur Oberstaatsanwaltschaft Wien.
Ab 1987 war sie in der Strafrechtssektion des Bundesministeriums für Justiz tätig und kehrte anschließend wieder als Oberstaatsanwältin zur Oberstaatsanwaltschaft Wien zurück. 1990 wurde sie die erste Frau im Amt des Generalanwalts in der Generalprokuratur beim Obersten Gerichtshof und war dort auch stellvertretende Leiterin der Generalprokuratur. Bierlein engagierte sich auch außerhalb ihrer beruflichen Tätigkeit in juristischen Organisationen und wurde 1995 Mitglied des Vorstands der Vereinigung österreichischer Staatsanwälte. Von 2001 bis 2003 war sie deren Präsidentin. Von 2001 bis 2003 war sie außerdem Vorstandsmitglied der International Association of Prosecutors (IAP).
Bierlein war Mitglied der Jury der Margaretha Lupac-Stiftung für Parlamentarismus und Demokratie zur Vergabe des Demokratiepreises und des Wissenschaftspreises, womit Arbeiten ausgezeichnet werden, welche die Funktionsweise und die Grundwerte der österreichischen Republik fördern und darüber hinaus auch Forschungsarbeiten unterstützt werden, die sich mit der Geschichte und Entwicklung des österreichischen Parlamentarismus auseinandersetzen.[4]
Im April 2019 wurde Brigitte Bierlein zur Leiterin der Sonderkommission zur Klärung der Vorwürfe gegen die Ballettschule Wiener Staatsoper berufen, in der sie auch den Sachbereich Recht bzw. Opferschutz verantwortete.[5][6] In dieser Funktion folgte ihr im Juni 2019 Susanne Reindl-Krauskopf nach.[7] Nach ihrer Zeit als Bundeskanzlerin zog sie sich ins Privatleben zurück.
Bierleins langjähriger Lebensgefährte war der Richter Ernest Maurer (1944–2021).[8][9][10] Bierlein starb am 3. Juni 2024 nach kurzer schwerer Krankheit im Alter von 74 Jahren in Wien.[11] Am 14. Juni 2024 wurde sie im Rahmen eines staatlichen Begräbnisses in einem Ehrengrab auf dem Wiener Zentralfriedhof beigesetzt.[12] Das feierliche Requiem im Wiener Stephansdom leitete der Wiener Erzbischof Kardinal Christoph Schönborn. Es sprachen Bundespräsident Alexander Van der Bellen, Bundeskanzler Karl Nehammer und der Präsident des Verfassungsgerichtshofes, Christoph Grabenwarter.[13][14]
Verfassungsgerichtshof
BearbeitenIm Jahr 2002 wurde Bierlein von der österreichischen Bundesregierung als Mitglied des Verfassungsgerichtshofes und zugleich – als erste Frau – als dessen Vizepräsidentin vorgeschlagen.[15][16] Am 28. November 2002 wurde sie von Bundespräsident Thomas Klestil mit Wirksamkeit vom 1. Jänner 2003 zur Vizepräsidentin ernannt.
Nach dem altersbedingten Ausscheiden von Gerhart Holzinger als VfGH-Präsident am 31. Dezember 2017 leitete Bierlein als Vizepräsidentin zunächst interimistisch den Verfassungsgerichtshof gemäß § 3 Abs. 4 iVm Abs. 2 VfGG.[17] Am 23. Februar 2018 wurde sie auf Vorschlag der Bundesregierung Kurz I[18] von Bundespräsident Alexander Van der Bellen als erste Frau zur Präsidentin des Verfassungsgerichtshofs ernannt.[19]
Gemäß Art. 147 Abs. 4 u. 5 B-VG dürfen Mitglieder des Verfassungsgerichtshofs nicht gleichzeitig auch der Bundesregierung angehören (Grundsatz der Inkompatibilität). Vor der Angelobung als Bundeskanzlerin legte Brigitte Bierlein daher das Amt als Präsidentin des Verfassungsgerichtshofes mit 2. Juni 2019 zurück,[20] einige Monate vor dem altersbedingt vorgesehenen Ende ihrer Amtszeit am 31. Dezember 2019.[21]
Bundeskanzlerin
BearbeitenAm 30. Mai 2019 wurde Bierlein als erste Frau in der Geschichte der Republik Österreich für das Amt des Bundeskanzlers designiert.[22] Bundespräsident Alexander Van der Bellen beauftragte sie mit der Bildung einer Übergangsregierung bis zur Regierungsbildung nach der für Herbst 2019 angesetzten Neuwahl des Nationalrats, nachdem der Nationalrat in Folge der Ibiza-Affäre der Bundesregierung Kurz I das Misstrauen ausgesprochen hatte.[23] Am 3. Juni 2019 wurde sie in der Nachfolge der für wenige Tage provisorisch eingesetzten einstweiligen Bundesregierung Löger vom Bundespräsidenten als Bundeskanzlerin, und es wurden, wie es die Bundesverfassung vorsieht, unmittelbar danach auf ihren Vorschlag hin die anderen Mitglieder der Bundesregierung Bierlein angelobt.[24]
Ihr Kabinett bestand aus sechs weiblichen und sechs männlichen Bundesministern.[25] Die Übergangsregierung sollte bis zur Angelobung einer neuen Regierung nach der vorgezogenen Nationalratswahl im Herbst 2019 die Amtsgeschäfte der Bundesministerien weiterführen. Am 7. Jänner 2020 endete nach mehr als einem halben Jahr die Amtszeit der Übergangsregierung unter Bierlein mit der Angelobung der Bundesregierung Kurz II unter dem abermaligen Bundeskanzler Sebastian Kurz.
Bierlein war parteilos. Ihre politische Ausrichtung wurde in den Wiener Tageszeitungen Die Presse als „rechts der Mitte“,[26] im Standard als bürgerlich oder rechtskonservativ beschrieben.[27]
Ehrungen und Auszeichnungen (Auswahl)
Bearbeiten- 2005: Großes Silbernes Ehrenzeichen am Bande für Verdienste um die Republik Österreich[28]
- 2020: Großkreuz des Verdienstordens der Italienischen Republik
- 2021: Großes Goldenes Ehrenzeichen am Bande für Verdienste um die Republik Österreich[29]
- 2022: Großes Verdienstkreuz mit Stern und Schulterband der Bundesrepublik Deutschland
Literatur
Bearbeiten- Benedikt Kommenda, Philipp Aichinger: Bierlein: Stets die Erste – jetzt auch im Verfassungsgerichtshof. In: Die Presse. 21. Februar 2018.[30]
- Paradejuristin wird erste VfGH-Präsidentin. In: derStandard.at. 21. Februar 2018, abgerufen am 6. Juni 2024.
Weblinks
Bearbeiten- Brigitte Bierlein auf den Webseiten des österreichischen Parlaments
- Bundeskanzlerin Brigitte Bierlein ( vom 5. Juni 2019 im Internet Archive) auf der Website des Bundeskanzleramtes (Hrsg.)
- Antrittsrede von Bundeskanzlerin Brigitte Bierlein. ( vom 3. Juli 2019 im Internet Archive) In: Abschnitt Reden im Personenauftritt der Bundeskanzlerin, Bundeskanzleramt (Hrsg.)
- Biographie von Brigitte Bierlein ( vom 30. Mai 2019 im Internet Archive) auf der Website des Verfassungsgerichtshofs
- Brigitte Bierlein auf meineabgeordneten.at
- Brigitte Bierlein im Munzinger-Archiv (Artikelanfang frei abrufbar)
Einzelnachweise
Bearbeiten- ↑ Brigitte Bierlein in der Verstorbenensuche bei friedhoefewien.at
- ↑ Karel Schwarzenberg: Der schlechte Schüler besucht seine Schule. In: Kurier.at. 15. Januar 2019, abgerufen am 3. Juni 2019.
- ↑ Brigitte Bierlein named Austria’s first female chancellor. In: PM News Nigeria. 3. Juni 2019, abgerufen am 3. Juni 2019 (englisch).
- ↑ Die Margaretha Lupac-Stiftung auf parlament.gv.at, abgerufen am 3. Juni 2024.
- ↑ Ballettakademie: VfGH-Präsidentin Bierlein in Sonderkommission. In: Kurier.at. 13. April 2019, abgerufen am 14. April 2019.
- ↑ Ballettakademie – Bierlein führt statt Kircher Sonderkommission. In: Tiroler Tageszeitung. 18. April 2019, abgerufen am 7. Mai 2019.
- ↑ Ballettakademie: Reindl-Krauskopf statt Bierlein in Sonderkommission. In: Tiroler Tageszeitung. 5. Juni 2019, abgerufen am 7. Juni 2019.
- ↑ Lebensgefährte von Brigitte Bierlein verstorben. In: Kurier.at. 25. März 2021, abgerufen am 14. Juni 2024.
- ↑ Kurt Krickler: Zum Tod von Franz Matscher und Ernest Maurer. In: Homopoliticus. 28. März 2021, abgerufen am 14. Juni 2024.
- ↑ Ernest Maurer in der Verstorbenensuche bei friedhoefewien.at
- ↑ Brigitte Bierlein ist tot. In: ORF.at. 3. Juni 2024, abgerufen am 3. Juni 2024 (österreichisches Deutsch).
- ↑ Brigitte Bierlein in der Verstorbenensuche bei friedhoefewien.at
- ↑ ORF at/Agenturen red: „Treue Dienerin der Republik“: Bewegender Abschied von Brigitte Bierlein. In: religion.ORF.at. 14. Juni 2024, abgerufen am 14. Juni 2024.
- ↑ religion ORF at/KAP red: Österreich: Abschied von Brigitte Bierlein. In: religion.ORF.at. 13. Juni 2024, abgerufen am 14. Juni 2024.
- ↑ Kurt Heller: Der Verfassungsgerichtshof. Die Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit in Österreich von den Anfängen bis zur Gegenwart. Verlag Österreich, Wien 2010, S. 492 ff., 626.
- ↑ Philipp Aichinger: Höchstrichterin: Nein zu Frauenquoten. In: DiePresse.com. 27. Dezember 2009, abgerufen am 30. Mai 2019.
- ↑ Vizepräsidentin Brigitte Bierlein übernimmt interimistisch Leitung des Verfassungsgerichtshofes. In: vfgh.gv.at. 1. Januar 2018, abgerufen am 1. Januar 2018.
- ↑ Bierlein wird VfGH-Präsidentin, Brandstetter rückt nach. In: DiePresse.com. 21. Februar 2018, abgerufen am 21. Februar 2018.
- ↑ Neues VfGH-Präsidium von Van der Bellen angelobt. In: DiePresse.com. 23. Februar 2018, abgerufen am 25. Februar 2018.
- ↑ Benedikt Kommenda: Grabenwarter übernimmt interimistisch den VfGH. In: DiePresse.com. 30. Mai 2019, abgerufen am 3. Juni 2019.
- ↑ Benedikt Kommenda: VfGH: Mehrheit von 8:5 für Türkis-Blau. In: DiePresse.com. 14. März 2018, abgerufen am 14. Oktober 2021.
- ↑ Video: Bierleins Botschaft zum Abschied. In: ORF.at. 6. Januar 2020, abgerufen am 14. November 2020 (österreichisches Deutsch).
- ↑ Katharina Mittelstaedt, Karin Riss: Kabinett abgesetzt: Österreich sucht den neuen Kanzler. In: derStandard.at. 27. Mai 2019, abgerufen am 1. Juni 2019.
- ↑ Hellin Jankowski: „Mach’ ma schon“: Eine „typisch österreichische“ Angelobung. In: DiePresse.com. 3. Juni 2019, archiviert vom (nicht mehr online verfügbar) am 7. Juni 2019; abgerufen am 3. Juni 2019.
- ↑ „Niemand kann mehr sagen, es geht nicht“: Österreich hat erste Bundeskanzlerin. In: Kleine Zeitung. 3. Juni 2019, abgerufen am 5. Juni 2019.
- ↑ VfGH-Präsidentin Brigitte Bierlein wird Kanzlerin. In: DiePresse.com. 30. Mai 2019, abgerufen am 12. Juni 2019.
- ↑ Brigitte Bierlein: Die Erste Österreichs. In: derStandard.at. 1. Juni 2019, abgerufen am 12. Juni 2019.
- ↑ Aufstellung aller durch den Bundespräsidenten verliehenen Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich ab 1952 (PDF; 6,59 MB).
- ↑ Ex-Kanzlerin Bierlein erhielt höchsten Orden der Republik. In: ORF.at. 16. Juni 2021, abgerufen am 6. Juni 2024.
- ↑ Benedikt Kommenda, Philipp Aichinger: Bierlein: Stets die Erste – jetzt auch im Verfassungsgerichtshof. In: DiePresse.com. 21. Februar 2018, abgerufen am 3. Juni 2019 (Artikelanfang frei abrufbar).
Personendaten | |
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NAME | Bierlein, Brigitte |
KURZBESCHREIBUNG | österreichische Juristin, Präsidentin des Verfassungsgerichtshofs und Bundeskanzlerin |
GEBURTSDATUM | 25. Juni 1949 |
GEBURTSORT | Wien |
STERBEDATUM | 3. Juni 2024 |
STERBEORT | Wien |